Held, Verräter, Tochter

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Aus der Reihe: Für Ruhm und Krone #6
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Er ging zurück zu der Stelle, wo der ehemalige Matrose noch immer lag. Sein Kopf hing über der Kante des Schiffs. Er dachte wahrscheinlich, dass er nicht weiter gehen würde. Irrien hatte bemerkt, dass sie immer hofften, dass die Dinge nicht noch schlimmer wurden, anstatt die Gefahr zu erkennen und sie zu bannen.

„Du hättest im Kampf sterben können“, sagte er mit noch immer gehobenem Schwert. „Du hättest als Mann sterben können und nicht als erbärmliches Opfer.“

Der Mann drehte sich um und starrte ihn an „Ihr habt gesagt… ihr habt gesagt, dass Ihr nicht daran glauben würdet.“

Irrien zuckte die Schultern. „Priester sind Dummköpfe, aber die Menschen glauben an ihren Unsinn. Wenn es sie dazu bringt, stärker zu kämpfen, warum sollte ich etwas dagegen haben?“

Er fixierte den Sklaven mit einem Stiefel und stellte sicher, dass ihn auch alle sehen konnten. Er wollte, dass jeder den Beginn seines Eroberungszuges sehen konnte.

„Ich weihe dich dem Tod“, rief er. „Dich und alle, die sich gegen uns stellen!“

Sein Schwert schoss durch die Luft und bohrte sich in die Brust und durch das Herz des erbärmlichen Mannes. Irrien wartete nicht. Er hob es erneut, und dieses Mal nutzte er die Henkersklinge für ihren eigentlichen Zweck. Es trennte den Hals des versklavten Matrosen sauber ab. Das tat er nicht aus Gnade sondern aus Stolz, denn der Erste Stein würde keine Waffe dulden, die nicht perfekt geschliffen war.

Er hob die noch blutige Klinge empor.

„Los!“

Hörner ertönten und der Himmel füllte sich mit Feuer als die Katapulte ihre Ladung abfeuerten und Schützen Pfeile in Richtung ihrer Feinde schossen. Kleine Schiffe machten sich auf den Weg.

Für einen Augenblick musste Irrien an diesen „Akila“ denken, den Mann, der dort stand und auf das Bevorstehende wartete. Er fragte sich, ob sein baldiger Feind gerade Angst hatte.

Das sollte er.

KAPITEL DREI

Thanos kniete über dem Körper seines Bruders, und für einen Moment oder zwei hatte er das Gefühl, dass die Welt stillstand. Er wusste nicht, was er in diesem Augenblick denken oder fühlen sollte. Er wusste nicht, was er als nächstes tun sollte.

Er hatte erwartet, dass sich mit Lucious’ Tod ein Gefühl des Triumphs einstellen würde oder wenigstens Erleichterung, dass es nun endlich vorbei war. Er hatte erwartet, dass er nun endlich das Gefühl haben würde, dass die Menschen die ihm wichtig waren, in Sicherheit waren.

Doch stattdessen wallte Kummer in Thanos auf und er vergoss Tränen für einen Bruder, der sie wahrscheinlich niemals verdient hatte. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Das was zählte war, dass Lucious sein Halbbruder gewesen war und dass er es nun nicht mehr war.

Er war tot und Thanos’ Dolch steckte in seinem Herzen. Thanos konnte Lucious’ Blut an seinen Händen spüren. Es schien so viel davon in einem einzigen Körper zu fließen. Ein Teil von ihm hatte erwartet, dass dieses Blut anders sein würde, dass er darin eine Erklärung für den Wahnsinn finden würde, der von Lucious Besitz ergriffen hatte oder das gierige Böse, das ihn so ganz ausgefüllt hatte. Doch Lucious war nichts als eine stille und leere Hülle.

Thanos wollte nun etwas für seinen Bruder tun; sehen, wie er begraben wurde oder ihn wenigstens einem Priester anvertrauen. Noch als er darüber nachdachte, erkannte er jedoch, dass er das nicht konnte. Seines Bruders eigene Worte machten es unmöglich.

Felldust überfiel gerade das Reich, und wenn Thanos irgendetwas unternehmen wollte, um den Menschen, die ihm wichtig waren zu helfen, dann musste er jetzt gehen.

Er stand auf, nahm sein Schwert und machte sich bereit, zur Tür zu laufen. Er nahm auch Lucious’ Schwert an sich. Von all den Dingen die seinem Bruder wichtig gewesen waren, waren die Instrumente der Gewalt wohl die wichtigsten. Thanos hielt beide Schwerter in den Händen und stellte überrascht fest, wie gut sie zusammenpassten. Er war beinahe überrascht, als er feststellte, dass einige Wirtshausgäste sich ihm in den Weg stellten.

„Er hat gesagt, dass du Prinz Thanos bist“, sagte ein Mann mit buschigem Bart und fingerte an seinem Messer herum. „Stimmt das?“

„Die Steinen werden für einen Gefangenen, wie du es bist, eine ordentliche Summe hinblättern“, sagte ein anderer.

Ein dritter nickte. „Und wenn sie es nicht tun, dann eben die Sklavenhalter.“

Sie kamen auf ihn zu, und Thanos zögerte weitere Sekunde. Er griff an. Seine Schulter rammte den Nächststehenden, sodass er gegen den Tisch gestoßen wurde. Thanos schwang bereits sein Schwert und ritzte den Arm des Messermannes auf.

Thanos hörte, wie er aufschrie, als die Klinge in seinen Vorderarm drang, aber da hatte er sich schon dem dritten zugewandt. Er verpasste diesem einen Tritt, dass er in eine Gruppe aus vier Männern flog, die sich auch dann nicht von ihrem Würfelspiel hatten abbringen lassen, als er sich seinen Kampf mit Lucious geliefert hatte. Einer von ihnen zischte und drehte sich um, um sich den Ganoven zu greifen.

Innerhalb weniger Sekunden schaffte das Gasthaus etwas, zu dem es nicht im Stande gewesen war, als Lucious sich seinen Kampf geliefert hatte: es brach in einen großangelegte Schlägerei aus. Männer, die sich zuvor damit zufrieden gegeben hatten, zuzusehen, wie Thanos sich mit seinem Bruder einen Schwertkampf geliefert hatte, ließen jetzt die Fäuste fliegen und Messer tanzen. Einer griff nach einem Stuhl und zielte auf Thanos’ Kopf. Thanos wich zur Seite aus, schlug einen Teil Holz ab bevor er im selben Zug sein Schwert gegen einen weiteren Gast erhob.

Er hätte bleiben können, doch der Gedanke an die Gefahr, in der Ceres schweben konnte, ließ ihn die Flucht antreten. Er war sich so sicher gewesen, die Invasion aufhalten zu können, wenn er Lucious nur rechtzeitig erwischte. Er hatte geglaubt, dann noch genügend Zeit zu haben, um die Wahrheit über seine Eltern herauszufinden, den Beweis, den er brauchte bevor er nach Delos zurücksegelte. Jetzt hatte er für nichts davon mehr Zeit.

Thanos rannte auf die Tür zu. Er ließ sich auf den Boden fallen und schlitterte unter den grabschenden Händen eines Mannes hindurch, der versuchte ihn aufzuhalten. Dabei schürfte er sich einen Oberschenkel auf. Dann rannte er hinaus auf die Straßen…

… und bekam es mit einem der schlimmsten Staubstürme zu tun, die Thanos seit seiner Ankunft in der Stadt hatte erfahren müssen. Er wurde jedoch nicht langsamer. Er verstaute nur seine Zwillingsschwerter in seinem Gürtel, zog sein Tuch über den Mund und bahnte sich so gut es ging, seinen Weg nach vorne.

Thanos konnte hören, wie hinter ihm Männer versuchten, ihm zu folgen, auch wenn er nicht wusste, wie sie hoffen konnten, ihm bei diesem Wetter einholen zu können. Thanos tastete sich wie ein Blinder voran, kam erst an einem Händler vorbei, der gerade seinen Wagen belud und dann an zwei Soldaten, die über den Staub fluchend in einer Tür verschwanden.

„Schau dir diesen Verrückten an!“ hörte Thanos einen in der Sprache Felldusts rufen.

„Wahrscheinlich versucht er sich noch schnell den Truppen anzuschließen. Ich habe gehört, dass der Vierte Stein Vexa angefangen hat, noch eine weitere Flotte klar zu machen, während die anderen drei schon im Einsatz sind. Der Erste Stein hat sie sich einfach unter den Nagel gerissen.“

„Das tut er doch immer“, antwortete der erste.

Doch da war Thanos auch schon wieder im Staub verschwunden. Er versuchte sich an den Umrissen der Gebäude zu orientieren und hielt nach Straßenschildern Ausschau, die von Öllampen erleuchtet wurden. Es gab auch welche, die in Stein gemeißelt worden waren und wohl den Einheimischen ermöglichen sollten, ihren Weg von der Straße des Zerlegten Bären zur Straße der Verknoteten Schlangen allein durch ertasten der Namen zu finden, sollten sie es brauchen.

Thanos kannte sich jedoch nicht gut genug mit dem System aus, um es nutzen zu können, dennoch beeilte er sich weiter durch den Staub hindurchzukommen.

Er war nicht der einzige und so hielt Thanos einige Male an, um festzustellen, ob die bestiefelten Füße, die er hörte, seinen Verfolgern gehörten oder nicht. Einmal drückte er sich an das gebogene Eisen eines Windschutzes und brachte seine Schwerter in Stellung, denn er war sich sicher, dass seine Verfolger vom Gasthaus ihn eingeholt hatten.

Doch dann rannte nur eine Gruppe aus Sklaven mit vermummten Gesichtern an ihm vorbei. Sie trugen eine Sänfte, aus deren Inneren Thanos hören konnte, wie ein Kaufmann sie antrieb.

„Schneller, ihr Hunde! Schneller oder ich lasse euch aufspießen. Wir müssen am Hafen sein, bevor uns die Beute durch die Lappen geht.“

Thanos beobachtete sie und folgte der Sänfte, denn er ging davon aus, dass diejenigen die sie trugen, den Weg wahrscheinlich besser kannten als er. Er musste Abstand halten, denn in einer Stadt wie Port Leeward, hielt jeder nach möglichen Räubern und Mördern Ausschau. Dennoch schaffte er es, ihnen durch die Straßen zu folgen, bevor sie wieder im Staub verschwand.

Thanos blieb eine Sekunde oder zwei stehen, um Luft zu holen, und da legte sich der Staubsturm so schnell wie er gekommen war auch schon wieder. Vor ihm lag der Hafen.

Was er dort erblickte, ließ Thanos wie angewurzelt dastehen und starren.

Er hatte geglaubt, dass er bei seiner Ankunft viele Schiffe im Hafen gesehen hatte. Doch jetzt schien das Wasser geradezu vor ihnen überzuquellen, sodass Thanos den Eindruck hatte, auf ihren Decks bis zum Horizont laufen zu können.

Viele von ihnen waren Kriegsschiffe, doch noch mehr waren Handelsschiffe oder kleinere Gefährte. Da die Hauptflotte von Felldust bereits aufgebrochen war, hätte der Hafen leer sein sollen, doch Thanos schien es, als würde kein weiteres Boot dort Platz finden. Es war, als hätte sich ganz Felldust hier versammelt, um das abzuräumen, was vom Reich zu kriegen war.

 

Thanos begann das Ausmaß zu erkennen und das, was es bedeutete. Das hier war nicht nur eine Armee, sondern ein ganzes Land. Sie sahen die Gelegenheit gekommen, das Land einzunehmen, das ihnen lange versagt gewesen war, und sie würden es sich jetzt mit Gewalt nehmen.

Was auch immer das für die bedeutete, die bereits dort waren.

„Wer bist du?“ fragte ein Soldat, der auf ihn zukam. „Welche Flotte, welcher Kapitän?“

Thanos dachte flink nach. Wenn er die Wahrheit sagte, würde er erneut kämpfen müssen und jetzt würde ihn kein Staubschleier mehr vor unwillkommenen Blicken schützen. Er bezweifelte nicht, dass er genauso verstaubt aussah wie jeder andere Einheimische auch, doch wenn irgendjemand ihn auch nur erkannte oder bemerkte, dass er aus dem Reich kam, dann würde das keinen guten Ausgang nehmen.

Er fragte sich kurz, was sie in Felldust wohl mit Spionen anstellten. Was auch immer es war, es war mit Sicherheit nicht angenehm.

„Zu welcher Flotte gehörst du?“ fragte der Mann erneut, dieses Mal mit strenger Stimme.

„Zu der von Vexa, dem Vierten Stein“, schoss Thanos mit ebenso strenger Stimme zurück.  Er versuchte, es so klingen zu lassen, als hätte er keine Zeit für solche Störungen. Da ihm nur wenig Zeit blieb, zu Ceres zurück zu gelangen, fiel ihm das nicht weiter schwer. „Bitte sag mir nicht, dass ihre Flotte schon aufgebrochen ist.“

Der andere Mann lachte ihm in ins Gesicht. „Sieht aus, als hättest du kein Glück. Was glaubst du wohl, du kannst hier rumsitzen und dich von der Lieblingshure des Kapitäns verabschieden? Du verschwendest deine Zeit, deine Chance.“

„Verdammt!“ sagte Thanos und versuchte, das Spiel mitzuspielen. „Sie können doch nicht alle weg sein. Was ist mit den anderen Schiffen?“

Das brachte ihm einen weiteren Lacher ein. „Du kannst gerne fragen, aber wenn du glaubst, dass es noch eine unvollständige Mannschaft gibt, dann hast du wohl nicht richtig aufgepasst. Bei solchen Geschichten will doch jeder einen Platz. Die Hälfte kann ja nicht mal richtig kämpfen. Aber ich sag dir was, vielleicht kann ich dir einen Platz in einer der Mannschaften von dem Alten Forkbeard besorgen. Der Dritte Stein lässt sich Zeit. Du müsstest mir nur die Hälfte aller deiner Anteile geben.“

„Vielleicht, wenn ich die Typen nicht finden kann, mit denen ich eigentlich loswollte“, sagte Thanos. Jede Sekunde die er hier war, verbrachte er nicht mit der Mannschaft, die ihn nach Delos zurückbringen konnte.

Er sah, wie der andere Mann mit den Schultern zuckte. „So spät, wie du dran bist, wirst du kein besseres Angebot kriegen.“

„Das werden wir sehen“, sagte Thanos und machte sich auf den Weg zu den Booten.

Von außen betrachtet musste es so aussehen, als suchte er nach einem der seltenen Boote, nach denen er angeblich Ausschau hielt. Thanos hoffte, dass er keines finden würde. Das letzte, was er jetzt brauchte, war es, sich in die Dienste von Felldusts Marine stellen zu müssen.

Auch wenn er es tun würde, wenn ihm nichts anderes übrigblieb. Wenn es hieß, dass er zurück zu Ceres fuhr, wenn es bedeutete, dass er ihr helfen konnte, dann wäre er dazu bereit. Er würde die Rolle irgendeines Felldust-Kriegers spielen, der nichts lieber wollte, als die anderen gerade rechtzeitig noch einzuholen. Wenn die Hauptflotte noch hier gewesen wäre, dann wäre es sogar sein Plan A gewesen, denn die Nähe zum Ersten Stein hätte ihm vielleicht ermöglicht, diesen zu töten.

Wenn er jedoch mit der zweiten Flotte segelte, würde erst ankommen, wenn es schon zu spät wäre. Er würde mit Sicherheit keine Hilfe mehr sein. So lief er die Planken zwischen den vielen Schiffen entlang und beobachtete, wie Krieger Fässer mit frischem Wasser und Kisten mit Nahrung verluden. Thanos schlitzte wenigstens drei Schiffsbäuche auf, doch würde keine lächerliche Sabotage der Welt eine Flotte wie diese aufhalten können.

Deshalb blickte er sich weiter um. Er sah, wie Männer und Frauen Waffen schliffen und Rudersklaven an die entsprechenden Plätze ketteten. Er sah, wie staubbedeckte Priester glückbringende Gebete intonierten und Tiere opferten, sodass ihr Blut den Staub in blutroten Schlamm verwandelte. Er sah, wie zwei Soldatengruppen verschiedener Banner darüber stritten, wer zuerst durch die Warft fahren durfte.

Thanos sah viel, das ihn wütend machte und mehr noch, das ihn um Delos bangen ließ. Doch die eine Sache, für die er eigentlich an diesen Ort gekommen war, konnte er im Chaos des Hafens nicht entdecken. Es gab hier hunderte Boote jeglicher Form, Größe und Bauart. Es gab Boote, die bis zum Rand mit grimmig dreinschauenden Kriegern gefüllt waren und Boote, die kaum mehr waren als Kähne, die jene Menschen transportierten, welche die Invasion gleichermaßen sehen wie an ihr teilnehmen wollten.

Er konnte jedoch das Boot, das ihn hergebracht hatte, nicht entdecken. Er musste zurück zu Ceres und wusste doch nicht, wie er das bewerkstelligen sollte.

KAPITEL VIER

Angetrieben vom Klang der Hörner rannte Stephania wie ein Hirsch auf der Flucht vor einer Jagdgesellschaft durch das Schloss. Wenn sie es nicht rechtzeitig hinaus schaffte, würde es kein Entkommen mehr geben. Um Ceres brauchte sie sich keine weiteren Sorgen mehr zu machen.

„Felldust wird ihr den Rest geben“, sagte Stephania.

Sie rannte zu der Stelle zurück, wo die Tunnel sie unter die Stadt führen würden. Sie hoffte, dass Elethe ihren Fluchtweg, so wie von Stephania angeordnet, hatte offenhalten können. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, zu fliehen. Der Rebellion in die Hände zu geraten wäre nicht gut, doch inmitten einer Schlacht zwischen Felldusts Fünf Steinen und dem Reich gefasst zu werden, war weitaus schlimmer.

Außer…

Stephania blieb stehen und blickte aus dem Fenster in Richtung des Hafens. Sie konnte sehen, wie Wurfgeschosse den Himmel verdunkelten und Schiffe brannten, während sich ein düsteres Band aus eindringenden Schiffen näherte. Stephania rannte zu einer Stelle, von wo aus sie über die Mauer blicken konnte und sie sah, dass auch dort das Feuer eröffnet worden war.

Wo auch immer sie jetzt hinrannte, es schien, als würden Feinde sie dort erwarten. Sie konnte nicht einfach wieder zurück über das Wasser entkommen. Sie konnte nicht riskieren, ins freie Feld zu laufen, denn wenn sie das Kommando über die Invasion gehabt hätte, dann hätte sie plündernde Banden geschickt, die Menschen zurück in die Stadt zu treiben. Sie durfte nicht offen durch Delos laufen, denn die Einheiten der Rebellion würden versuchen, sie zu fangen.

Doch wo waren diese Soldaten? Stephania war an ein paar Wachen auf ihrem Weg hinein vorbeigekommen. Ihre Verkleidung hatte genügt, um an ihnen vorbeizukommen. Doch es waren nicht viele gewesen. Das Schloss war wie ein Geisterschiff, das man aufgrund von dringenderen Angelegenheiten verlassen hatte. Als sie erneut nach draußen blickte sah Stephania, wie Rebellen in hellen Uniformen und zusammengesuchter Ausrüstung durch die Straßen liefen. Ein paar würden in der Nähe sein, aber wie viele und wo genau?

Eine Idee entfaltete sich eher wie eine Möglichkeit als wie eine tatsächliche Option. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr erschien sie ihr als die beste Handhabung. Sie war niemand, der die Dinge überstürzte. In Adelskreisen lieferte man sich so einer anderen Person aus oder riskierte ausgegrenzt oder schlimmeres zu werden.

Doch es gab Situationen, die entschiedenes Vorgehen erforderten. Wenn es etwas zu gewinnen gab, konnte Zurückhaltung genauso gut wie Übereifer zum Scheitern führen.

Stephania erreichte Elethe, die ständig zwischen Tunnel und Stadt hin und her blickte, als würde sie jeden Augenblick eine Horde Feinde erwarten.

„Ist es Zeit zu gehen, Gnädige Frau?“ sagte Elethe. „Ist Ceres tot?“

Stephania schüttelte den Kopf. „Es gibt eine Planänderung. Komm mit.“

Es war ihrer Zofe anzurechnen, dass sie keine Sekunde zögerte. Sie folgte Stephania, auch wenn sie sicherlich ihre Bedenken hatte.

„Wohin gehen wir?“ fragte Elethe.

Stephania grinste. „Zu den Verliesen. Ich habe beschlossen, dass du mich der Rebellion übergeben wirst.“

Entsetzen zeichnete sich im Gesicht ihrer Zofe ab, das sich noch weiter steigerte, als Stephania ihren Plan weiter ausführte.

„Bist du bereit?“ fragte Stephania als sie sich dem Verlies näherten.

„Ja, Gnädige Frau“, sagte Elethe.

Stephania legte ihre Hände auf den Rücken, als wären sie gefesselt. Dann setzte sie eine Miene aus ängstlicher Reue auf, von der sie hoffte, dass sie angemessen war. Elethe wirkte erstaunlich überzeugend in ihrer Rolle als taffer Rebell, der gerade einen Feind gefangen hatte.

In der Nähe des Haupttors standen zwei Wachen. Sie saßen hinter einem Tisch und spielten Karten, was zeigte, mit was sie ihre Zeit verbrachten. Einige Dinge änderten sich eben nie unabhängig davon, wer das Sagen hatte.

„Ist das… hast du da Lady Stephania?“ fragte der eine.

„Wie hast du das angestellt?“ fragte der andere. „Wo hast du sie aufgegriffen?“

Stephania konnte den Unglauben darin hören, aber auch die Unsicherheit darüber, was als nächstes zu tun war.

„Sie hatte sich gerade aus Ceres’ Gemächern geschlichen“, antwortete Elethe mühelos. Ihre Zofe war eine gute Lügnerin. „Kannst du… ich muss es jemandem melden, aber ich bin mir nicht sicher, wem.“

Das war ein guter Schachzug. Beide blickten daraufhin zu Elethe und überlegten, was sie als nächstes tun sollten. Stephanias Gelegenheit war gekommen, mit einer Nadel in jeder ihrer Hände stach sie den Wachen in ihre Hälse. Sie wirbelten herum, doch das Gift wirkte schnell und ihre Herzen pumpten es bereits durch ihre Körper. Einen Atemzug oder zwei später brachen sie zusammen.

„Hol die Schlüssel“, sagte Stephania und deutete auf den Gürtel des einen Wächters.

Elethe tat wie ihr gesagt und öffnete das Verlies. Es war beinahe zum Brechen voll, so wie Stephania es vermutet hatte. Oder zumindest gehofft hatte. Auch gab es keine weiteren Wachen. Offenbar waren alle jene, die sich als kampftauglich erachteten, auf der Stadtmauer.

Unter den Männern und Frauen waren Soldaten und Wachen, Folterer und einfache treue Adlige. Stephania sah mehrere ihrer eigenen Zofen dort, was ihr nicht unbedingt gelegen kam. Es kam jetzt nicht darauf an, ihre Treue einzufordern, sondern vorzugeben, dem neuen Regime zu dienen. Das Wichtigste war jedoch, dass sie da waren.

„Lady Stephania?“ sagte eine, als würde sie ihren eigenen Augen nicht trauen. Als wäre sie ihre Erlöserin.

Stephania lächelte. Sie mochte die Vorstellung, dass sie Menschen sie als eine Heldin ansahen. So würden sie wahrscheinlich mehr tun, als wenn sie sich nur ihres Gehorsams sicher sein konnte, und außerdem gefiel ihr die Vorstellung, Ceres mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

„Hört mir zu“, sagte sie zu ihnen. „Euch wurde viel genommen. Euer ganzer Besitz wurde von diesen Rebellen, diesen Bauern, euch einfach genommen. Ich sage, es ist Zeit, ihn zurückzuholen.“

„Ihr seid hier, um uns zu befreien?“ fragte einer der ehemaligen Soldaten.

„Ich habe noch ganz anderes vor“, sagte Stephania. „Wir werden das Schloss zurück unter unsere Gewalt bringen.“

Sie hatte keinen Jubel erwartet. Sie war nicht so romantisch veranlagt, dass sie Idioten brauchte, die ihr bei jeder Entscheidung zujubelten. Dennoch nagte das nervöse Murmeln an ihren Nerven.

„Habt ihr Angst?“ fragte sie.

„Dort oben werden Rebellen auf uns warten!“ sagte ein Adliger. Stephania kannte ihn. High Reeve Scarel hatte schnell jene zum Kampf herausgefordert, von denen er wusste, dass er gegen sie gewinnen konnte.

„Nicht genug, um das Schloss zu verteidigen“, sagte Stephania. „Zumindest gerade nicht. Jeder abkömmliche Rebell ist auf der Mauer und versucht die Invasion abzuwehren.“

„Und was ist mit der Invasion?“ fragte eine Adlige. Sie war kaum besser als der Mann, der zuvor gesprochen hatte. Stephania wusste Dinge über das, was sie getan hatte, bevor sie reich geheiratet hatte, die anderen die Schamesröte ins Gesicht treiben würden.

„Achso“, sagte Stephania. Du wartest also lieber in einem schönen sicheren Verlies, bis alles vorbei ist. Nun und dann? Im Bestfall verbringst du den Rest deines Lebens in diesem stinkenden Loch, vorausgesetzt die Rebellen töten dich nicht, wenn sie einmal erkennen, wie lästig Gefangene sind. Wenn die anderen gewinnen… glaubst du, dass deine Zelle dich schützen wird? Hier drinnen seid ihr in ihren Augen keine Adligen mehr, sondern bloße Unterhaltung. Kurze Unterhaltung.“

Sie schwieg, um das Gesagte wirken zu lassen. Sie musste ihnen das Gefühl geben, Feiglinge zu sein, damit sie es überhaupt in Erwägung zogen.

„Oder wir gehen da raus“, sagte Stephania. „Wir nehmen das Schloss ein und verbarrikadieren es, sodass der Feind nicht hineinkommt. Wir besetzten das Schoss, bis die Rebellion und die Besatzer einander getötet haben und dann holen wir uns Delos zurück.“

 

„Es wird immer noch Wachen geben“, sagte einer. „Es gibt noch immer Kampfherren. Wir können nicht gegen die Kampfherren gewinnen.“

Stephania gab Elethe ein Zeichen, die Schlösser der Zellen aufzuschließen. „Wir finden einen Weg. Mit jeder Wache, die wir töten, gewinnen wir Waffen hinzu, und wir alle wissen, wo die Waffenkammer ist. Oder ihr bleibt hier und verrottet. Ich werde die Türen verschließen und später ein paar Folterer vorbeischicken. Ist mir egal welche.“

Sie folgten ihr, so wie Stephania es vermutet hatte. Es spielte keine Rolle, ob sie es aus Angst taten oder Stolz oder sogar Loyalität. Was zählte war, dass sie es taten. Sie folgten ihr hinauf ins Schloss, und Stephania begann, ihnen Befehle zu erteilen, auch wenn sie Acht gab, es nicht so klingen zu lassen, zumindest vorerst nicht.

„Lord Hwel, könnten Sie sich mit den fähigsten Männern um die Kasernen der Wächter kümmern?“ fragte Stephania. „Wir wollen vermeiden, dass die Rebellen dort rauskommen.“

„Und die Männer, die dem Reich treu sind?“ fragte der Adlige.

„Die können ihre Treue unter Beweis stellen, indem sie die anderen Verräter töten“, antwortete Stephania.

Der Adlige machte sich auf den Weg, ihren Befehl auszuführen. Sie schickte eine ihrer Zofen, auch die anderen zu versammeln und beauftragte eine Adlige, diejenigen Bediensteten, die Stephania ergeben waren, anzuweisen.

Stephania blickte sich in der Gruppe, die sich um sie gescharrt hatte, um und überlegte, wer von Nutzen sein könnte, wer Geheimnisse hütete, die sie verwenden konnte, wer durch seine Schwächen leicht zu manipulieren sein würde und wer durch sie zur Gefahr werden konnte. Sie schickte den Adligen, der so unbedingt einen Kampf hatte vermeiden wollen, als Wächter zum Tor und eine übellaunige Witwe in die Küche, wo sie keinen Schaden anrichten konnte.

Weitere Leute schlossen sich ihnen an. Wachen und Bedienstete kamen zu ihnen, als veränderte sich ihre Loyalität je nachdem wie der Wind stand. Stephanias Zofen knieten vor ihr nieder und erhoben sich, als sie sie berührte, um ihre nächsten Aufgaben zu erledigen.

Hin und wieder fanden sie auch Rebellen, die sich ihnen nicht beugen wollten und die deshalb dran glauben mussten. Einige starben, indem man ihnen eilig die Waffen abnahm und ihnen die Knochen brach. Andere starben mit einem Messer im Rücken oder durch einen vergifteten Pfeil, der in ihr Fleisch drang. Stephanias Zofen hatten gelernt, ihre Aufgaben sauber auszuführen.

Als Stephania Königin Athena erblickte, fragte sie sich, auf welche Weise sie sterben sollte.

„Was ist das?“ fragte die Königin. „Was geht hier vor sich?“

Stephania ignorierte ihr Gemecker.

„Tja, ich will, dass du herausfindest, wie die Lage in der Waffenkammer aussieht. Wir brauchen diese Waffen. Ich denke High Reeve Scarel hat mittlerweile einen Kampf vom Zaun gebrochen.“

Sie lief weiter in Richtung des Großen Saals.

„Stephania“, sagte Königin Athena. „Ich verlange zu wissen, was hier vor sich geht.“

Stephania zuckte die Schultern. „Ich tue, was du längst hättest tun sollen. Ich habe diese treuen Menschen befreit.“

Es war ein so simpler und eingängiger Grund, dass er keiner weiteren Erklärung bedurfte. Stephania war es gewesen, die den Adel gerettet hatte. Sie war diejenige, der sie ihre Freiheit und vielleicht sogar ihr Leben verdankten.

Ich saß auch im Gefängnis“, zischte die Königin zurück.

„Ah, natürlich. Hätte ich das gewusst, hätte ich dich zusammen mit den anderen Adligen gerettet. Jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss ein Schloss unter meine Kontrolle bringen.“

Stephania rauschte an ihr vorbei, denn schließlich gewann man einen Streit am besten damit, dass man seinem Gegner die Gelegenheit zu sprechen verwehrte. Es überraschte sie nicht, dass die anderen ihr weiter folgten.

Stephania hörte die Geräusche eines Kampfes in der Nähe. Sie gab den anderen ein Zeichen und flog auf der Suche nach einem Balkon die Treppe hinauf. Schnell fand sie, wonach sie gesucht hatte. Niemand kannte das Schloss so gut wie Stephania.

Unter ihr erblickte sie einen Kampf, der die meisten Menschen sicherlich beeindruckt hätte. Ein dutzend muskelbepackter Männer, unter denen man vergeblich nach zweien gesucht hätte, die mit gleichen Waffen oder Rüstungen kämpften, lieferten sich in dem Hof vor dem Haupttor einen Kampf. Sie hatten es mit mindestens zweimal so vielen Wachen zu tun, zu Beginn der Schlacht mussten es sogar dreimal so viele gewesen sein und sie wurden alle von High Reeve Scarel angeführt. Doch nicht nur das, sie schienen die Oberhand zu gewinnen. Stephania konnte reglose Körper in Reichsuniform auf dem Pflasterstein verstreut sehen. Der Adlige, der sich gerne mit anderen anlegte, schien hier einen Kampf für die Ewigkeit zu fechten.

„Dummkopf“, sagte Stephania.

Stephania sah ihnen noch einen Moment lang zu, und wenn sie zu jenen gezählt hätte, die in den Stadionskämpfen einen Sinn gesehen hatten, dann hätte sie wahrscheinlich eine gewisse Schönheit in dem Gemetzel entdeckt. Gerade rammte ein Mann den Schaft seiner großen Axt in zwei Männer, dann wirbelte er herum und erwischte einen so glücklich mit seiner Klinge, dass er ihn beinahe zweiteilte. Ein Kampfherr mit einer Kette sprang über einen Soldaten und wickelte ihm seine Waffe um den Hals.

Es war eine tapfere Vorstellung, die beeindruckte. Wenn sie daran gedacht hätte, hätte sie zu einem früheren Zeitpunkt vielleicht ein dutzend Kampfherren bestochen und sie zu einer angemessenen Leibwache gemacht. Das einzige Problem wäre der Mangel an Feinfühligkeit gewesen. Stephania zuckte zusammen, als ein Blutspritzer fast bis zur Brüstung des Balkons flog.

„Sind sie nicht großartig?“ fragte eine der Adligen.

Stephania erwiderte ihre Frage mit einem Blick, in dem sie alle Verachtung vereinte, die sie aufbringen konnte. „Ich denke, sie sind Idioten.“ Sie schnipste mit den Fingern in Elethes Richtung. „Elethe, Messer und Bogen. Sofort.“

Ihre Zofe nickte, und Stephania sah zu, wie Elethe und einige andere ihre Waffen und Pfeile zogen. Ein paar der Wachen, die zu ihnen gehörten, hatten aus der Waffenkammer kurze Bögen ergattert. Einer hatte eine Schiffsarmbrust, die man besser vom Deck eines Schiffs abfeuerte als von einem Balkon. Sie zögerten.

„Sie gehören doch zu uns“, sagte einer der Adligen.

Stephania riss ihm den leichten Bogen aus den Händen. „Und sie werden sowieso sterben, wenn sie sich so erbärmlich gegen die Kampfherren wehren. So geben sie uns wenigstens die Chance, zu gewinnen.“

Gewinnen war alles. Vielleicht würden die anderen das eines Tages verstehen. Vielleicht war es aber auch besser, wenn sie es nicht taten. Stephania wollte sie nicht töten müssen.

Jetzt spannte sie den Bogen so gut, wie ihr runder Bauch es zuließ. Es spielte kaum eine Rolle, dass sie den Pfeil gerade mal zur Hälfte zurückziehen konnte. Mit Sicherheit war es auch egal, dass sie sich keine Zeit zum Zielen nahm. Für die kämpfende Masse unter ihr genügte es, dass sie irgendetwas traf.

Und nicht nur das, es diente auch als Signal.

Pfeile regneten nieder. Stephania sah, wie sich einer in das Fleisch des Arms eines Kampfherrn bohrte. Er brüllte wie ein verwundetes Tier, bevor drei weitere in seine Brust drangen. Messer flogen hinab und schnitten und ritzten, gruben und bohrten; Giftpfeile flogen durch die Luft. Doch die Wirkung ihrer Ladung konnte sich kaum entfalten, da waren ihre Ziele schon von Pfeilen durchlöcherten.

Stephania sah, wie Reichssoldaten zusammen mit Kampfherren zu Boden gingen. High Reeve Scarel blickte mit unschuldigenden Augen zu ihr hinauf, als er sich an den Pfeil einer Armbrust fasste, der in seinen Magen gedrungen war. Weitere Männer fielen den Klingen der Kampfherren zum Opfer. Andere Männer fanden Lücken in ihrer Verteidigung, nur um im Moment ihres Siegs von einem Pfeilhagel ausgelöscht zu werden.