Ehre wem Ehre gebührt

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Aus der Reihe: Der Weg des Stahls #1
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„Wo ist das Kind?“ fragte einer. Sein Visier war nach unten geklappt und seine Stimme schnitt durch den Sturm. Sein Visier war nicht wie das jenes Mannes, der sie in jener Nacht genommen hatte. Der Mann trug eine rote Rüstung, die eine andere Form hatte und nichts liebliches Schwang in seiner Stimme mit.

„Ich…“ begann sie.

Dann spürte sie Wut in sich aufsteigen – die Wut einer Frau, die wusste, dass sie sterben würde. Die nichts zu verlieren hatte.

„Er ist weg“, spie sie ihn herausfordernd an. Sie grinste. „Und ihr werdet ihn niemals haben. Niemals.“

Der Mann grunzte verärgert, tat einen Schritt auf sie zu, zog sein Schwert und erstach sie.

Rea spürte den ungeheuerlichen Schmerz des Stahls in ihrer Brust und sie keuchte atemlos. Die Welt um sie wurde lichter und sie spürte wie sie Teil dieses Lichts wurde und sie wusste, dass es der Tod war.

Doch war da keine Angst. Vielmehr spürte sie Zufriedenheit. Ihr Kind war sicher.

Sie landete mit dem Gesicht im Fluss. Das Wasser färbte sich rot und sie wusste, dass es vorbei war. Ihr kurzes und schweres Leben war vorbei.

Doch ihr Junge würde für immer leben.

*

Die Bäuerin Mithka kniete am Ufer des Flusses neben ihrem Ehemann. Beide waren ganz in ihre Gebete versunken, denn diese erschienen ihnen die einzige Zuflucht in diesem unheimlichen Sturm. Es fühlte sich an, als sei das Ende der Welt gekommen. Der blutrote Mond allein war wie ein denkwürdiges Omen – doch in Verbindung mit solch einem Sturm war er mehr als nur unheimlich. So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben. Etwas Bedeutsames war auf dem Weg, das wusste sie.

Sie knieten zusammen dort, Wind und Schnee schlug ihnen ins Gesicht und sie beteten, dass ihre Familie den Sturm sicher überstehen würde. Um Gnade. Für die Vergebung ihrer Sünden.

Mithka war eine fromme Frau und hatte viele Sonnenzyklen erlebt, zahlreichen Kinder das Leben geschenkt und ein gutes Leben gehabt. Ein armes doch gutes Leben. Sie war eine anständige Frau. Sie hatte sich um ihr Geschäft gekümmert, hatte sich um Andere gesorgt und hatte niemandem etwas zu Leide getan. Sie rief Gott an, damit er ihre Kinder, ihren Haushalt und ihre bescheidenen Habseligkeiten beschützen würde. Sie beugte sich nach vorne, platzierte ihren Handinnenflächen im Schnee, schloss ihre Augen und neigte ihr Haupt, sodass ihre Stirn den Boden berührte. Sie bat Gott, ihr ein Zeichen zu schicken.

Langsam hob sie ihren Kopf. Währenddessen weiteten sich ihre Augen und ihr Herz begann beim Anblick dessen, was sie vor sich erblickte, schneller zu schlagen.

„Murka!“ zischte sie.

Ihr Mann drehte sich zu ihr und blickte auf. Kniend und durchfroren starrten sie voller Erstaunen auf das, was sie dort sahen.

Das konnte nicht möglich sein. Sie blinzelte mehrere Male, sie bildete es sich nicht ein. Vor ihnen schwebte ein von der Strömung herbeigespültes Körbchen auf dem Wasser.

Und in dem Körbchen lag ein Baby.

Ein Junge.

Seine Schreie durchdrangen die Nacht, erhoben sich sogar über das Brausen des Sturms und das Krachen von Blitz und Donner und drangen ihr direkt ins Herz.

Sie sprang in den Fluss, watete durch das tiefe eisige Wasser, dessen messerartige Stiche ihr gleichgültig waren und angelte nach dem Körbchen. Sie blickte hinein und fand ein sorgfältig eingewickeltes Kind, das zu ihrer großen Überraschung völlig trocken war.

Sie untersuchte ihn eingehender und entdeckte das frische Brandmal auf seinem Arm – überrascht erkannte sie darin das Symbol zweier Schlangen, die einen Mond umkreisten. Ein Dolch rangte zwischen ihnen empor.

Sie hielt den Atem an; sie wusste sofort, was es zu bedeuten hatte. In alten Volksweisen und Legenden hatte sie von diesem Symbol gehört. Und sie fürchtete es.

Sie drehte sich zu ihrem Mann.

„Wer würde so etwas tun?“ fragte sie entsetzt als sie ihn fest an ihre Brust drückte.

Er konnte nur verwundert seinen Kopf schütteln.

„Wir müssen uns ihm annehmen“, entschied sie.

Ihr Mann legte seine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.

„Wie sollen wir das anstellen?“ erwiderte er. „Wir können ihn nicht durchfüttern. Wir können uns selbst kaum ernähren. Wir haben schon drei Söhne – wozu brauchen wir noch einen vierten? Wir sind zu alt noch ein Kind aufzuziehen.“

Mithka dachte blitzschnell nach und zeigte ihm das Brandmal auf dem Arm des Kindes. Nach all den gemeinsamen Jahren wusste sie, wie sie ihren Mann überzeugen konnte. Er sah überzeugt aus.

„Da“, erwiderte sie. „Da hast du dein Zeichen. Ein Zeichen für uns“, sagte sie ernst. „Ich werde dieses Baby retten – ob es dir gefällt oder nicht. Ich werde ihn nicht dem Tod überlassen.“

Er sah immer noch skeptisch drein, wenn auch weniger entschlossen, als ein weiterer Blitz durch den Himmel zuckte und der Himmel ihn mit Furcht erfüllte.

„Glaubst du, das alles ist reiner Zufall?“ fragte er. „Ein solches Kind, das in solch einer Nacht geboren wird? Hast du irgendeine Ahnung, wen du da in deinen Armen hältst?“

Er blickte ängstlich zu dem Kind. Dann stand er auf und trat einen Schritt zurück. Schließlich drehte er sich um und trottete besorgt davon.

Mithka würde nicht nachgeben. Sie lächelte das Baby an und wiegte es an ihrer Brust, um sein kaltes Gesichtchen zu wärmen. Langsam beruhigte sich sein Weinen.

„Ein Kind so anders als wir alle“, antwortete sie, auch wenn niemand sie hörte und hielt ihn fest. „Ein Kind das die Welt verändern wird und das Royce heißen soll.“

TEIL ZWEI

KAPITEL VIER

17 Sonnenzyklen später

Royce stand auf einem Hügel unter dem weit und breit einzigen Eichenbaum in einer von Getreidefeldern beherrschten Landschaft. Ein alter Baum, dessen Geäst den Himmel zu erreichen schien. Er sah Genoveva von Liebe verzehrt tief in die Augen. Sie hielten sich bei den Händen, sie lächelte zurück, und als sie sich vorbeugten, um sich zu küssen, ward er von Ehrfurcht und Dankbarkeit erfüllt, dass sein Herz so voll sein konnte. Als die Morgendämmerung hereinbrach, wünschte sich Royce, dass er diesen Augenblick für immer festhalten könnte.

Royce richtete sich wieder auf und blickte sie an. Genoveva war bezaubernd. Sie war wie er siebzehn Jahre alt, groß, schlank und hatte fließendes blondes Haar und intelligente grüne Augen. Ein paar Sommersprossen zierten ihre anmutigen Züge. Sie hatte ein Lächeln, das ihm Lebenskraft schenkte und ein Lachen, dass ihm wohlig zumute wurde. Sie war mehr als nur das, sie hatte Liebreiz und einen Edelmut, der ihren Bauernstand weit übertraf.

Royce sah sein eigenes Bild in ihren Augen, und er staunte darüber, dass er aussah, als wären sie verwandt. Er war natürlich viel massiger als sie und für sein Alter ungewöhnlich groß, mit Schultern, die breiter waren als die seiner älteren Brüder, einem starken Kinn, einer reizenden Nase, einer hohen Stirn, einem Aufgebot an Muskeln, die sich auf seiner Tunika abzeichneten und regelmäßigen Zügen wie den ihren. Sein längliches blondes Haar fiel ihm fast in die Augen während seine haselnussgrünen Augen ihren glichen, auch wenn sie einen Ton dunkler waren. Er war mit Stärke gesegnet und mit einer Geschicklichkeit, das Schwert so wie seine Brüder zu führen, auch wenn er der jüngste unter ihnen war. Sein Vater hatte immer gescherzt, dass er vom Himmel gefallen sei, und Royce hatte es verstanden: seine Züge und sein Körperbau unterschieden sich von dem seiner Brüder. Er war wie ein Fremder in seiner eigenen Familie.

Sie umarmten sich, und es fühlte sich gut an, so fest von ihr umschlungen zu werden, jemanden zu haben, der ihn genauso liebte, wie er sie liebte. Beide waren sie seit Kindesbeinen unzertrennlich gewesen, waren zusammen aufgewachsen, hatten zusammen in diesen Felder gespielt und hatten sich schon damals geschworen, nach der Sonnenwende ihres siebzehnten Lebensjahres zu heiraten. Es war für sie als Kinder eine toternste Angelegenheit gewesen.

Als sie älter wurden, hatten sie sich nicht wie andere Kinder voneinander entfremdet, sondern waren sich Jahr um Jahr näher gekommen. Gegen jede Erwartung war aus ihrem Kinderspiel so etwas Ernsthafteres, Feierliches, Unzerbrechliches geworden, das mit jedem Jahr stärker wurde. Ihre Leben schienen dazu bestimmt, nicht auseinanderzulaufen.

Jetzt stand der langersehnte Tag unglaublicher Weise vor der Tür. Beide waren sie siebzehn, die Sommersonnenwende stand bevor, sie war erwachsen und konnten ihre eigenen Entscheidungen treffen. Als sie unter dem Baum standen und den Sonnenaufgang betrachteten, wussten sie beide, kribbelig aufgeregt, was das bedeuten sollte.

„Was denkt deine Mutter?“ fragte sie.

Royce grinste.

„Ich glaube, sie liebt dich mehr als ich es tue, falls das überhaupt möglich ist“, lachte er.

Genovevas Lachen drang bis in seine Seele.

„Und deine Eltern?“ fragte er.

Ihr Gesicht verfinsterte sich, wenn auch nur für eine Sekunde, doch ihm schwand der Mut.

„Ist es meinetwegen?“ fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie haben dich in ihr Herz geschlossen“, erwiderte sie. „Sie sind nur…“ seufzte sie. „Wir sind noch nicht verheiratet. Wenn es nach ihnen ginge, könnte es nicht schnell genug gehen. Sie haben Angst um mich.“

Royce verstand. Ihre Eltern fürchteten die Adligen. Unverheiratete Bauern, wie Royce und Genoveva es waren, hatten keinerlei Rechte; wenn die Adligen es wollten, so konnten sie jede Frau nehmen und sie für sich beanspruchen. Bis sie verheiratet sein würden. Dann wären sie sicher.

„Schon bald“, sagte Genoveva und ihr Lächeln leuchtete.

„Sind sie erleichtert, weil ich es bin oder weil du vor den Adligen in Sicherheit sein wirst, wenn wir erst einmal verheiratet sind?“

Sie lachte und schlug ihn neckend.

 

„Sie lieben dich wie den Sohn, den sie niemals hatten!“ sagte sie. „Und ich liebe dich auch. Hier, das ist für dich.“

Sie streckte ihm etwas entgegen, das an einem Faden hing. Es war kaum mehr als ein Stück Draht. Doch es enthielt eine Locke von Genoveva. Für Royce jedoch war es das kostbarste, was er jemals gesehen hatte. Er nahm es an sich und steckte es in sein Hemd, ganz nah an seinem Herzen.

Er griff nach ihrem Arm und küsste sie.

„Royce!“ rief eine Stimme.

Royce drehte sich um und sah seine drei Brüder in einer großen Gruppe mit Genovevas Schwestern und Cousinen den Hügel hinaufkommen. Sie alle hielten Sicheln und Heugabeln in der Hand und waren bereit, den Arbeitstag anzugehen. Royce atmete tief durch, denn er wusste, dass die Zeit des Abschieds gekommen war. Sie waren immer noch Bauern, und sie konnten es sich nicht erlauben, sich einen ganzen Tag frei zu nehmen. Die Hochzeit musste bis zum Sonnenuntergang warten.

Royce machte es an diesem Tag nichts aus zu arbeiten, doch litt er mit Genoveva. Er wünschte, dass er ihr mehr zu bieten gehabt hätte.

„Ich wünschte, du könntest dir heute frei nehmen“, sagte Royce.

Sie lächelte erst, und dann lachte sie.

„Das Arbeiten macht mich glücklich. Es lenkt mich ab. Vor allem“, sagte sie und beugte sich vor um seine Nase zu küssen, „von dem Gedanken wie lange es dauert, bis ich dich heute wieder zu Gesicht bekomme.“

Sie küssten sich, und sie drehte sich mit einem Kichern um, hakte sich bei ihren Schwestern und Cousinen ein und war zusammen mit ihnen schon bald auf dem Weg in Richtung der Felder. Sie alle waren ganz aufgeregt an diesem wunderbaren Sommertag.

Royces Brüder tauchten hinter ihm auf, klopften ihm auf die Schulter, und schon machten sich die vier auf ihren eigenen Weg in die entgegengesetzte Richtung den Hügel hinab.

„Komm schon du verliebter Vogel!“ sagte Raymond. Der älteste Bruder war Royce wie ein Vater. „Das kann noch bis heute Abend warten!“

Seine beiden anderen Brüder lachten.

„Sie hat dich wirklich am Haken“, fügte Lofen hinzu, der mittlere von ihnen, der kleiner und gedrungener war als die anderen.

„Es gibt keine Hoffnung für dich“, stimmte Garet mit ein. Als Jüngster von ihnen war er nur wenige Jahre älter als Royce und stand diesem am nächsten. Allerdings stand er mit ihm auch am deutlichsten im Konkurrenzkampf. „Noch nicht einmal verheiratet und schon verloren.“

Die drei lachten und wollten ihn damit aufziehen. Royce stimmte mit ein als sie sich auf den Weg zur Feldarbeit begaben. Er blickte noch einmal über seine Schulter und erhaschte einen letzten Blick auf Genoveva, die den Hügel hinablaufend verschwand. Sein Herz hüpfte als auch sie sich noch einmal nach ihm umwandte und ihm von weit weg ein Lächeln schenkte. Ihr Lächeln rührte seine Seele.

Heute Abend, meine Liebe, dachte er. Heute Abend.

*

Genoveva arbeitete auf den Feldern, hob und schwang umgeben von etwa einem dutzend Schwestern und Cousinen ihre Sense. Sie alle waren an diesem denkwürdigen Tag bester Laune, und Genoveva nur mit halbem Herzen bei der Arbeit. Sie hielt immer wieder inne, nachdem sie einige Male die Sense geschwungen hatte und stützte sich auf ihren langen Schaft während sie in den blauen Himmel blickte, die grandiosen gelben Felder betrachtete und an Royce dachte. Jedes Mal schlug ihr Herz dabei schneller. Heute war der Tag, von dem sie seit Kindertagen geträumt hatte. Es war der wichtigste Tag in ihrem Leben. Nach dem heutigen Tage würden sie und Royce für immer zusammenleben; nach dem heutigen Tage würden sie ihr eigenes kleines Häuschen beziehen, ein einfaches Ein-Raum-Häuschen am Rande der Felder, ein bescheidenes Plätzchen, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Es wäre ein Neubeginn in ihren Rollen als Mann und Frau.

Genoveva strahlte bei dem Gedanken. Nichts hatte sie jemals sehnlicher gewollt, als mit Royce zusammen zu sein. Er war immer an ihrer Seite gewesen seitdem sie ein Kind gewesen war, und sie hatte nie für einen anderen Augen gehabt. Auch wenn er der jüngste der vier Brüder war, so hatte sie stets das Gefühl gehabt, dass Royce etwas Besonderes hatte, das ihn von allen anderen, die sie getroffen hatte, unterschied. Sie wusste nicht genau, worin genau dieser Unterschied bestand, und sie vermutete, dass auch er es nicht wusste. Doch sah sie etwas in ihm, etwas, das größer war als dieses Dorf, dieser Landstrich. Es war ihr, als läge sein Schicksal andernorts.

„Und was wird aus seinen Brüdern?“ fragte eine Stimme.

Genoveva kehrte in die Gegenwart zurück. Sie drehte sich zu der kichernden Sheila ihrer ältesten Schwester, hinter der zwei ihrer Cousinen standen.

„Er hat immerhin drei! Die kannst du unmöglich alle haben!“ setzte sie lachend hinzu.

„Ja worauf wartest du?“ stimmte ihre Cousine zu. „Wir warten darauf, vorgestellt zu werden.“

Genoveva lachte.

„Ich habe euch bereits vorgestellt“, antwortete sie. „Viele Male.“

„Das reicht nicht!“ erwiderte Sheila während die anderen lachten.

„Sollte deine Schwester nicht seinen Bruder heiraten?“

Genoveva lächelte.

„Es gäbe nichts schöneres für mich“, antwortete sie. „Aber ich kann nicht an ihrer Stelle sprechen. Ich kenne nur Royces Herz.“

„Überzeuge sie!“ drängte eine andere ihrer Cousinen.

Genoveva lachte erneut. „Ich werde mein Bestes geben.“

„Und was wirst du tragen?“ rief ihre Cousine dazwischen. „Du hast noch immer nicht entschieden, welches Kleid du – “

Ein Geräusch, das plötzlich durch die Luft zu ihnen drang, eines bei dem Genoveva sofort unwohl zumute wurde, veranlasste sie ihre Sense sinken zu lassen und sich dem Horizont zuzuwenden. Sie wusste, noch bevor sie es ganz verstanden hatte, dass es ein unheilvolles Geräusch war, eines das Ärger bedeuten würde.

Sie drehte sich um und starrte auf den Horizont, und als sie das tat, fanden ihre größten Ängste Bestätigung. Das Geräusch von Getrappel wurde hörbar. Ein Gefolge aus Pferden tauchte auf dem Hügel auf. Ihr Herz stockte als sie die Reiter sah, die in feinste Seide gekleidet, ein grüngoldenes Banner trugen, in dessen Mitte ein Bär prangte und das Haus Nors ankündigten.

Die Adligen kamen.

Genoveva machte dieser Anblick wütend. Diese habgierigen Männer hatten ihrer Familie und allen anderen Bauernfamilien einen Zehnten nach dem anderen abgenommen. Sie hatten alles genommen, was sie kriegen konnten und lebten wie Könige. Und immer noch war es nicht genug.

Genoveva sah, wie sie heranritten, und sie betete mit ganzer Seele, dass sie einfach vorbeireiten und nicht zu ihnen kommen würden. Allerdings hatte sie sie viele Sonnenzyklen nicht mehr in diesen Feldern gesehen.

Genoveva musste zu ihrem Entsetzen mitansehen, wie sie plötzlich drehten und auf sie zu ritten.

Nein, bat sie still. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht heute.

Doch sie ritten und ritten, kamen näher und näher ganz klar auf sie zu. Die Kunde von ihrer Hochzeit musste sich verbreitet haben, und das ermunterte sie, zuzugreifen bevor es zu spät war.

Die anderen Mädchen scharten sich instinktiv um sie. Sheila drehte sich zu ihr und umklammerte wie wild ihren Arm.

„LAUF!“ befahl sie ihr und schubste sie.

Genoveva drehte sich um und erblickte das offene kilometerweite Feld vor sich. Sie wusste, dass es irrsinnig gewesen wäre – sie würde nicht weit kommen. Sie würden sie trotzdem einfangen – jedoch ohne Würde.

„Nein“, antwortete sie ruhig und gelassen.

Sie umklammerte den Griff ihrer Sense und hielt sie vor sich.

„Ich werde ihnen entgegentreten.“

Sie sahen sie verblüfft an.

„Mit deiner Sense?“ fragte ihre Cousine ungläubig.

„Vielleicht kommen sie ohne böse Absicht“, pflichtete eine andere Cousine ihr bei.

Doch Genoveva sah sie herannahen und langsam schüttelte sie ihren Kopf.

„Nein, das tun sie nicht“, antwortete sie.

Sie sah, wie sie näherkamen und wartete darauf, dass sie langsamer würden – doch zu ihrer Überraschung hielten sie das Tempo. In ihrer Mitte ritt Manfor, ein höhergestellter Adliger um die zwanzig, den sie verachtete. Er war Herzog des Königreiches, ein Junge mit vollen Lippen, hellen Augen, goldenen Locken und einem höhnischen Lächeln auf den Lippen. Es war als würde er permanent auf die Welt hinabblicken.

Sie kamen noch näher und Genoveva sah das grausige Grinsen in seinem Gesicht und seinen Blick, der über ihren Körper glitt, als wäre er ein Stück Fleisch. Sie waren weniger als zwanzig Meter entfernt, da hob Genoveva ihre Sense und machte sich bereit.

„Sie werden mich nicht mitnehmen“, seufzte sie resignierend und an Royce denkend. Jetzt wünschte sie ihn sich mehr als alles andere an ihrer Seite.

„Genoveva tu das nicht“, schrie Sheila.

Genoveva rannte mit erhobener Sense auf sie zu. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Sie wusste nicht, woher sie den Mut nahm, doch sie brachte ihn auf. Sie stürmte mit kampfbereiter Sense auf sie zu und ließ sie auf den ersten Adligen, der ihr in die Quere kam, niedergehen.

Doch sie waren zu schnell. Sie ritten wie der Donner und als sie die Sense niederschwang, da hob einer von ihnen seinen Stock, schwang diesen und schlug ihr die Sense aus der Hand. Sie spürte den schrecklichen Widerstand bis in ihre Hand hinein und musste mitansehen, wie ihre Waffe durch die Luft flog und in einem nahegelegenen Heuhaufen landete.

Einen Moment später galoppierte Manfor an ihr vorbei, lehnte sich nach vorne und schlug ihr mit seiner Gantelet aus Metall ins Gesicht.

Genoveva schrie und wurde von der Wucht des Schlags herumgeschleudert. Sie landete mit dem Gesicht zuerst im Heu, brennender Schmerz flammte auf.

Die Pferde blieben abrupt stehen, und Reiter stiegen von ihnen ab, um Genoveva mit groben Händen zu greifen. Sie wurde auf ihre Füße gestellt, ihr war noch immer schwindelig von dem Schlag, den sie hatte einstecken müssen.

Sie stand mit wackeligen Beinen da und sah zu Manfor auf, der vor ihr stand. Seine höhnische Grimasse tauchte unter seinem Helm auf.

„Lasst mich gehen!“ zischte sie. „Ich bin nicht Euer Eigentum!“

Sie hörte Schreie hinter sich und blickte zu ihren Schwestern und Cousinen, die ihr zu Hilfe eilen wollten, sie retten wollten – und sie sah mit Schrecken, wie die Ritter sie zu Boden schlugen.

Genoveva hörte Manfors widerliches Gelächter als er nach ihr griff, sie auf den Rücken seines Pferdes schmiss und ihre Handgelenke zusammenband. Einen Augenblick später stieg er hinter ihr auf, gab dem Pferd die Sporen und ritt von dannen. Die Mädchen kreischten hinter ihr als sie sich immer weiter entfernte. Sie versuchte, sich zu befreien, doch sie war unfähig, sich zu wehren, denn er hielt sie wie in einem Schraubstock gepackt.

„Wie falsch du liegst junges Mädchen“, antwortete er lachend. „Du gehörst mir.“