Buch lesen: «SEX & other DRUGS - Novembertau», Seite 3

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Kapitel 4 - Böse Überraschungen

»Du schaffst das, Jasmin.«

Aufmunternd klopft mir Carmen auf die Schulter. Sie hat sich an diesem Montag extra freigenommen, um mich zu meinem erneuten ersten Arbeitstag zu begleiten. Obwohl »freigenommen« wohl der falsche Ausdruck ist. Sagen wir einfach, dass sie ihre Angestellten angerufen hat und ihnen mitteilte, dass sie heute Morgen nicht kommen würde.

Ich beneide sie für diese Freiheit. Einen adeligen Großvater, der seiner Lieblingsenkelin ein Gestüt, ein Dutzend Pferde und ein kleines Vermögen hinterlässt, hätte ich auch gerne.

Leider waren wir hier nicht in einem kitschigen Sonntagabendfilm, sondern im wahren Leben und das hieß, dass ich mir einen blauen, knielangen Rock anziehen musste, den passenden Blazer und eine weiße Bluse, damit ich mit den unbequemen hochhackigen Schuhen pünktlich um kurz vor neun im Schatten der First Pacific Bank stehen konnte.

»Ein Test«, murmele ich in mich hinein. »Wie bescheuert ist das denn?« Lange genug hatte ich mir Zeit gelassen mit einer Antwort. Ich musste Taten folgen lassen.

»Ein wenig kann ich das Frettchen ja verstehen.« Carmen verzieht das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Immerhin ist mit Amnesie nicht zu spaßen und er kriegt wahrscheinlich Druck von oben, dass die Filiale profitabel läuft.«

Hin und wieder vergesse ich, dass hinter dem Make-up, den langen blonden Haaren und den vielen Designer-Kleidern eine tolle Frau steckt, die mir hilft, die Dinge auch von der anderen Seite zu sehen.

»Du hast recht«, muss ich schließlich zugeben. »Mr. Hedfield macht nur seinen Job.«

Carmen kreuzt die Arme von der Brust und nickt mir aufmunternd zu. »Ganz genau. Du schreibst eine Stunde lang diesen bescheuerten Test, holst dir das Feedback im Büro ab und schneller als du siehst, wirst du wieder Kunden helfen, ihr Haus zu finanzieren.« Irgendwie schafft sie es immer, mich aufzumuntern. Wir umarmen uns. »Deal, Kleines?«

»Deal!«

»Na dann schnapp sie dir!«, sagt Carmen voller Inbrunst, während sie sich ein Taxi ruft. Einer lauter Pfeifton dringt an meine Ohren, wenige Sekunden später quietschen die Reifen eines Autos. Mit einem letzten Handkuss ist sie in das gelbe Cap eingestiegen und ich stehe alleine vor dem Gebäude.

»Na, dann los.«

***

»Miss Ashcroft! Es ist schön, dass Sie hier sind.«

Ich hasse es, wenn er das macht. Miss …

Als wäre ich ein sechszehnjähriges Mädchen und würde Kaffee servieren. Nur leider ist Alan Hedfield von der sehr, sehr alten Schule und redet konsequent alle Frauen, die noch nicht verheiratet sind, mit Miss, anstatt des üblichen Misses an.

Sein kariertes Tweed-Jackett mit passenden Polstern am Ellenbogen sprechen Bände. Wie oft haben wir uns in der Kantine darüber lustig gemacht, wenn er wieder einmal auf vollendete Umgangsformen bestand. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass Hedfield in einer anderen Epoche besser aufgehoben wäre. Zum Beispiel als Duke auf einem Schloss im 18. Jahrhundert. Ich hätte mir ihn hervorragend bei der Jagd oder beim Tee vorstellen können.

»Noch einen Tee, Lord Whaterfront-Saferwood-Hedfield?«

»Vielen Dank, Alfred, nur einen Earl Grey noch.«

»Gedenken Sie heute noch auf die Jagd zu gehen, Sir?«

»Ja, Alfred. Die Wachteln schießen sich nicht von alleine.«

Ich muss ein Schmunzeln unterdrücken, während Hedfield mir tief in die Augen sieht. Verdammt, Jasmin. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt!

»Nun ja, es ist meine Arbeitsstelle«, antworte ich vielleicht ein wenig zu schnippisch. Ihm scheint meine vorlaute Art nicht zu gefallen. Mir ist klar, dass er nur Höflichkeitsfloskeln austauschen wollte, deshalb vollführe ich einen kleinen Knicks, während wir uns die Hände geben und die Welt ist wieder in Ordnung. Ich meine sogar, ein anerkennendes Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben.

Gemeinsam begrüßen wir die übrigen Kollegen, schließlich gehen wir in die Küche. Ich hole mir einen Kaffee, er natürlich einen Tee.

»Nun, ich hoffe, dass Sie sich ein wenig vorbereiten konnten.« Er sieht mich vielsagend an, pustet in die Tasse. »Vorausgesetzt, dass Sie Zeit fanden und nicht zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt waren.«

Fuck!

Natürlich spielt er auf meine und Ryans kleine, private Wiedervereinigungs-Party auf der Toilette in der Bar an. So ziemlich jeder hat gesehen, dass meine Haare nicht mehr ganz so glatt auf den Schultern ruhten. Doch während er mir lediglich freudig zunickte, hatten die anderen wenigstens den Anstand, so zu tun, als ob wir nicht eine viertel Stunde weg waren.

Ich lag drei Monate im Koma verdammt – ich durfte etwas Spaß haben!

Allerdings von ihm hätte ich das nicht gedacht. Zu meiner eigenen Sicherheit lasse ich ihn seine Worte noch einmal wiederholen. »Wie meinen Sie, Sir?«

Er lässt sich Zeit, sieht mich an, während er die Worte abwägt. »Ich meine nur, ich hoffe, Sie sind im Vollbesitz ihrer Kräfte und haben keine … Ausfallerscheinungen mehr.«

Auch wenn ich versuche, ihn zu verstehen, muss ich mich doch anstrengen, dass die Wut nicht Überhand gewinnt. Ich lege mein bestes Lächeln auf.

»Nein, Sir. Keine Probleme mehr. Ich würde nur gerne kurz den Test hinter mich bringen und mich dann wieder meiner Arbeit widmen.«

Hedfield lächelt.

Gott, ich hasse es, wenn er lächelt. Das bedeutet selten etwas Gutes. Besonders, wenn er dabei noch Worte in seinen braun-roten Bart murmelt.

»Kurz hinter sich bringen?« Wieder ein Lachen, dann nippt er gedankenverloren am Tee. »Natürlich.«

»Sir?«

»Verzeihung«, sagt er schließlich, stellt die Tasse ab und deutet mit einer Handbewegung an, dass wir den Raum verlassen sollten. »Wollen wir denn direkt?«

Ich folge ihm in die zweite Etage. Hier oben ist mein Arbeitsplatz, zumindest wenn ich den Flur weiter herabgehen würde. Doch dies scheint nicht unser Ziel zu sein. Hedfield geht auf direktem Weg in den Konferenzraum, wartet, bis ich eingetreten bin, und schließt hinter mir die Tür.

»Lassen Sie sich so lange Zeit, wie Sie benötigen. Ich werde bis zum Ende hier sein.«

Erst jetzt fällt mein Blick auf den Stapel von Papieren vor mir. Ich traue meinen Augen nicht und glaube im nächsten Moment, dass ich in einem Albtraum gelandet bin. Unzählige Fragebögen liegen fein säuberlich aufgereiht vor dem einzigen Stuhl auf dem gläsernen Tisch. Mehrere Kugelschreiber, Bleistifte, Lineale und sogar ein Taschenrechner warten nur darauf, benutzt zu werden. Ich erkenne eine Kanne Kaffee, Flaschen mit Wasser und Orangensaft und belegte Sandwiches.

Ohne Frage, Hedfield hat viel Energie und Mühe in diese Überprüfung gesteckt. Vorsichtig, als könnte das Papier beißen, gehe ich um den Tisch, lasse mich auf dem Stuhl nieder und streiche über den Kugelschreiber.

»Das müssen 1000 Seiten sein.«

»1058, wenn wir genau sind«, antwortet Hedfield gleichmütig und lässt die Hände in die Taschen gleiten. »Keine Angst, ist nur das Standardprotokoll der First Pacific Bank für solche Fälle.«

Meine Stirn zieht in Falten, während ich ihn ansehe. »Solche Fälle?«

»Nun ja, Wiedereinstellungen.«

Das kann nur ein Witz sein. Ein dummer Witz, den die Kollegen sich ausgedacht haben, um mich willkommen zu heißen. Mit jeder weiteren Sekunde, die verstreicht, verringert sich auch meine Hoffnung, dass gleich alle in den Konferenzsaal stürmen.

War doch alles nur ein Scherz!

Das hast du doch nicht wirklich gedacht, oder?

Reingelegt! Schön, dass du wieder da bist

Als ich Hedfield ansehe, weiß ich, dass die Hoffnung vergebens ist. Sein Blick ist fest, keine Milde lese ich in seinen Augen und ganz davon abgesehen, hätte er bei so etwas nie mitgemacht. Wir mussten uns bereits bei Gratulationen und Glückwünschen aus dem Zeitsystem ausloggen. Niemals würde er so etwas während der Arbeitszeit dulden.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagt er noch, die Klinke bereits in der Hand. »Und wie gesagt, ich bin die ganze Zeit hier im Haus. Für Fragen stehe ich Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Fühlen Sie sich aber dadurch nicht genötigt, sich zu beeilen.«

Den Seitenhieb verstehe ich auch ohne sarkastischen Unterton. Ich muss es also bis zum Feierabend beendet haben.

Arsch.

Als die Tür ins Schloss fällt, fühle ich mich unendlich allein. Und verwirrt. Und ein wenig hilflos.

Für wenige Sekunden erlaube ich mir, aus dem Fenster zu sehen. Der November hat die Stadt in seinem eisigen Griff eingeschlossen. Die Sonne hat es sogar tagsüber schwer, durch den bleigrauen Himmel zu dringen. Gerade jetzt schaffen es ein paar Strahlen auf mein Gesicht. Ich schließe die Augen und atme durch.

Fast wünsche ich mir das Koma zurück, die Dunkelheit und die Ruhe. Schon eine Sekunde später erkenne ich, dass ich nicht ganz bei Trost sein muss. Ich sollte dankbar sein für eine zweite Chance. Also schlage ich die Augen auf und fixiere den Stapel vor mir.

Irgendwann muss ich beginnen, wieso nicht jetzt?

***

Die ersten hundert Seiten gehen mir erschreckend einfach von der Hand.

Berechnen Sie das Darlehen mit allen Eventualitäten (Arbeitslosigkeit, Tod, Scheidung) für eine Familie mit zwei Kindern. Die Frau ist selbstständig, verdient circa …

Erklären Sie mit Ihren eigenen Worten einem 12-jährigen Kind das Prinzip einer Tilgungsrate.

Ich zeichne Kurven, erkläre Darlehenspläne, berechne Tilgungsraten bei steigenden Zinssätzen und schreibe auf, wie ich bestimmte Familien beraten würde. Kurzum – Fragen, die ich für meinen Brot-und-Butter-Job einfach benötige. Augenblicklich fühle ich mich sicherer. Der nächste Teil besteht aus Wissensfragen.

Erklären Sie den Aufgabenbereich des Kongresses.

Wie kommt ein Gesetz zustande?

Übertragen Sie dieses Prinzip auf die First Pacific Bank und erklären Sie Ähnlichkeiten in der Befehlsstruktur.

Ein wenig abstrakt, aber in Ordnung. Zumindest ansatzweise kann ich die Fragen auf meine Tätigkeit beziehen. Auch bei den anschließenden Rätselfragen komme ich gut voran. Ich helfe John und Mary aus dem Labyrinth, finde für Tom den richtigen Stromkreis, helfe der kleinen Linda, das kaputte Fenster wieder zusammenzusetzen, und finde heraus, wer Jacks Fahrrad geklaut hat. Dabei ertappe ich mich dabei, wie die Rätsel mir immer mehr Freude bereiten. Mehr und mehr gerate ich in den Sog dieses Tests und bemerke dabei gar nicht, wie die Zeit rennt.

Gerade, als ich den Test beinahe schon sinnvoll finde, muss ich stutzen. Der Kugelschreiber schwebt über der Frage, während ich sie immer und immer wieder lese.

Würden Sie sagen, dass Ihre eigene Emotionalität Ihnen im Weg steht?

Mehrmals lese ich die Worte, bis sie endlich meinen Kopf erreichen. Es ist das letzte Achtel. Was zum Teufel ist das für ein Test? Schließlich erkläre ich in wenigen Sätzen, dass ich mich ungern von meinen Emotionen leiten lasse, da sie weder für den Kunden noch für die First Pacific zum Vorteil gereicht hätten, ich mich stattdessen auf die Fakten konzentriere, um das beste Ergebnis für beide zu erzielen.

Mit einem leichten Anflug von Stolz begutachte ich den bereits abgearbeiteten Stapel. Die letzten Stunden muss ich mich wie eine Wahnsinnige durch das Papier gearbeitet haben. Meine Hand schmerzt und auch mein Rücken knackt gefährlich, als ich mich aufrichte und zum Fenster sehe. Dabei nehme ich mir ein Sandwich und trinke einen Kaffee. Die November im Big Apple sind nie besonders hell, aber gerade kommt es mir so vor, als wollte die Dunkelheit ihr finsteres Tuch über die Stadt werfen und es nie wieder lüften. Es ist bereits 9 PM durch. Die meisten Menschen sind jetzt schon zu Hause, machen sich gerade ihr Abendessen, schalten den Fernseher an oder verbringen noch ein paar Minuten mit ihren Kindern. Selbst in einer Stadt, die niemals schläft, wird sich in wenigen Stunden der Großteil der Menschen bettfertig machen. Ich werde nicht zu ihnen gehören. Zumindest nicht, wenn ich auf das letzte Achtel des Tests gucke.

Als ob sie die Nacht begleiten möchten, rieseln ein paar Schneeflocken vor meinem Fenster herab auf den Boden. Ich stehe auf, beobachte sie für eine längere Zeit. Die übrigen Bürogebäude sind dunkel. Unsere Bank scheint die einzige zu sein, in der noch gearbeitet wird. Obwohl ich mich etwas wehre, diese Leistungsüberprüfung wirklich als Arbeit zu bezeichnen. Als ich den Gedanken formuliere, fällt mir etwas ein. Mr. Hedfield!

Er wird doch nicht etwa?

Schnell schlucke ich den letzten Bissen vom Sandwich herunter, spüle mit mehreren großen Schlucken Wasser nach und mache mich auf den Weg in sein Büro. Um mich herum ist es dunkel. Anscheinend hat niemand meiner Kollegen damit gerechnet, dass ich den ganzen Tag über einsam und allein im Konferenzraum sitzen würde. Nur aus einem weiteren Zimmer fällt ein Lichtkegel auf den blauen Teppich in der zweiten Etage. Das gibt es doch nicht! Er ist tatsächlich noch da.

Zaghaft klopfe ich an die Tür.

»Mr. Hedfield?«

Wie ein Gentleman erhebt er sich, richtet sein Jackett. »Ahh, Miss Ashcroft! Kommen Sie doch herein, haben Sie eine Frage?«

Miss … meine Zähne knirschen, während ich versuche, ein einigermaßen angemessenes Lächeln zu bewahren. »Nein, ich meine ja«, stammle ich. »Dieser Test … woher kommt er und wer hat angeordnet, dass ich ihn machen muss?«

Hedfield leert seinen Tee und sieht mich mit erwartungsvollen Augen an. »Darf ich fragen, warum Sie mir die Frage stellen? Ist er zu schwierig? Wie weit sind Sie denn?«

»Nein, nein, das ist es nicht. Ich bin beim achten und letzten Teil. Die anderen Fragen konnte ich eigentlich sehr gut beantworten.«

»Na, das ist doch großartig!« Seine Freude scheint nicht gespielt. Er bietet mir dabei einen Platz an, den ich mit einem weiteren schmalen Lächeln ablehne.

Trotzdem trete ich näher, knete dabei nervös meine Finger. »Einige Fragen kommen mir etwas seltsam vor.«

Hedfield nickt, gießt sich dampfenden Tee in die Tasse. »Seltsam?«

»Beinahe wie eine Hilfe zur psychologischen Profilerstellung. Einige der Fragen sind … sehr privat.«

»Da fragen Sie leider den Falschen«, gibt Hedfield zu und hebt dabei entschuldigend die Arme, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. »Ich habe den Test nur weitergeleitet. Eine Standardprozedur für Mitarbeiter, die etwas länger ausfallen. Falls Sie aber dazu Fragen haben, leite ich Ihr Anliegen gerne an die Personalabteilung in Manhattan weiter.« Er greift zum Telefon. »Vielleicht könnten wir sogar direkt einen Termin …«

»Nein, danke.« Beinahe hätte ich selbst die Hörertaste seines Telefons gedrückt. Damit hat er mich überrumpelt. Ich sollte schon dankbar sein, dass die Firma mir überhaupt die Chance gibt und mich hier weiter arbeiten lässt. Gerade jetzt, wo ich einen krankenversicherten Job am dringendsten benötige.

»Es war nur rein interessehalber«, sage ich leise, zucke mit den Schultern und gehe in Richtung der Tür. »Weil es doch ein recht großer Test war, da wollte ich einfach mal nachfragen.«

»Verständlich«, antwortet Hedfield und pustet in seine Tasse. »Lassen Sie sich Zeit, Miss Ashcroft.«

»Sie müssten aber nicht die ganze Zeit …«

»Oh doch, das muss ich«, flüstert er und ist im nächsten Moment wieder in seine Unterlagen vertieft.

Wenige Schritte weiter muss ich erst einmal tief durchatmen. Das war bestimmt kein guter Auftritt, um sich seinen Job zu sichern.

Ich war lange genug für Ryan eine Belastung. Erschrocken beschleunige ich meinen Schritt, greife im Konferenzsaal zu meiner Tasche und sehe auf das Display. Vier Anrufe in Abwesenheit, sieben Nachrichten und zwei Voicemails. Die meisten sind von ihm, aber auch zwei Messages von Carmen sind dabei. Schnell wähle ich seine Nummer.

»Ich dachte, du meldest dich gar nicht.«

Gut, ich erreiche ihn. Er klingt nicht wütend.

»Sorry«, hauche ich und lasse mich auf den Stuhl fallen, auf dem ich bereits die letzten Stunden verbracht habe. »Ich muss so einen blöden Test schreiben und hänge mit dem Frettchen hier immer noch herum.«

Ryan knurrt zustimmend. »So etwas hat er ja schon angekündigt. Auf deinen Büroanschluss geht auch nur die Mailbox dran. Wie läuft es?«

»Ganz gut, es wird aber noch ein wenig dauern.«

Auf der anderen Seite der Leitung höre ich einen Stift über ein Blatt Papier jagen. Anscheinend schreibt er sich etwas auf. »Alles klar, dein Lieblingsessen steht im Backofen.«

Ich muss lächeln. Manchmal frage ich mich echt, warum ich so einen Typen verdient habe. Ich lege meinen Kopf auf der Tischplatte ab und seufze ins Telefon. »Danke, Darling. Warte nicht auf mich. Ich komme, so schnell ich kann.«

»Dann noch viel Glück und nicht schummeln, Miss Ashcroft.«

Ich muss kurz auflachen. »Spinner. Das »Miss« habe ich heute schon genug gehört, bald heißt es endlich Misses. Bis später.«

»Bye, Misses Darling.«

Ich setze mich wieder an den Test. Eigentlich sollte ich erschöpft sein, meine Glieder sollten schmerzen und mein Kopf müsste schwirren. Doch nichts dergleichen ist der Fall. Ich fühle mich sogar ein wenig aufgekratzt. Beinahe schon fokussiert. Nur noch die paar Seiten und dann ab nach Hause.

Wieder fällt mein Blick auf den letzten, kleineren Stapel. Gut, ich habe bereits damit gerechnet, dass einige Fragen zu meiner geistigen Verfassung aufkommen werden. Aber so etwas …

Wenn Sie eine impulsive Entscheidung treffen, fühlen Sie sich schlecht?

Ich reibe über meine Augen, richte mir die Haare und drücke mein Kreuz durch. Mit einem lauten Stöhnen überfliege ich die nächsten Seiten.

Haben Sie schon einmal jemanden absichtlich verletzt?

Wie haben Sie sich dabei gefühlt?

Würden Sie sich als gewalttätigen Menschen beschreiben?

Nicht, dass ich es wüsste, aber wenn noch mehr solche Fragen kommen, würde ich dem Ersteller des Tests die Blätter am liebsten um die Ohren hauen. Einzeln.

Wie ich mich dabei fühlen würde? Großartig.

Nein, ich bin kein gewalttätiger Mensch, aber Dinge können sich auch ändern.

Zu gerne hätte ich die Fragen auf diese Weise beantwortet, entscheide mich dann aber für eine diplomatische Lösung und schreibe, was die Personalabteilung meiner Meinung nach hören will.

Zwei weitere Stunden später habe ich unzählige Fragen über meinen Gefühlszustand, Verhalten bei Banküberfällen und Sicherheitsprotokolle, Emotionen und Gedankenspielen komplett abgearbeitet und werfe den dritten leer geschriebenen Kugelschreiber in die Ecke. Mittlerweile spüre ich die Erschöpfung in jeder Faser meines Körpers, als ich meine Sachen zusammenpacke, mich bei Hedfield abmelde und ihm den Test gebe. Er bedankt sich mit Handschlag und einer angedeuteten Verbeugung und verspricht, auch bald die Filiale zu verlassen, sobald er »ein paar wichtige Briefe handschriftlich beantwortet hat«.

Betonung auf handschriftlich. Was auch sonst. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich die letzte Briefmarke gekauft habe.

Wie an so vieles.

Gleichgültig. Für heute reicht es. Ich muss hier raus.

Kapitel 5 - Die andere Seite

Die kühle New Yorker Nachtluft fegt die Gedanken hinfort, als ich auf die Straße trete und durchatme. Manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, über die man glücklich sein sollte. Zum Beispiel, wenn nach etlichen Stunden im Büro die Frischluft das erhitzte Gemüt ein wenig herabkühlt.

Ich genieße sogar die wenigen Schneeflocken auf meinem Gesicht, schlage den Kragen meines Mantels um und wickle den Schal um meinen Hals.

Was für ein Tag.

Zu meinem Wagen sind es circa 500 Meter. Ich wollte Parkgebühren an der Main Street sparen. Was tut man nicht alles, um ein paar Dollar mehr in der Geldbörse zu haben. Normalerweise verfluche ich die Strecke. Heute bin ich mehr als froh, dass ich sie alleine gehen kann, um den Kopf frei zu kriegen. Auf der menschenleeren Straße hallt das Klacken meiner Schuhe in den Häuserschluchten weit voraus. Niemand ist hier mehr zugegen. An einem kühlen Montagabend wie diesem sind die Menschen froh, wenn sie zu Hause mit ihren Liebsten sitzen können. Da sollte ich auch sein.

Und doch gibt es etwas, was meinen Schritt verlangsamen lässt. Nur eine Ahnung, ein vager Verdacht, mehr ein Gedanke, der in meinem Unterbewusstsein reift und langsam die Oberhand gewinnt. Ich fühle mich unwohl und gleichzeitig bin ich ganz ruhig.

Das muss der Stress des ersten Tages sein, versuche ich, mir einzureden, und gehe weiter über den Boulevard, bis ich in eine Gasse einbiege, um schließlich den großen, schlecht beleuchteten Parkplatz zu erreichen. Mein Beetle ist das einzige Fahrzeug, das noch hier steht. Nur wenige Lampen werfen ihr gelbliches Licht auf den feuchten Asphalt. Ich lasse mir Zeit, beobachte die Schneeflocken. Eigentlich ist es noch zu warm für sie. Sie verschwinden, sobald der Asphalt ihnen zu nahe kommt. Wenn sie den Boden berühren, ist es, als ob sie eine andere Welt betreten.

Wieder überkommt mich das Gefühl des Unwohlseins wie eine Krankheit, der ich nicht habhaft werden kann. Gerade als ich den Knopf der Fernbedienung betätigen will, erkenne ich etwas im Fenster meines Autos. Nur eine Silhouette, etwas, das dort nicht sein sollte.

Augenblicklich fängt mein Herz an, wie wild zu pochen. Kalter Schweiß bedeckt meinen Nacken und der Magen beginnt zu krampfen. In einer Bewegung drehe ich mich um und halte die Tasche wie einen Schutzschild vor mich.

30, vielleicht 35 Meter vor mir steht ein Typ an der Wand gelehnt. Er sieht mir direkt ins Gesicht.

Ruhig, abwartend, beobachtend.

Mir fallen sofort seine platinblonden Haare auf. Sie stechen aus der Dunkelheit hervor wie der Mond in einer sternenklaren Nacht. Er trägt einen weiten Mantel, der fast bis zum Boden reicht, ausgewaschene Jeans, schwere Schuhe, dazu aber lediglich ein weißes Shirt. Bei dem Anblick gefriert das Blut in meinen Adern.

Was zum Teufel will dieser Idiot?

Beginnen auf diese Weise nicht Horrorfilme oder Psychostreifen? Das richtige Vergewaltiger-Outfit hätte er dazu. Glücklicherweise macht der schräge Typ keine Anstalten, um sich zu nähern. Er steht einfach nur da, beobachtet mich und raucht seine Zigarette. Mir läuft es kalt den Rücken herunter.

Für ihn muss ich aussehen wie ein verängstigtes Reh im Scheinwerferlicht. Noch immer habe ich meine Handtasche vor die Brust gedrückt. Es dauert, bis ich mich aus meiner Stasis lösen kann und langsam umdrehe. Meine Hände sind so zittrig und mit einem dünnen Schweißfilm überzogen, dass der Schlüssel mir aus der Hand gleitet.

Verdammt! Das hat mir noch gefehlt. Ich scheine der Prototyp eines naiven, tollpatschigen Mädchens in einem Horrorstreifen zu sein. Fehlen nur noch das Cheerleader-Outfit und später die Flucht in einen dunklen Wald, wo ich so lange stolpere, bis der Typ mich in die Finger bekommt.

Als ich mich bücke und den Schlüssel aufhebe, vergewissere ich mich, dass der Freak immer noch an seinem Platz ist. Für eine Sekunde bin ich erleichtert, dass er immer noch da steht. Dann drehe ich mich um und weiß mit einem Herzschlag, dass ich wirklich die dumme Cheerleaderin bin.

»Na du, kann man dir helfen?«

Mein Herz setzt aus. Drei Typen und eine Frau haben sich an mich herangeschlichen. Kein Johlen, keine Schreie, keine lauten Geräusche. Während ihr Freund mich mit seiner puren Anwesenheit ablenkte, haben sie es zwischen mich und mein Auto geschafft. Nicht schwer zu erraten, dass dies ein abgekartetes Spiel ist und ich der große Verlierer sein werde.

»Der Mann hat dir eine Frage gestellt!«, grollt die Frau und tritt noch näher.

Sie umzingeln mich. Mir wird schwindelig, ich weiß nicht, was ich tun soll. Die drei Männer sind um einiges größer als ich, sogar die Frau sieht kräftiger aus. Sie sind schwarz angezogen, tragen Kapuzenpullis, zwei sind weiß, einer ist schwarz. Keine Menschen, die man für Mörder halten würde. Da eine Frau dabei ist, hoffe ich, dass es wirklich nur um den Diebstahl geht und ich ansonsten davonkomme.

Das Mädchen ist nicht älter als 30. Schwarze Haare, ausgefranste Hose, hübsches, etwas markantes Gesicht. Unter anderen Umständen könnte sie ein Model sein. Doch das Leben meinte es anders mit ihr. Trotzdem habe ich die Hoffnung, dass sie einfach nur Cash wollen. Mit zittriger Stimme wende ich mich an sie: »Ich habe nicht viel Geld dabei …« Der Ton stirbt kläglich. Ich versuche, mir einzureden, dass das alles hier ganz schnell vorbei sein kann, wenn ich alles richtig mache. »… aber im Portemonnaie sind zwei Kreditkarten und in der Tasche noch ein Handy.«

»So habe ich das gern.« Die Frau reißt sie mir aus der Hand, ihr kühler Blick frisst sich in mich hinein. Mein letzter Schutzschild wurde mir auch noch genommen. Die Fremde weiß, dass sie die Macht hat. Wir könnten noch stundenlang hier herumstehen und sie wäre immer noch am längeren Hebel. Sollte ich schreien? Um Hilfe rufen?

Meine Überlegungen sterben sofort, als zwei der Männer Messer ziehen und ich im Hosenbund des Schwarzen eine Pistole entdecke. Das kalte Metall glänzt im fahlen Licht der wenigen Lampen. Nicht der erste Überfall dieser Gruppe, schießt es mir durch den Kopf.

»Das Auto«, knurrt der größere von den beiden Männern mit dem Messer und macht mit einer kurzen Bewegung klar, dass er den Schlüssel haben will. Ich bin den Tränen nahe, pure Verzweiflung macht sich in mir breit. Sie sollen gehen, einfach verschwinden und mich in Ruhe lassen. Jegliche Kraft scheint mir aus dem Körper gezogen, als ich dem Mann meinen Schlüssel reiche.

Der Frau geht es offensichtlich zu langsam. Gerade als er den Schlüsselbund greifen will, packt sie ihn mit einer schnellen Bewegung.

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Bitch!« Sie betätigt die Fernbedienung meines Beetle, der daraufhin mit einem kurzen Laut die Türen öffnet. »Schick«, sagt sie ruhig, öffnet die Tür und setzt sich hinein. »Deiner?«

Ich nickte und spüre dabei, wie eine Träne meine Wange herabläuft.

»Jetzt nicht mehr.«

Wieder nicke ich.

Die Frau spielt an den Armaturen, stellt den Sitz neu ein und schmeißt meine Tasche auf den Beifahrersitz. »Diese neuen Autos haben GPS-Ortung, Diebstahlsicherung und so einen Mist. Wir sollten damit schnell in die Werkstatt fahren.«

Meine Hoffnung wächst, dass dieser Albtraum gleich vorüber sein wird. Sie würden mit meinem Auto und meiner Tasche einfach wegfahren, mit etwas Glück könnte ich die nächste Tankstelle erreichen, heulend die Cops rufen und mit ein paar Stunden beim Psychodoc irgendwann ein einigermaßen normales Leben führen können. Innerlich bete ich zu jedem, der mich gerade anhören will, dass es gleich vorbei ist.

Doch anscheinend hört mich niemand.

»Können wir mit ihr noch ein wenig Spaß haben?«

Die Frau hat meine Tasche auf ihren Schoß gelegt und wühlt sich interessiert durch meine Sachen. »Geht hinten in die verlassene Fabrik und beeilt euch.« Sie blickt bei diesen Worten nicht einmal auf, schließt die Tür und startet die die Musikanlage. Die ersten Zeilen von Coldplays neuer CD wummern mir an die Ohren.

Das war mein Auto, meine Disc und meine Tasche, die dieses Miststück gerade durchsucht! Ich wünsche ihr die Pest an den Hals und zeitgleich nichts anderes, als dass sie Gnade walten lässt.

Zwei der Männer packen mich an den Handgelenken. Ich muss unter Schock stehen, so wenig, wie ich mich bewege. Eine innere Stimme schreit mich an, dass ich mich irgendwie wehren soll. Schrei, tritt um dich, stell dich tot, mach nur irgendwas, damit das nicht passiert. Doch ich schaffe es nicht einmal, aufrecht zu gehen. Als hätte ich mich der Situation ergeben. Hass auf mich selbst zündet in mir. Sie müssen mich fast schon über den Boden des Parkplatzes schleifen, um uns vom Auto zu entfernen.

»Bitte …« In meiner Verzweiflung sehe ich mich um. Kein offenes Fenster, kein Wohngebäude in der Nähe, nicht mal eine Kamera, die das Schlimmste aufzeichnen könnte. Und das alles für ein paar Dollar, die ich sparen wollte. Auch der Typ mit der Zigarette ist verschwunden.

Wartet er bereits in der Fabrik auf uns?

Ich kann nicht mehr klar denken, als am Rand des Parkplatzes eine Hand grob über meine Bluse streicht und meine Brust quetscht.

»Das gefällt dir doch, oder?«

Ich glaube, es gibt keinen ekelhafteren Satz als diesen. Die Stimme des Mannes fährt mir durch Mark und Bein. »Bitte, Sie haben doch, was Sie wollten …« Ich schluchze, bin nicht mehr Herr meiner Sinne. »… lassen Sie mich einfach.«

Sie lachen. Sie lachen über mich – verhöhnen meinen gebrochenen Versuch, das Schlimmste doch noch abzuwenden.

»Eben das haben wir nicht.« Seine Stimme ist wie eine einzige Drohung, dabei fahren die rauen Finger tiefer.

Sehr tief.

Zu tief.

Plötzlich scheint die Zeit langsamer zu laufen. Mein Herzschlag erhöht sich um ein Vielfaches. Ich spüre, wie das Blut in Rekordtempo durch meine Adern gepumpt wird. Alle meine Sinne arbeiten auf Hochtouren.

Und ich werde ruhig … sehr ruhig.

Ich höre, wie der Schwarze hinter mir schnauft und seine beiden Freunde ebenfalls.

Ich spüre, dass der Druck an meinen Handgelenken langsam abnimmt. Sie sind sich sicher, dass sie ihre Beute in der Falle haben.

Ich sehe, wie sie mich mit ihren Blicken ausziehen. Sie werden unvorsichtig.

Noch ein letztes Mal ziehe ich Luft in meine Lungen. Dann beginnt es. Schnell drehe ich meinen rechten Arm und ziehe gleichzeitig den linken zu mir. Ihr Griff ist nun gelöst. Ich beuge mich nach vorne, lasse mit voller Wucht meinen Hinterkopf nach hinten schnellen. Dem Schwarzen hinter mir breche ich die Nase an drei Stellen. Ich höre, wie die Knochen wenige Zoll von meinem Kopf entfernt knacken. Das Überraschungsmoment ist auf meiner Seite. Je nach Typ und Verfassung kann die Reaktionsfähigkeit eines Menschen auf sagenhafte 0,4 Sekunden gedrückt werden. Diese Typen sind lange nicht an dieser Schwelle.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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