Ferien, die bleiben

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Kapitel 6

Kaum war Mom aus dem Auto gestiegen, hörte ich ihr loses Mundwerk.

»Das hier soll das Restaurant sein?« Sie zupfte an ihrem Kleid und rückte es zurecht. »Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber …«

Mom schaute sich um. Der Ausblick war atemberaubend. Das kleine, aber feine Restaurant lag am Rande einer Bucht mit direktem Meerblick. Eine Menge Luxusyachten gab es an der Bootsanlegestelle. Leicht bekleidete Bootsbesitzer tummelten sich auf ihren Yachten und genossen die warmen Sonnenstrahlen. Ich atmete tief ein. Es duftete nach Seeluft, Strand, Sonnencreme und einem Hauch von Abenteuer.

»Erhardt, ich glaube nicht, dass dieses Restaurant unserer Preisklasse entspricht. Ich würde vorschlagen, dass wir uns woanders nach einem Lokal umschauen.« So zerstörte Mom den schönen Augenblick.

»Anna Maria, um das Finanzielle brauchst du dir keine Sorgen zu machen, wir laden euch zum Essen ein«, sagte Max.

»Also mir gefällt es hier«, gab ich meinen Senf dazu und schaute mich um. Meine Haare wehten dabei im lauwarmen Wind.

»Wenn das so ist, bitte. Ihr müsst es ja wissen«, gab sich Mom geschlagen.

Anstatt sich über die Einladung zu freuen, fühlte sie sich überrumpelt, weil es nicht am mangelnden Geld lag. Natürlich konnten wir uns das finanziell leisten. Aber Mom und Dad waren zu geizig, um in solch teuren Restaurants zu speisen, weil man auch für kleines Geld sattwerden konnte. Vielleicht war es auch ganz gut, dass sie so sparsam waren und lieber in mich investierten. Flanierend liefen wir von den parkenden Autos, vorbei an den Yachten, dorthin, wo sich der Eingang des Restaurants befand. Die Bucht war atemberaubend schön. Eine Yacht war größer als die andere und ihre Bootsbesitzer waren besonders freundlich. Soll ich den Grund für die überschwängliche Freundlichkeit der Einheimischen verraten? Weil Mom schon wieder maßlos übertreiben musste, denn sie begrüßte lauthals jeden, den sie sah.

»Buongiorno. Wir kommen aus Deutschland und machen hier Urlaub.«

Ich war echt von ihr genervt. Als wenn das hier irgendjemanden interessieren würde, wo wir herkamen. Und wenn es nicht schon schlimm genug wäre, näherte sich Mom einer der Yachten.

»Guten Morgen. Wir kommen aus Deutschland. Ich muss sagen, dass Sie echt zu beneiden sind. Diese Natur und der Ausblick!«

War das peinlich. Dad spielte die Rolle des aufgeschlossenen Ehemannes freiwillig mit.

»Mom, sie verstehen dich nicht. Sie sprechen kein Deutsch. Bitte hör auf damit. Das ist peinlich«, ermahnte ich sie, weil es kein anderer tat. War ich tatsächlich die einzige Person hier, der es unangenehm war, so wie Mom sich verhielt?

»Ach was, sie winken uns doch alle zurück«, lächelte Mom abermals mit lockerem Handgelenk den anderen zu. »Ja, weil du damit angefangen hast und die anderen nur höflicherweise zurückwinken«, klärte ich sie auf und versuchte, sie gleichermaßen davon abzubringen. »Wir sind in Italien, und die meisten von ihnen sprechen nun mal italienisch und kein Deutsch.« Doch es hatte keine Wirkung.

»Hallo«, rief sie schon wieder mit übertriebener hoher Stimme den Menschen zu.

Es war mir so unangenehm. Wäre ich ein Straußenvogel, hätte ich meinen Kopf in die Erde gerammt, was ziemlich schmerzhaft gewesen wäre. Denn da, wo ich gerade stand, gab es keinen lockeren Sandboden, sondern nur Asphalt. Oder besser gleich im Erdboden versinken, wenn das möglich wäre. Dann wäre ich für alle unsichtbar.

Mom war voll in ihrem Element. Von Dad untergehakt, flanierte sie die Promenade entlang, so, als wäre sie eine von ihnen: Reich, schön und berühmt. Ich für mein Teil, legte einen Zahn zu und lief mit kurzen schnellen Schritten ein Stück voraus. Dicht gefolgt von Max und Tante Monique, wartete ich dann mit ihnen unmittelbar von dem geplanten Ziel.

»Guten Tag die Herrschaften, auch schon da.« Mit einer übertriebenen tiefen Verbeugung hieß ich den Herrn König Vater und die Frau Königin Mutter herzlich willkommen.

»Baby, das muss man genießen. So etwas hat man halt nicht alle Tage. Und diese Freundlichkeit der Italiener ist einfach herzergreifend.« Mom hörte mit dem Schwärmen nicht auf. Ich für meinen Teil würde es Belästigung nennen, so wie sie sich verhielt und sich jedem Menschen aufdrängte, den sie sah. Doch ich vermied es, meine Gedanken laut auszusprechen, es hätte eh nur Ärger gegeben.

»Villa spiaggia di sabbia Napoli«, las Dad mit tiefer Stimme den Namen des Restaurants vor.

»Ich würde vorschlagen wir suchen uns gleich hier einen Tisch auf der Terrasse«, äußerte Mom sich. »Diese Aussicht ist fabelhaft.« Und wieder war es kein Vorschlag, sondern es klang wie ein Befehl unserer Dienstherrin. Für Mom war es bereits beschlossene Sache, dass wir draußen sitzen würden.

Abermals winkte Mom den Bootsbesitzern zu, wie eine Königin ihren Untertanen, bevor sie sich setzte. Es sollten nun alle mitbekommen, dass wir in einem Nobelrestaurant speisen würden. Irgendwie war es auch lustig, wie Mom sich plötzlich verändert hatte. Ihre ganze Körperhaltung, der aufrechte Gang, diese hochgetragene Nase und die Wortwahl. Ihr ganzes Verhalten war überhaupt nicht typisch für sie. Wie sie darauf gewartet hatte, dass Dad ihr den Stuhl zum Setzen vorbereitete, sonst war ihr das auch egal. Im Normalfall hätte sie sich ganz einfach hingesetzt und nicht, wie vorhin, Dad mit ihren Blicken fast getötet, bis er endlich begriffen hatte, was sie von ihm wollte. Das war schon lustig anzusehen. Ich musste innerlich schmunzeln. Dass sie sich mit fremden Federn schmückte, sie dieses Lokal eigentlich abgelehnt hatte, war ihr wohl entfallen. Ihr gefiel es offensichtlich, eine reiche, gut- betuchte Dame zu spielen. Und wie aufs Stichwort kam auch schon der nächste Untergebene angetrabt: die Bedienung des Lokals.

»Hallo«, erwiderte Mom mit einem verunsicherten Lächeln auf die Begrüßung des Kellners. Ich war erstaunt. Mehr als ein gewöhnliches »Hallo«, hatte die Dame von Welt nicht zu sagen? Das war alles? Plötzlich schaute Mom nicht mehr so selbstbewusst in die Runde. War aber sichtlich erleichtert, als Max dankend die Speisekarten entgegen-genommen und für uns die erste Runde Kaltgetränke auf Italienisch bestellt hatte.

»Danke«, sagte Mom. Nun hatte sie wieder ein erhabenes Lächeln auf den Lippen, als hätte sie die Bestellung der Getränke für uns aufgegeben. Mal abgesehen davon, dass sie keine Fremdsprachen konnte, fand ich es erstaunlich, dass Max so perfekt Italienisch sprach. Das hätte ich ihm nicht zugetraut.

»Dann wollen wir doch mal sehen, was es hier so gibt.« Mom schlug die Speisekarte auf und kommentierte diese mit den Worten »Hm, okay« oder auch »Ach so, das klingt ja alles interessant.«

Die Speisekarte, die Mom in ihren Händen hielt, war genau die, die auch wir vor uns zu liegen hatten. Und diese war auf Italienisch geschrieben. Da frag ich mich doch tatsächlich, was hatte Mom die ganze Zeit gelesen? Ich beobachtete das Geschehen am Tisch und blickte mit zusammengekniffenen Augen über meine Speisekarte, die ich vor mir hielt. Dad knurrte.

»Leider kann ich mit dieser Speisekarte nicht allzu viel anfangen«, meldete er sich ehrlicherweise zu Wort.

Mom hingegen schwieg und vergrub sich noch tiefer in der Speisekarte. Tante Monique half Dad beim Übersetzen. Mom lauschte mit gespitzten Ohren. Sie war sich anscheinend zu fein dazu, um nachzufragen, welche Gerichte es gab und sich wie Dad beim Übersetzen der Speisekarte helfen zu lassen. Für sie waren es nur unverständliche, zufällig aneinandergereihten Buchstaben auf dieser Karte. Letztendlich wählte sie das gleiche Gericht, welches auch Dad nahm. Ich für mein Teil kam sehr gut allein zurecht. Es vergingen keine fünf Minuten, da wurden uns die Getränke gebracht. Max nutzte die Gelegenheit und erkundigte sich nach der Anwesenheit des Inhabers, nachdem er für uns alle die Bestellung aufgegeben hatte, der dann kurz darauf zu uns an den Tisch kam.

»Max, was für eine Überraschung und große Freude, dich hier zu sehen. Und noch in so einer entzückenden Gesellschaft.«

Beide fielen sich in die Arme und begrüßten sich, wie es nur Freunde tun würden. Und dann zeigte Max auf uns.

»Darf ich vorstellen. Das sind meine Frau Monique, meine Schwägerin Anna Maria, nebst Schwager Erhardt und meiner Nichte Denise.«

»Bene, bene!«, sagte der Mann überschwänglich und machte eine umfangreiche Geste, »Herzlich willkommen in meinem bescheidenen Restaurant. Mein Name ist Renato und ich möchte euch herzlich willkommen heißen. So wie ich sehen kann, haben Sie einen guten Platz mit tollem Ausblick gefunden. Und dazu noch so ein tolles Wetter. Ich freue mich, euch hier begrüßen zu dürfen.« Der Bootshafen lag uns direkt zu Füßen. Die Sonne spiegelte sich in den kleinen Wellen der Bucht. Und damit hatte der Mann Recht: Der Ausblick war toll. Und sein Deutsch war erstaunlich gut. Wie konnte das sein?, fragte ich mich.

»Wie ich sehen kann, habt ihr bereits eure Getränke gewählt und sicherlich auch Eure Speisen aufgegeben?«

»Ja, das haben wir. Alles in bester Ordnung mein Freund«, sagte Max, klopfte Renato freundlich auf die Schulter und setzte sich wieder zu uns.

»Sehr schön.« Renato blickte sich um. »So, wie ich hören kann, werden eure Speisen bereits gebracht.«

Renato hatte Recht. Ein Kellner und eine Kellnerin brachten unsere Speisen. Er hatte verdammt gute Ohren oder ein ausgezeichnetes Gespür für das Wesentliche.

»Ich wünsche euch einen guten Appetit und wir sehen uns bestimmt nachher noch einmal wieder.«

Max rückte weiter an den Tisch heran. Wir bedankten uns bei Renato für die nette Gastfreundlichkeit und blickten mit hungrigen Mägen auf die reichlich gefüllten Platten, die nach und nach unseren Tisch ausfüllten.

 

Die Tafel war reichhaltig gedeckt. Eine Vielzahl von Düften stieg uns in die Nase. Tee, Kaffee und frisch aufgeschnittenes Obst beflügelten unsere Sinne. Und wer vorhin noch keinen Hunger hatte, der hatte ihn spätestens jetzt. Vor uns lag eine deftige Mahlzeit. Verschiedene Brötchen, Croissants, Salami, Schinken, Ei, Quark, Frischkäse, Oliven, Tomaten mit Mozzarella, Obst und noch einiges mehr. Der Tisch war zum Bersten voll und für jeden Geschmack war etwas dabei. Seeluft machte hungrig und so ließen wir uns ausgiebig Zeit, um zu speisen.

»Woher kennt ihr euch?«, fragte Tante Monique nach.

»Ja ...« Max leerte sein Mund, bevor er weiterredete, »Entschuldigt bitte, mit vollem Mund redet man nicht.« Er hielt seinen Handrücken vor den Mund und schluckte die letzten Krümel herunter. »Ja tatsächlich. Lass mich kurz überlegen. Ich glaube vor acht oder neun Jahren habe ich ihn kennen gelernt. Und wenn ich in Neapel bin, sehen wir uns. Renato kommt übrigens tatsächlich aus Deutschland. Er ist nach Italien ausgewandert.«

»Echt? Ich habe mich schon gewundert, warum er so gut Deutsch spricht«, sagte ich mit vollem Mund und wurde prompt für meine Neugier bestraft. Es war ein Krümel eines Croissants, welches mir kurzzeitig die Luft zum Atmen nahm. Dad schlug mir sanft auf den Rücken. Es dauerte einen Moment, bis der Hustenreiz nachließ.

»So viel zu dem Thema ...«, räuspert ich abermals, »nicht mit vollem Mund zu reden«, sprach ich mit krächzender Stimme den Satz zu Ende. Ich hüstelte noch ein oder zwei Mal, dann war alles wieder gut. Unbeschwert konnte ich in aller Ruhe weiteressen. Das Reden überließ ich ab jetzt den anderen.

»Vorrei pagare per favore«, rief Max dem Kellner zu, was im übersetzten Sinne, ich möchte zahlen, bedeutete, als wir alle kundgaben, dass nicht mehr das geringste Krümelchen in unsere Mägen hineinpasste. Auf Deutsch, wir waren allesamt vollgefressen. Überraschenderweise brachte uns nicht der Kellner die Rechnung, sondern der Chef. Renato kam persönlich.

»Caro mio! Ich hoffe, ihr wart mit dem Essen zufrieden?«, fragte Renato und Mom musste sofort das Wort ergreifen.

»Sehr zufrieden. Noch einen Happen mehr und ich würde platzen. Es war ausgezeichnet. Mille Grazie.«

»Mom, ich glaube, es heißt ›Grazie mille‹«, sagte ich mit einem Augenrollen.

»So oder so. Es ist nicht schlimm. Ich weiß, was sie meinen. Es ist okay.« Renato lächelte und dann kam eine großgewachsene, schlanke Dame geradewegs auf unseren Tisch zu.

»Darf ich euch meine Gemahlin vorstellen?«, sagte er und fasste seine Frau um ihre schmale Taille.

Max erhob sich und begrüßte sie mit drei Küsschen auf die Wangen.

»Das ist meine Frau Marie. Damals, als wir uns kennen gelernt haben, war sie die schönste Frau ganz Italiens.« Sein Lächeln war ansteckend.

»Renato, ich bitte dich. Sie ist immer noch die Schönste von ganz Italien.« Diesmal war es Max, der sie um ihre Taille fasste. »Marie darf ich vorstellen, das ist meine Frau Monique.«

Im Gegensatz zu Renato, der uns mit lieb gemeinten Worten und Gesten begrüßt hatte, reichte Marie jedem von uns persönlich die Hand. Eine Vielzahl Sommersprossen schmückten ihre langen Finger. Außerdem waren ihre Fingernägel perfekt manikürt.

»Hallo Monique, ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Ich hoffe, nur Gutes?«, fragte Tante Monique und schaute Max vorwurfsvoll an.

»Natürlich, nur das Beste. Sie sind zum ersten Mal in Neapel?«

»Ja, leider hatte ich bis jetzt nie die Gelegenheit, Max nach Italien zu begleiten«.

»Das freut mich, dass Sie jetzt die Zeit gefunden haben.«

Max fuhr mit der Vorstellung fort: »Das sind Moniques Schwester Anna Maria, ihr Mann Erhardt und ihre Tochter Denise.«

»Wir waren schon dreimal in Italien, aber jetzt zum ersten Mal in Neapel«, musste Mom loswerden, als sie Maries Hand freundlich schüttelte.

»Schön, Euch alle kennen zu lernen. Das Essen war gut?«

»Ausgezeichnet, wie immer, Marie«, bedankte sich Max.

Nach und nach setzten wir uns.

»So, Ihr Lieben. Ich habe gehört, dass Ihr zahlen wollt. Geht alles zusammen?«, fragte Renato.

»Ja, ich übernehme die Rechnung«, antwortete Max.

Renato zückte einen Taschenrechner aus der Hemdtasche.

»Dazu brauche ich meinen Kalkulator«, lächelte Renato uns freundlich zu.

Es war schon lustig anzusehen, als wäre es ein Riesengeheimnis. Er tippte Zahlen in seinem Taschenrechner und hielt das Ergebnis Max vor der Nase. Max reichte ihm das Geld. Renato zählte nach.

»Vielen Dank. So viel Trinkgeld wäre nicht nötig gewesen.«

Er steckte das Geld in seine Hosentasche. Max winkte mit einer lässigen Handbewegung ab.

Ich hörte, wie Mom und Dad tuschelten. »Wörter wie Rechnungen, Steuern und Finanzamt kennen die wohl hier nicht.«

»Für meine lieben Gäste noch eine Runde Limoncello?«

»Für mich bitte nicht, ich muss noch Auto fahren«, lehnte Dad dankend ab.

Renato zeigte auf Max, der dem zustimmte.

»Einen.«

Monique und Mom hoben die Hand.

»Zwei, drei«, zählte Renato und sah mich dann an.

»Und die junge Dame auch?«

»Die junge Dame nicht«, entschied Mom für mich, ohne mich zu fragen. »Eigentlich nur zwei. Die beiden Männer müssen noch Auto fahren.«

»Renato, bring uns bitte drei«, widersprach Max meiner Mom.

»Drei Limoncello, wird sofort erledigt.«

Ich hatte das Gefühl, dass wir etwas Besonderes waren. Die anderen Gäste, die, wie wir das tolle Ambiente genossen, wurden nicht vom Chef bedient. Während Renato den Digestif holte, blieb Marie bei uns und unterhielt uns mit ihrer charmanten Art. Es dauerte nicht lange und Renato kam mit einem Tablett zurück.

»So, meine Lieben.« Renato schmunzelte. »Einen für dich, Max, einmal für Monique. Und einmal für dich Maria.«

»Anna Maria«, verbesserte Mom ihn.

»Natürlich, für Anna Maria, und einen halben für das bezaubernde Fräulein.«

Ich schaute verdutzt und wartete Moms Reaktion ab.

»Eigentlich sollte das bezaubernde Fräulein keinen bekommen.«

»Bitte, er hat nicht viel Promille. Wie jung ist das Fräulein? Neunzehn, zwanzig Jahre?«

»Nein, sie ist erst siebzehn«, korrigierte Mom. Ich war megaerfreut darüber. Renato hatte mich älter geschätzt. Wie cool.

»Oh, siebzehn Jahre. Ich hatte sie älter eingeschätzt. Ich kann ihn auch wieder zurücknehmen. Oder ich trinke ihn selbst aus«, scherzte Renato.

»Es ist nur ein halber und mit siebzehn, glaube ich, dass es okay ist«, sagte Renatos Frau Marie.

»Stelle das Glas bei Denise ab. Sie wird es schon nicht aus den Schuhen hauen und außerdem ist es doch heute ein besonderer Tag«, überstimmte Max Mom.

So wie die Lage aussah, musste sich Mom wohl geschlagen geben. Ich sah, dass Dad hin und her gerissen war. Doch er wollte kein Spielverderber sein.

»Auf deine Verantwortung, Max. Aber, wenn sich Denise übergeben sollte, wirst du es sein, der diese Schweinerei wieder in Ordnung bringt«, erklärte Mom.

Max antwortete mit einer Geste, die so viel aussagte wie: ›Ist mir egal. Es klingt lächerlich, aber wenn es so sein sollte, gerne‹.

»Gut. Ein halber Schnaps für die junge Dame. Einen für die schönste Frau Italiens und den kleinsten für mich.«

Renato flunkerte. Sein Glas war genau so voll wie unsere. Ausgenommen meins.

»Was ist das eigentlich für ein Schnaps?«, fragte Monique, nachdem sie versucht hatte, den Inhalt mit ihrer Nase zu deuten.

»Das ist ein Zitronenlikör. Er schmeckt leicht säuerlich.«

Alle samt rochen an unseren Gläsern und dann erhob Renato das Glas.

»Ich freue mich, dass ich euch kennenlernen darf. Ein deutsches Sprichwort sagt:

›Mit dreißig Jahren stirbt ein Pferd,

das niemals ein Glas Bier geleert.

Mit zwanzig sterben Schaf und Ziegen,

die niemals Schnaps zu trinken kriegen.

Die Kuh säuft Wasser nie mit Rum,

nach achtzehn Jahren fällt sie um.

Mit fünfzehn fällt der Hund tot um,

auch ohne Whiskey, Schnaps und Rum.

Die Katze schleckt nur Milch allein,

sie geht nach vierzehn Jahren ein.

Das Huhn legt Eier für Likör

fünf Jahre lang - dann lebt’s nicht mehr.

Der Mensch trinkt Schnaps, trotz kranker Galle

und überlebt die Viecher alle.

Damit ist der Beweis erstellt,

dass Alkohol gesund erhält!

Drum lasst uns öfter einen heben,

damit wir alle länger leben. ‹«

Wir, und auch die Gäste, die unmittelbar neben uns saßen, die vermutlich auch aus Deutschland kamen, lachten ebenfalls. Von der beschwingten Stimmung setzte Renato noch einen drauf.

»Einen Kleinen gebe ich noch zum Besten:

›Gestern haben wir aufgehört zu trinken. Heute feiern wir unser Comeback, auf die Gesundheit. Sulla Salute. ‹«

»Sulla Salute«, riefen wir alle im Chor, was so viel wie ›Auf die Gesundheit‹ bedeutete.

Ich konnte es nicht fassen. Nach siebzehn Jahren durfte ich zum allerersten Mal Alkohol trinken. Was kommt als nächstes, ein Discobesuch? Danke lieber Gott, danke Max.

Gierig schüttete ich mir den Zaubertrunk herunter und ich schüttelte mich danach. Alle warfen mir fragende Blicke zu.

»Und?«, fragte Renato.

»Es wird nicht mein Lieblingsgetränk werden, aber es ist ganz okay«, sagte ich nur.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, wünschte Renato uns für den heutigen Abend viel Glück. Alle fragten sich wohl, was er meinte. Außer Max, der sich höflich bedankte.

»Dein Tipp?«, fragte Renato Max.

»2:0!«

Der Rest von uns schaute sich verwundert an. 2:0? Was war los? Irgendetwas hatten wir nicht mitbekommen. Max sah uns an, dass wir mit fragenden Gesichtern dreinschauten. Dann lüftete er das Geheimnis.

»Das Fußballspiel heute Abend: Deutschland gegen Italien.«

»2:0, für Italien!«, bohrte Renato nach.

»Renato?«

»Max, Italien muss gewinnen, sonst sind wir raus!«

Unseren ersten Abend im Urlaub, ließen wir ruhig ausklingen. Zusammen mit Monique, Dad und Mom spielten wir Rommé. Und Dad war am Verzweifeln. Den ganzen Abend hatte er kein Glück im Spiel, da half auch kein Kräuterschnaps, den er gerne zu solchen Abenden trank. Die Frauen begnügten sich mit einem Getränk, das weniger Prozente aufwies als Dads Kräuterlikör. Ein Rotwein, dessen Bouquet an Kirschen und Brombeeren erinnerte und durch die würzige Note aus Vanille, Lakritze und Tabak abgerundet wurde. Monique und Mom hatten bereits die zweite Flasche geköpft und waren in heiterer Stimmung. Im Gegensatz zu Dad, der verzweifelt seinen Chef im Himmel um bessere Karten gebeten hatte. Max setzte sich gut gelaunt zu uns an den Tisch.

»Und?«, fragte ich.

»Deutschland hat nicht gewonnen, aber auch nicht verloren«, atmete Max erleichtert auf und verschränkte seine Arme.

»Also ein Unentschieden?«

»Ganz genau.«

»Und was ist mit Italien?«

»Das allerdings, wird Renato nicht gefallen.«

»Verstehe. «

Dann ergriff Mom wieder das Wort und erzählte etwas völlig Belangloses.

»Wusstest du eigentlich, dass Denise deutsche Junioren - Vizemeisterin im Freiluftbogenschießen geworden ist? Und somit die Silbermedaille erreichen konnte? Was gleichzeitig bedeutet, dass sie nächstes Jahr für die internationalen Junioren-Meisterschaften qualifiziert ist.«

»Nein, wusste ich nicht.« Max schaute überrascht. »Wirklich?«

Ich nickte.

»Ja, stimmt. Das hatte ich dir noch nicht erzählt«, gab Monique zu.

»Meinen Glückwunsch. Großartig. Ich wusste nicht, dass du so gut bist«, lächelte Max.

»Ich auch nicht«, antwortete ich angriffslustig.

»Und warum bist du nicht deutsche Meisterin?«

»Weil meine Gegnerin besser war«, gab ich ehrlich zu.

Ich, die im Gegensatz zu ihr, nur zwei Mal die Woche trainieren konnte, schaffte sie es, an fünf Tagen die Woche sich in Form zu bringen, und war ganz klar die Favoritin. Und dieser Rolle wurde sie gerecht. Allerdings war der erste Platz zum Greifen nah. Es fehlten nicht viele Punkte und ich hätte das Undenkbare möglich gemacht. Dennoch war ich mit dem zweiten Platz mehr als nur zufrieden. Ich liebe diesen Sport. Bogenschießen ist einer der ältesten Jagdformen der Menschheit. Bereits vor tausenden von Jahren waren Pfeil und Bogen in der Natur im Einsatz. Natürlich würde ich nie auf Tiere schießen. Es ist der Sport an sich. Für mich ist Bogenschießen eine Art Meditation. Die Konzentration auf das Wesentliche. Den einen Moment, wo jede Handbewegung, jeder Ablauf immer genau gleich sein muss. Die Atmung und den Herzschlag ruhig halten, auch wenn im Wettkampf die Anspannung groß ist. Alles muss perfekt sein, um die bestmöglichen Treffer zu erzielen. Und es schafft einen fabelhaften Ausgleich zum täglichen Schulbetrieb. Neben dem Tanzen im örtlichen Tanzverein und dem Joggen in der freien Natur, ist das Bogenschießen einer meiner Lieblingssportarten.

 

»Ein zweiter Platz ist großartig. Du kannst stolz darauf sein.«

»Danke, das bin ich auch.«

»Hast du schon einmal mit einer Armbrust geschossen?«, fragte Max.

»Nein. So etwas haben wir in unserem Verein nicht.«

»Wenn sich die Möglichkeit bietet, dann probiere es unbedingt aus. Oder du kommst mich besuchen und ich zeig es dir.«

Ich lächelte und stimmte verhalten zu. Es war spät, als wir alle zu Bett gingen. Ich kuschelte mich ein und versuchte, zu schlafen, was aber misslang.

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