Ferien, die bleiben

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»Nein, es geht schon. Alles wird gut«, ächzte ich.

Natürlich hätte ich Dads Hilfe in Anspruch nehmen können. Ich wollte es aber allein schaffen, denn selbst ist die Frau. Es waren nur lumpige zwölf Treppenstufen. Ein Drittel hatte ich bereits davon geschafft. Der Rest war nur eine Frage der Willensstärke und des Durchhaltevermögens. Schließlich war es nicht der Mount Everest, sondern nur eine Treppe.

Tatsächlich war es sehr mühsam, den schweren Koffer und die Waschtasche bis in die obere Etage zu tragen. Aber im Obergeschoss hatte ich wenigstens meine Ruhe. Als ich die Tür meines Zimmers öffnete, schwoll mir eine tropische Hitze entgegen, so als stände ich in einem Thermalbad. Mein Schädel pochte. Gottverdammt war der Reisekoffer schwer. Mit letzter Kraft stellte ich ihn neben dem Bett ab. Warum musste ich auch so viele Klamotten einpacken? Eigentlich zu viel, aber na ja. Egal, schließlich war der Koffer jetzt oben. Nun war es meine Tür, die mit einem Donner zuschlug, nachdem ich die beiden Fenster öffnete. Ich atmete tief ein und aus. Die hereinströmende Luft, wenn sie auch sehr stickig war, hatte einen kühlenden Effekt. Es war früh, aber die Sonne brannte schon mächtig. Erschöpft schmiss ich mich mit einem beherzten Sprung aufs Bett. Die Federn der Matratze waren weich und ich sank tief hinein. Es war still. Nur meine Atmung war zu hören. Meine Bauchdecke bewegte sich auf und nieder zum Rhythmus meines Atems. Langsam richtete ich mich auf. Zunächst zog ich mein durchgeschwitztes Shirt aus. Dann befreite ich mich von dem unangenehmen eng sitzenden BH und schmiss ihn aufs Bett. Ich presste meine beiden Brüste zusammen und massierte sie kurz. Es tat gut. Meistens verzichtete ich auf das blöde Ding namens Büstenhalter. Es war eng und zwickt an allen Ecken und Kanten. Ich fühlte mich ohne dieses Kleidungsstück, ohne BH, viel befreiter und nicht so eingezwängt. Ich stand auf, tappte ins Badezimmer und betrachtete mich im Spiegel. Mein Körper hatte sich verändert, und das fiel nicht nur mir auf. Die Jungs meiner Schule zeigten urplötzlich Interesse an mir. Das war früher anders. Ich war so unterer Durchschnitt, Spätentwicklerin - halt ein langweiliges Mädchen. Aber von den schulischen Leistungen war ich eine der Besten der ganzen Schule. Das allerdings schreckte die meisten Jungs eher ab. Sie bezeichneten mich als Streberin, was aber so nicht stimmte. Mir flog der Lernstoff einfach nur so zu, ohne großartig dafür zu lernen. Natürlich büffelte ich für große Klausuren, aber für ein Test schüttelte ich es mir einfach aus dem Ärmel. Und außerdem hatte ich bisweilen nichts mit Jungs am Hut. Ich war verträumt und versank in meinen Comics und Mangas Heldinnen. Ich durchstreifte gemeinsam mit ihnen die entlegensten Welten dieses Universums und erlebte dabei die größten Abenteuer.

In letzter Zeit spielten mir meine Hormone allerdings einen Streich. Im Gegensatz zu früher träumte ich jetzt des Öfteren von intimen Momenten mit Jungs und sogar mit Mädchen. Wenn das mein Vater wüsste, na ja. Ansonsten wird in unserem Hause kaum über das Thema Sex gesprochen. Das Einzige, was mein Vater einmal zu dem Thema gesagt hatte, war, wie wertvoll und heilig es sei, die Jungfräulichkeit zu bewahren und dass man sie beschützen müsste. Leider hatte ich mich nicht getraut, zu hinterfragen, was genau er damit meinte. Mom sagte nur so viel, dass es kein Spaß macht und noch nichts für mich sei. Vielleicht hatte sie Recht. Aber seitdem ich Ronny kennengelernt hatte, gab es so viele Fragen, die mir nicht aus dem Kopf gingen. Und überhaupt, was ich alles so über Sex hörte, da bekomme ich schon ein wenig Sorge. Was wäre, wenn ich tatsächlich mit Ronny Sex haben sollte? Wird der Penis beim Sex, wie ein Hotdog Würstchen in das Brötchen hineingelegt? Quasi, zwischen meinen Schamlippen? Oder muss der Penis in mir stecken? Vielleicht ist der sogar zerbrechlich? Kann ich beim ersten Mal gleich schwanger werden? Es gab zu viele Fragen, auf die ich keine Antworten kannte. Das, was ich allerdings gehört hatte, war, dass das erste Mal schmerzhaft sei. Sind Penisse tatsächlich so groß, wie alle sagen? Mit alle meine ich die Mädchen aus meiner Klasse. Einige von ihnen haben es bereits hinter sich gebracht, behaupten sie. Es soll eine ziemlich blutige Angelegenheit sein. Aber warum? Wenn der Penis doch in mir stecken muss, dann vielleicht. Es ist kaum Platz für meinen Finger, ganz zu schweigen von einem Tampon. Leider hatte ich in Natur noch keinen Penis von Nahem gesehen. Nur ein einziges Mal hatte ich einen aus einiger Entfernung erspäht. Am Strand, als wir beim Spazieren einen FKK-Bereich durchquerten. Das ist allerdings schon drei Jahre her. Und den Penis, den ich da gesehen hatte, der war tatsächlich groß. Das wäre bei Liebe unter Frauen bestimmt anders. Ich hoffte nur, dass Ronnys Penis nicht so groß war. Aber egal, da musste ich durch. So wie viele tausende andere Mädchen vor mir auch.

Manchmal verspürte ich Lust, mich in meinem Intimbereich zu streicheln, doch die Kirche sagte, es sei Sünde. Deshalb kam es mir nie in den Sinn, irgendetwas mit meinen Brüsten oder auch Vulva anzustellen. Meine Vagina war einfach nur ein Teil meines Körpers. Nicht mehr und nicht weniger. Ich hatte nie das Bedürfnis gehabt, irgendetwas erforschen zu müssen. Bis jetzt. Ich mochte es, meine Vagina sanft zu streicheln. Oder so wie jetzt, der belebende Strahl des Duschkopfes, der sanft über meinen Körper glitt. Es fühlte sich schön an. Behutsam bewegte ich den massierenden Wasserstrahl über meine Brüste, meinen Nacken und glitt langsam hinunter zwischen meine Beine.

Kapitel 4

Urplötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich hörte Stimmen. Nie und nimmer waren es Mom und Dad. Das war völlig ausgeschlossen. Es musste noch jemand anderes im Haus sein. Hastig stellte ich die tosende Dusche ab. Es wurde still und die Stimmen verstummten. Nur das Geräusch einzelner Wasserperlen, die aus dem Duschkopf tropften, trübte die Stille. Patsch, Patsch, Patsch. Die Wassertropfen waren eindringlicher als die Stimmen zuvor. Ich versuchte, mich zu orientieren. Verdammt, wo war das Badehandtuch? Ich musste den Schaum loswerden. Denn ich wusste, wenn ich meine Augen öffnen würde, könnte ich ein fürchterliches Brennen nicht verhindern. Mit zu gekniffenen Augen tastete ich mich vor. Da waren sie wieder, diese Laute. Gelächter, das durch meine geschlossene Badezimmertür drang. Ich hatte es mir nicht eingebildet. Außer meinen Eltern war noch jemand anwesend. Wir bekamen Besuch? Wer sollte das sein?

Noch immer tappte ich im Dunklen. Endlich berührte ich mit meinen Fingerspitzen das Duschtuch. Es war eine Armlänge von mir entfernt. Flugs schnappte ich mir das Handtuch und befreite meine Augen von den letzten Shampooresten. Jetzt wo ich die Augen unbeschadet öffnen konnte, hatte ich das Gefühl, besser hören zu können. Ich wusste, es war Blödsinn, aber es war tatsächlich so. Mom und Dad jubelten. Konnte es sein, dass ... nein, oder? Mein Herz pochte gewaltig. Flüchtig trocknete ich mich ab. Nur mit dem Duschtuch bekleidet, tippelte ich aus dem Badezimmer. So schnell ich konnte, rannte ich die Treppenstufen herunter. Auch auf die Gefahr hin, mit meinen nassen Füßen auszurutschen und eine unsanfte Landung am Ende der Treppe hinzulegen.

»Überraschung!«, riefen mir alle zu.

Ich traute meinen Augen kaum und konnte es nicht fassen. Die Freude war riesengroß.

»Tante Monique.«

Ich war sprachlos.

»Kindchen, du bist ja ganz nass«, kam eine Anmerkung, als ich Monique liebevoll umarmte.

»Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich für mein überschwängliches Umarmen. Ich war so aufgeregt.

»Es ist nicht schlimm. Das trocknet wieder. Es ist nur Wasser, glaube ich zumindest?«

Tante Monique lächelte und wischte sich die Hände an ihrer Kleidung trocken.

»Denise, du hättest dir etwas anziehen sollen«, ermahnte mich Dad. Er legte die Stirn in Falten. Erst jetzt wurde mir bewusst, was ihn störte. Das Duschtuch war verrutscht und na ja, eine von meinen beiden Brüsten schaute ein wenig über den Tellerrand hinaus.

»Ups.«

Peinlich berührt und mit knallroten Wangen rückte ich das Handtuch wieder zurecht. Die Überraschung war gelungen. Natürlich freute ich mich, meine Tante wieder zu sehen. Aber die noch größere Freude war, Max nach sehr langer Zeit wieder zu treffen. Mit weit aufgerissenen Armen huschte ich zu ihm.

»Max.« Er hasste es, wenn ich Onkel zu ihm sagte.

»Wegen mir kannst du das Tuch ruhig ablegen«, flüsterte Max mir scherzhaft ins Ohr, als ich ihn barfüßig und auf Zehenspitzen stehend umarmte. Er roch fantastisch. Ich lächelte verlegen. Typisch Max. Er hatte immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, was nicht immer auf Gegenliebe stieß. Aber ich liebte seinen Humor.

»Was macht ihr denn hier?«, kreischte ich völlig aufgelöst.

»Urlaub«, schmunzelte Monique.

»Ich kann’s kaum fassen. Wie lange bleibt ihr bei uns?«

Ich war total durch den Wind. Mein Herz machte einen Freudensprung, wie ein Salto auf dem Trampolin.

»Wir werden gemeinsam abreisen«, sagte Monique.

»Oh, ich freue mich so arg.« Ich schaute zu meinen Eltern. »Und ihr habt es die ganze Zeit gewusst, oder?«

»Natürlich haben wir es gewusst. Es sollte eine Überraschung werden«, sagte Dad.

»Und diese Überraschung ist euch sowas von gelungen.« Ich strahlte bis über beide Ohren.

»Gott sei es gedankt, dass du noch lächeln kannst.« Dad schaute zu Max und Monique »Ihr müsst wissen, seitdem wir von zu Hause losgefahren waren, war Denises Laune kaum zu ertragen.«

»Und Baby, gehe dir bitte etwas Anständiges anziehen«, gab Mom ihren Senf dazu.

 

»Zu Befehl«, salutierte ich völlig überzogen.

»Erhardt und Anna Maria, ihr habt euch in keiner Weise verändert. Noch genauso prüde wie immer.« Max’ Lächeln war nur höflich. So etwas konnte auch nur er sagen. Bei jedem anderen wäre Mom garantiert ausgeflippt. Max war grundehrlich und sagte das, was er dachte, ohne dabei an jegliche Konsequenzen zu denken. Ich finde es verdammt mutig, nicht allen nach dem Mund zu reden. Und genau das machte ihn in meinen Augen zum Heros. Ein verflucht cooler Typ, mit dem man Pferde stehlen konnte.

»Junge Dame, du bist groß geworden. Eine richtige Frau. Wow!« Sein kantiges Gesicht strahlte und er kniff die Augen zu einer Sichel.

Ich bemerkte es aus dem Augenwinkel, wie er mich von oben nach unten in Augenschein nahm, und sein Blick an einer besonderen Stelle meines Körpers eine Pause einlegte. Alle anderen bemerkten es auch. Es schien ihm aber egal zu sein.

»Ja, wirklich groß geworden«, sagte er mit zweideutigem Unterton in der Stimme.

Meinte er damit, dass ich größer geworden war, oder waren es meine beiden Brüste, dessen ganze Aufmerksamkeit es galt? So, wie ich ihn kannte, meinte er wohl das Letztere.

»Kannst du mal sehen«, konterte ich und wurde vermutlich sogar ein wenig rot dabei.

»Sag mal, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, vier Jahre?«, fragte mich Max.

»Fünf. Inzwischen sind genau fünf Jahre vergangen, als wir uns das letzte Mal begegnet sind«, meldete sich Mom ungefragt zu Wort.

Max schaute sie verdutzt an, biss sich aber auf die Zunge, um sich nicht gleich beim ersten Wiedersehen wie ein Elefant im Porzellanladen zu benehmen. Ich wusste ganz genau, was er dachte. Wer zum Teufel hatte sie gefragt. Schließlich hatte er sich mit mir unterhalten. Max atmete tief. Das Verhältnis zwischen Mom und Max war nicht das allerbeste. Mom mit ihrer vorlauten Klappe und Max mit seiner Ehrlichkeit. Sie waren alles andere als ein Herz und eine Seele, eher wie Katz-und-Maus. Vielleicht war das ein Grund, dass Max sich selten blicken ließ. Und wenn uns doch Familie Hopper besuchte, war es Monique, die meistens allein anreiste. Aber auch das war fast ein Jahr her. Ansonsten hatten die beiden Schwestern regen Kontakt zueinander. Mindestens einmal im Monat telefonierte Mom mit Tante Monique, um den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Heimat auszuschlachten. Das Verhältnis zwischen Dad und Max war ganz okay.

»Im Gegensatz zu meiner Schwester ist es bei dir schon sehr lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, Max. Du hast nie Zeit und bist ständig mit deinen Jungs unterwegs. Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt Zeit für meine Schwester hast.«

Mom gackerte wie ein aufgescheuchtes Huhn und so kam ihre Abneigung zu ihm zum Vorschein. Sie redete sich fast um Kopf und Kragen. Das bemerkte auch Dad.

»So, ihr Lieben, ich werde euch helfen, eure Koffer aus dem Auto ins Haus zu tragen.« Schnell unterbrach er das einseitige Gespräch, bevor die Sache eskalierte, denn Max wollte gerade zum Schlagaustausch ausholen.

»Das ist lieb. Warte, wir kommen mit. Kommst du bitte, Max«, forderte Tante Monique ihren Mann auf.

»Warte kurz. Ich muss …«

»Max, bitte nicht«, unterbrach Monique ihn. Nicht wieder dieses Thema. Sie war es leid, darüber zu reden. Schon des Öfteren war es genau das, weswegen sich Anna Maria und Max in die Haare bekamen. Was er sagen wollte, war, dass es sein verdammter Job war, um die Welt zu ziehen, und ja, er hatte wenig Zeit für Monique. Aber sie kam auch ganz gut allein zurecht. Irgendwie musste er Geld verdienen und das war nun mal die Musik, die seine ganze Aufmerksamkeit und Zeit kostete. Was zum Henker war daran nicht zu verstehen? Diese ständigen Unterstellungen, die nie ausgesprochen wurden, aber bei denen Max immer das Gefühl hatte, dass sie präsent waren, gingen ihm verdammt noch mal auf den Sack. Sollte sie doch sagen, was sie dachte. Nämlich, dass er sich durch die ganze Welt vögelte. Das war es doch, was sie meinte. Gottverdammt!

»Auf jeden Fall freue ich mich, dass ihr beiden hier seid. Ihr holt das Gepäck aus dem Fahrzeug und ich mache uns inzwischen einen frischen Kaffee«, erwiderte Mom.

Von einer auf die andere Sekunde war sie wie ausgewechselt. So, als wäre nichts gewesen, es auch keine vorwurfsvollen Worte gegeben hätte. Nach dem Motto: »Du bist der größte Vollpfosten, der mir jemals unter die Augen getreten ist. Komm, lass uns einen Kaffee trinken.« Zunächst einen zu beleidigen, dann aber postwendend eine liebevolle Einladung aussprechen. Darin war Mom spitze. Peitschenhiebe und Zuckerbrot in Perfektion. Typisch Mum. Sie hatte es bereits vergessen, dass sie kurz davor gewesen war einen Sturm zu entfachen. War das ein Zeichen einer beginnenden Demenz?

Dad packte Max freundschaftlich auf die Schulter und hinderte ihn daran, meiner Mom nachzueilen. So bekam Mom noch einmal die Kurve, bevor sie gegen die Wand gefahren wäre. Glück gehabt.

»Wie war eure Reise?«, fragte Dad Max auf dem Weg zum Auto.

Ich wollte helfen, bemerkte aber, dass ich noch halb nackt war.

»Ich werde mich schnell anziehen und bin gleich wieder da. Dann helfe ich euch«, rief ich Ihnen nach.

Schnell rannte ich die Treppenstufen hinauf.

»Mach langsam, wir laufen nicht weg«, rief Tante Monique mir hinterher.

»Stimmt«, antwortete ich.

Kapitel 5

Ich weiß nicht, wann Mom und Tante Monique das letzte Mal Luft holten, so tiefgründig waren ihre Gespräche. Zu viel hatten sie sich zu erzählen. Sie bemerkten es nicht, dass Max, Dad und ich bereits ungeduldig warteten. Darauf, dass die beiden Damen endlich in die Gänge kamen. Geplant war ein Besuch in einem Lokal. Wir alle hatten Hunger. Bis auf ein paar wenige Kekse zum Kaffee, hatten wir weder ein ausgiebiges Frühstück noch ein deftiges Mittagessen zu uns genommen. Es war bereits halb eins, also höchste Zeit, um etwas Nahrhaftes zu essen.

Endlich war es so weit. Mom betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel und zupfte schnell ihre Haare zurecht. Monique schnappte sich ihre Handtasche.

»Haben wir alles?«

Mom blieb abrupt mitten im Zimmer stehen. Sie dachte scharf nach. Wir anderen stoppten ebenfalls und schauten uns um, hin zu ihr.

»Ja, Anna Maria. Lass uns endlich los.« Hunger machte ungeduldig und Dad hatte einen Bärenhunger.

»Darf ich mit Max mitfahren?«, fragte ich.

Ich sah meine Chance und nutzte sie sofort. Moms Besorgtheit und die unfassbare Stille, das war die Gelegenheit, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Ich hatte keine Lust, bei Mom und Dad mitzufahren.

»Auf keinen Fall, Baby. Du fährst bei uns mit. Haben wir wirklich nichts vergessen?«

Das war’s? Ein Nein! Was sprach dagegen? Ich beantwortete mir meine Fragen selbst. Ganz klar. Es war wie immer. Mom hörte mir nicht zu. Sie hatte noch nicht einmal über meine Bitte nachgedacht.

»Mom«, bohrte ich nach.

»Lass sie doch«, redete Monique Mom gut zu. »Ich fahre bei euch mit, dann haben wir Zeit, um noch ein wenig zu reden.«

Dad sagte, wie so oft, nichts dazu. Entweder war es ihm egal oder er hatte zu viel Respekt vor seiner Frau. Ich sah, dass Mom genervt war. Sie wollte das Thema jetzt nicht ausweiten und der Vorschlag von Monique war nicht schlecht. Zu viele Neuigkeiten waren zu erzählen und stapelten sich bereits auf ihrer Zunge. Also willigte sie schließlich ein.

»Danke, Mom.«

Das »Danke« sagen hätte ich mir sparen können. Mom war schon längst nicht mehr bei uns. Sie redete wie ein Wasserfall, ohne Punkt und Komma.

»Kennst du noch Ferdinand?«

»Mario Ferdinand? Ja! Er war ein oder zwei Klassen über mir«, antwortete Tante Monique.

»Genau den meine ich«, erwiderte Mom.

»Natürlich kann ich mich an ihn erinnern. Er war damals der Schwarm aller Mädchen.«

Ich eilte sofort aus dem Haus, hin zum Auto, während die anderen langsam, aber sicher nachkamen. Dad hatte die Idee, dass wir nur mit einem Pkw fahren, aber Max lehnte ab. Es wäre ihm zu eng mit fünf Personen in einem Auto.

»Schwarm aller Mädchen, das glaubst auch nur du - warte kurz - Baby, kurble bitte die Scheibe herunter, wenn Max rauchen sollte. Der Qualm ist ungesund für dich, Kind«, rief Mom mir zu.

»Max wollen wir?«, wartete ich vor dem verschlossenen Auto ungeduldig. Die Warnung meiner Mutter ignorierte ich.

»Ist das okay, wenn ich vorne sitze?«, fragte ich.

Mir war klar, dass Max mir den Wunsch nicht abschlagen würde. Ich wartete die Antwort erst gar nicht ab und lauerte bereits auf der Beifahrerseite, darauf, dass er das Auto öffnen würde. Und so machten wir uns gemeinsam auf dem Weg. Wir zu zweit und die anderen im Dreiergespann.

Der Vorschlag kam von Max, in einem nahegelegenen Restaurant zu essen. Es war kurz vor dreizehn Uhr, als wir endlich losfuhren. Mein Ellbogen ragte aus dem geöffneten Fenster und meine langen Haare wurden durch den Fahrtwind in alle Richtungen geblasen.

»Und wie war dein Zeugnis?«, fragte mich Max, ohne den Autoverkehr aus den Augen zu lassen.

Ich schaute ihn mit bösem Blick an und versuchte, meine Stirn, in Falten zu legen.

»Max, ich habe Ferien. Das Thema Schule ist in den Sommerferien tabu.«

Er schaute mich mit großen Augen an.

»Oh, wie konnte ich das vergessen. Ich bitte vielmals um Vergebung, ich wollte dich nicht langweilen.«

Dann konzentrierte er sich wieder auf den Verkehr.

»Nein, ist in Ordnung. Mein Zeugnis war wie immer«, lächelte ich.

»Und hast du eine Fünf auf dem Giftblatt?«

Erneut schaute ich ihn mit einem strafenden Blick an und schwieg.

»Okay, okay, keine fünf. Eine Vier?«, sagte Max, als er meine Entrüstung sah.

»Nein, auch keine drei und keine zwei.«

Jetzt schaute mich Max so skeptisch an, wie ich vorher ihn.

»Du willst mich doch verarschen, oder?«

»Nein«, zog ich meine Antwort in die Länge.

»Du hast keine drei oder zwei auf dem Zeugnis?«, fragte Max noch einmal ungläubig nach.

»Nein, sagte ich doch bereits.«

»Du hast nur Einsen auf deinem Zeugnis?«

»Ja«, antwortete ich kurz und knackig.

Max lächelte, während er genüsslich den Zigarettenqualm aus dem geöffneten Fenster ausstieß.

»Warum lächelst du?«, fragte ich.

»Nur so.«

»Max Hopper, was ist bitte daran so lächerlich?«, wollte ich wissen.

»Nein, ich finde deine schulischen Leistungen herausragend. Wirklich.«

Er grinste noch immer. Ich klappte die Sonnenblende vom Auto herunter und betrachtete mich im Spiegel. Hatte ich irgendwo einen Popel an der Wange kleben, oder warum war Max plötzlich belustigt?

»Hast du überhaupt Freunde?« Sein Grinsen wurde immer breiter. Jetzt hatte er es ausgesprochen. Das war es also, was ihm die ganze Zeit im Kopf umherschwirrte. Er dachte, dass ich den ganzen Tag lernen und für die schriftlichen Arbeiten büffeln würde.

»Was soll das heißen?«

»Nein, nur so. War eine blöde Idee«, antwortete Max.

»Aha, nur eine blöde Idee also«, wiederholte ich seine Anmerkung und lächelte freudlos.

Max wollte mich ärgern. Da war er bei mir an der falschen Adresse. Ich verpasste ihm einen leichten Schlag auf den Oberarm.

»Autsch, womit habe ich das verdient?« Max warf mir einen fragenden Blick zu.

»Nur so, sorry, war eine blöde Idee.« Ich liebte es, mich mit Max zu necken.

Dann kamen wir zum Stehen. Innerhalb der roten Ampelphase sagte keiner von uns ein Wort. Max streichelte wehleidig seinen zerschundenen Oberarm und ich würdigte ihn mit einem bestrafenden Augenaufschlag. Während Max einen neuen Radiosender suchte, betrachtete ich ein neben uns stehendes Cabriolet. Die Fahrerin, die ebenfalls auf das startende grüne Signal der Ampelanlage wartete, lächelte mir freundlich zu. Wieso eigentlich? Ich kannte sie nicht. Unbeeindruckt schaute ich wieder nach vorne, zog meine Schuhe aus und legte meine Füße auf das Armaturenbrett. Mit verschränkten Armen machte ich es mir bequem. Erneut schaute ich zu dieser Person herüber. Wieder lächelte sie mir zu. Was stimmte mit ihr nicht? Hatte sie keine eigenen Freunde? So ein Modepüppchen mit Hut, die sich hinter ihrer Sonnenbrille versteckt, glaubt wohl, sie wäre etwas Besseres. Als die Ampel auf Grün schaltete, warf ich einen letzten Blick zu ihr herüber. Diesmal jedoch winkte sie mir zu, als wir zeitgleich losfuhren. Erst jetzt erkannte ich meinen Irrtum. Nämlich, dass das Lächeln nicht mir galt, sondern Max, der ihr ebenfalls lächelnd nachschaute, welches aber schnell verschwand, als ich ihn skeptisch anschaute. Er räusperte sich.

 

»Und wie heißt er?«, fragte Max mit einem prüfenden Blick in den Rückspiegel, um sicherzugehen, ob Dad noch hinter uns war.

Max versuchte, ein anderes Thema anzusprechen, um von seinem Flirten abzulenken.

»Wer?«, fragte ich ihn unschuldig.

»Dein Freund. Wie ist sein Name?«

»Max Hopper, du bist ganz schön neugierig. Da gibt es keinen.«

Doch Max war nicht blöd. Dass meine Augen funkelten, war ihm nicht verborgen geblieben. Er war kein Dummkopf.

»Aha«, grinste er schelmisch.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit starr nach vorne, so, als würde ich gerade Auto fahren wollen. Ich würdigte ihn keines Blicks und schwieg.

»Ronny«, enthüllte ich leise mein Geheimnis nach einer kurzen Atempause.

»Ronny was?«

Ich rollte übertrieben mit den Augen und drehte die Musik leiser.

»Na, Ronny, so heißt mein Freund«, erklärte ich mit Nachdruck.

Jetzt war es raus, mein gut gehütetes Geheimnis.

»Sag es aber bitte nicht Mom und Dad«, murmelte ich kleinlaut. »Sie flippen sonst aus. Ah, und Monique bitte auch nicht. Sie könnte sich womöglich bei Mom verplappern.«

»Aha, ich verstehe. Alles gut, ich kann schweigen. Hey, das ist doch toll. Du bist eine junge Frau. Sich zu verlieben ist das Normalste der Welt.«

»Na ja, wie man es nimmt. Du kennst ja Mom und Dad.«

»Ach komm, noch vor Kurzem strahlst du wie die Sonne und jetzt schaust du aus wie sieben Tage Regen.« Max erhob seine Stimme. »Denise Jörn, hiermit verurteile ich Sie wegen versuchter Schwärmerei zu einer Freiheitsstrafe von fünfundzwanzig Jahren.«

»Max Hopper, du bist doof.« Ich lachte.

»Schau, so gefällst du mir gleich viel besser. Es ist nur Liebe und kein Verbrechen. Und ich verspreche dir hoch und heilig, von mir erfährt es keine Menschenseele.«

Max setzte den Blinker, bog nach rechts ab und kam auf einem Parkplatz zum Stehen.

»Und?«, sagte Max und schaute zu mir herüber.

»Was? Nichts und. Wir sind noch nicht lange zusammen.«

Max antwortete mit einem schelmischen verständnisvollen Kopfnicken, ohne nachzubohren. Er schaltete den Motor aus.

»Und du? Du bist doch nicht freiwillig mit in den Urlaub gefahren«, schaute ich ihn fragend an.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, Mom und du. Ihr seid nicht die besten Freunde. Und freiwillig acht Tage mit ihr den Urlaub zu verbringen, ich weiß nicht. Das ist mehr als merkwürdig, wenn man eine andere Wahl hätte.«

Max verhielt sich seltsam. Er wandte den Blick ab und starrte zu Boden. So, als wüsste er keine Antwort auf meine Frage. Oder er suchte nach einer freundlichen und selbstlosen Antwort, um mich nicht verletzen zu wollen. Was nicht seine Art wäre. Er konnte ruhig sagen, dass er Mom nicht mochte. Mir war es egal.

»Stimmt, ich habe beruflich in Neapel zu tun.« Sein Lächeln war gespielt.

»Hab ich es mir doch gedacht.«

Ich kurbelte die Seitenscheibe hoch, befreite mich vom enganliegenden Gurt, öffnete die Tür und zog mir meine Sportschuhe an.

»Endlich gibt es Essen, ich sterbe fast vor Hunger.«

»Glaub mir, eines weiß ich ganz sicher, so schnell stirbt man nicht.«

Max schnipste den Filter seiner Zigarette aus dem Fenster und drehte ebenfalls die Seitenscheibe hoch.