Ferien, die bleiben

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Ronny half mir hoch und wir machten uns auf den Weg. Ganz in der Nähe gab es das beste Softeis der Gegend. Zwei Wege führten geradewegs zur ersehnten Abkühlung. Zum einen der geteerte Radweg oder der Weg über die Wiese. Die Strecke des Radweges wäre ein wenig weiter und so entschieden wir uns für die nahe gelegene Weide. Aber so wie der heiße Asphalt des Radweges, hatte auch der Feldweg über die Koppel seine Tücken. Barfüßig trapsten wir über das hohe Grass. Die Sonne biss uns gnadenlos in den Nacken. Ständig den Blick nach unten gerichtet, mussten wir aufpassen, um nicht in einen Kuhfladen hineinzutreten. Die weidenden Kühe ließen wir nicht aus den Augen. Ein wenig Respekt hatte ich schon vor den Viechern, die auf der Weide grasten. Ronny versuchte, mir die Angst mit den Worten zu nehmen: »Nur gut, dass wir keine rote Kleidung tragen, ansonsten würden sie uns sicher angreifen, denn sie hassen die Farbe Rot. Aber du brauchst keine Angst zu haben, ich bin bei dir.«

Mein Lächeln war nicht ehrlich. Aber mehr wollte ich mich dazu nicht äußern. Denn ich wusste im Gegensatz zu Ronny, dass die Kühe Farben gänzlich uninteressant finden. Rinder sind grundsätzlich keine aggressiven Tiere. Im Gegenteil, meistens sind sie ruhig, gemütlich und phlegmatisch. Sie greifen nur an, wenn sie sich bedroht fühlten. Sie reagierten meistens nur auf schnelle Bewegungen und nicht auf rote Kleidung. Aber ich wollte nicht neunmalklug herüberkommen und ließ Ronny in seinem Glauben. Es war süß, dass er mich beschützen wollte. Mein persönlicher Held. Leider war mein Held schneller verschwunden, als ich es erahnen konnte. Die Kühe hatten uns bemerkt und schauten zu uns herüber. Sie schienen neugierig zu sein und beobachteten uns. Alles schien friedlich, bis sich plötzlich die Herde in Bewegung setzte. Sie kamen auf uns zu. Anfänglich nur langsam doch zu allem Übel legten sie an Geschwindigkeit zu. Es trennten uns vielleicht fünfzig Meter von Ihnen, als Ronny versuchte sie einzuschüchtern. Er machte sich groß. Ronny streckte beide Arme weit vom Körper ab und schrie ihnen entgegen. Es ähnelte an einer Sportübung: Der gute alte Hampelmann. Leider gefiel es der Herde überhaupt nicht. Rasend kamen sie unaufhörlich näher. Dann hörte ich nur ein Wort mit einer einzigen Silbe und das war »Lauf!«. Völlig überraschend ließ mich Ronny allein. So schnell er konnte, lief er um sein Leben, in Richtung Weidezaun. Fünf der Kühe nahmen direkte Verfolgung auf und rannten ihm hinterher. Nur eine einzelne Kuh interessierte sich für mich. Mir klopfte das Herz bis zum Hals und fast wäre es mir in die Hose gerutscht. Ich versuchte Ruhe zu bewahren und streckte ebenfalls beide Arme seitlich vom Körper aus. Im Gegensatz zu Ronny vermied ich hektische Bewegungen und brüllte das Vieh an. Etwas Besseres wie »Stopp!«, fiel mir in diesem Schreckensmoment leider nicht ein. Als ob Kühe auf das Wort Stopp hören würden. Zum Erstaunen reagierte sie tatsächlich auf meinen Befehl und verlangsamte die Geschwindigkeit.

»Ruhig, ganz ruhig!« Meine Stimme zitterte.

Die Kuh blieb stehen und fing an zu grasen. Ich atmete tief. Erst jetzt hatte ich die Zeit nach Ronny zu sehen und ließ mein Blick von der Kuh für einen Moment ab. Er war bereits in Sicherheit und wartete hinter dem Weidezaun. Auch seine Verfolger ließen von ihm ab und gaben den Weg für mich frei. Langsam bewegte ich mich in seine Richtung. Geschafft, ich war in Sicherheit.

»Warum bist du nicht gelaufen? Verdammt! Hast du die riesigen Hörner gesehen?«

Ronny war immer noch völlig außer Atem. Auch ich war komplett aufgewühlt. Stark gestikulierend erklärte er mir, dass er nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen war. Es kam ihm vor, als wäre er bei einem Stierrennen im spanischen Pamplona. Ständig war er kurz davor, sich im vollen Lauf auf die Fresse zu packen und von der wütenden Herde auf die Hörner genommen zu werden. Und wenn er nicht so schnell gehandelt hätte, dass er nämlich die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, hätte die Herde uns beide überrannt. Da war sich Ronny sicher. Ich für meinen Teil glaubte, dass sie nur neugierig gewesen waren und durch sein Fehlverhalten wir erst in diese schwierige Situation gekommen waren. Ich hielt aber mit meiner Meinung hinterm Berg und ließ ihm den glorreichen Triumph des Retters in der Not. Ronny war noch immer fix und alle. Er hatte Mühe, aufrecht zu stehen, und stützte sich mit seinen Händen auf den Knien ab. Er war ganz blass um die Nase. Erst jetzt, als ich genauer hinschaute, bemerkte ich das Übel, dann fing ich schallend an zu lachen. Ronny hatte es voll erwischt. Seine Beine waren übersät mit Kuhfladen. Mein Beschützer war wohl im vollen Lauf durch einen Fladen gerannt. Ich pinkelte mir vor Lachen fast in die Hose. Zum Glück war er über mein Verhalten nicht sauer. Er nahm es sportlich und lachte mit. Keine Frage, die Gefahr war allgegenwärtig. Doch wer sich vor Angst mehr in die Hose gemacht hatte, ließen wir unbeantwortet. In einem waren wir uns beide sicher: Nie wieder die Abkürzung über die Wiese zu nehmen.

Ronny versuchte mit Grasbüscheln, sich von den größten Verschmutzungen zu befreien. Jetzt waren es nur noch wenige Meter bis zur Straße. Der Autoverkehr war mäßig. Die aufgeheizte Straßendecke brannte an den Fußsohlen. Wie auf heißen Kohlen überquerten wir die Straße. Das war nur ein leichter Vorgeschmack auf das, was uns auf dem Rückweg erwarten würde. Aber immer noch besser als aufdringliche Huftiere. Nur noch wenige Schritte und wir standen wie viele andere auch in einer Warteschlange an. Es war heiß und irgendwie hatten sie alle die gleiche Idee wie wir - Eisessen! Ronny stand etwas abseits der Wartenden. Es war ihm peinlich. Nicht nur das gefleckte Aussehen störte ihn. Leider verströmte er dabei auch noch einen unangenehmen Duft. Es war der Ruf von Freiheit, purer Wildnis und Kuhstall.

Auch alle anderen Menschen nahmen diesen Duft wahr. Einige von ihnen rümpften die Nase und schauten sich ständig um, was sehr untypisch war. Sowie Wartende oft in einem Fahrstuhl sich ständig auf die Füße starren, aber keinesfalls ausschweifende Blicke innerhalb der wartenden Menge ausübten, war es in diesem Fall anders. Alle versuchten, den Mief zu orten. Jeder prüfte seinen direkt neben sich stehenden Nachbarn ab. Es war lustig sie dabei zu beobachten. Das ganze Spektakel versüßte uns die Wartezeit, leider auf Kosten von meinem Ronny. Erst zwanzig Minuten später, hielten wir unser Eis in den Händen. Bedauerlicherweise war der sonnige Nachmittag viel zu schnell vorbei, wir wussten aber, dass wir uns bald wieder treffen würden. Schade nur, dass uns nicht viel Zeit blieb, um uns besser kennenzulernen. Denn unser beider Urlaub stand an. Dennoch schafften wir es, uns zweimal nach unserem Badeabenteuer zu sehen. Allerdings musste ich mir ständig für meine Eltern eine gute Ausrede einfallen lassen, wo ich den Nachmittag verbrachte, damit sie keinen Verdacht schöpften. Bei unserem zweiten Aufeinandertreffen gab es den für mich ersten Kuss meines Lebens. Der Kuss mit den fatalen Folgen. Nach diesem Kuss verhielt sich Ronny komisch. Ich glaube, er hatte Angst, dass es bei jedem Kuss solche Auswirkungen haben könnte. Und so blieb es bei dem einen. Aber, ich hatte mich verliebt.

Auf einmal wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich schreckte auf und fasste mir ans Herz. Es war das nervige Hupen eines hinter uns stehenden Autos. So ein Idiot! Ich schaute aus dem Seitenfenster und erkannte, dass wir in einem Stau feststeckten. Ich beobachtete, dass einige Autofahrer ziemlich rücksichtslos waren. Sie drängelten sich an engen Passagen vorbei. Sie hupten ständig, fuhren zu dicht auf, um danach andere Fahrzeuge mit viel Risiko zu überholen. Alle waren hektisch und angespannt. Nur mein Dad nicht. Mit einer selbstlosen Gelassenheit ließ er gefühlte tausend Autos den Vorzug. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir der Grund für den Stau waren, so langsam wie Dad fuhr.

»Du kannst doch nicht immer auf alle anderen Autos Rücksicht nehmen, so kommen wir nie ans Ziel«, regte Mom sich diesmal über die zu dicht auffahrenden Autofahrer auf.

»Auch die lieben Leute möchten alle in den Urlaub, genauso wie wir, Anna Maria. Also muss man, ob man will oder nicht, gegenseitig Rücksicht nehmen«, versuchte er Mom zu belehren.

Abermals winkte Dad freundlich und ließ einige Autos, die von der rechten Spur drängelten, vor uns in den Stau hinein. Erneut startete ein nerviges Hupkonzert der hinter uns stehenden Autofahrer, die das Schauspiel mit ansahen. Dad schaute in den Rückspiegel.

»Ist ja schon gut, ich fahre ja schon.«

Dann passierte das, was passieren musste. Bei dem Versuch, selbst wieder Fahrt aufzunehmen, würgte Dad den Wagen ab. Leider war er nicht der beste Autofahrer. Mom wurde unruhig.

»Erhardt, fahr endlich.«

Sie rollte übertrieben mit den Augen.

Auf Dads Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen, als er bemerkte, dass unser Wagen nicht so wollte, wie er es gerne hätte. Aus irgendeinem Grund sprang die verfluchte Kiste nicht wieder an.

»Irgendetwas riecht hier komisch? Erhardt!«, bemerkte Mom.

Ich sah, dass Dad seine innere Ruhe und Gelassenheit gegen Unsicherheit und leichte Panik eintauschte. Mom kurbelte die Seitenscheibe herunter. Sie hielt ihre Nase aus dem Fenster.

»Erhardt, riechst du das?«

Dad hatte große Mühe, den Wagen zu starten.

»Erhardt!«, ermahnte Mom Dad erneut, der zuvor nicht auf ihre Erkenntnisse reagierte.

»Anna Maria, es ist die Kupplung, die ein wenig überhitzt ist. Das ist ganz normal, wenn man immerzu anhält. Dieses ständige Stoppen und Anfahren, ist nicht gut für unser Auto.«

»Wozu in Gottes Namen brauchst du eine Kupplung, um anzuhalten? Nun gut, ich bin kein Fachmann aber, ich dachte, die brauchst du nur, wenn du Gänge schaltest. Und so, wie ich das sehe, fahren wir die letzte Stunde nur im ersten Gang.«

 

Dad reagierte nicht auf Moms schlaue Bemerkung. Er war immer noch damit beschäftigt, das Auto zu starten. Immer mehr Schweißtropfen benetzten seinen fülligen Körper. Vielleicht war es auch Angstschweiß. Das Hupkonzert wurde eindringlicher.

»Erhardt, willst du hier Wurzeln schlagen?«

Dad schaute hilflos in den Rückspiegel. Er erklärte mit erhobenen Armen den anderen hinter uns stehenden Fahrern, dass er nichts dafür konnte. Natürlich sahen sie ihn nicht. Er versuchte abermals, das Auto zu starten. Dann war es so weit. Beim fünften Versuch sprang die Kiste endlich wieder an.

»Was habe ich dir gesagt, Anna Maria? Immer die Ruhe bewahren, dann klappt das schon«, sagte Dad rechthaberisch.

Erleichtert wischte Dad sich den Schweiß von der Stirn, blickte dabei in den Rückspiegel und winkte den hinter uns stehenden Autos zu. Als ob sie das sehen könnten, dass Dad ihnen zuwinkt. Na ja, typisch Dad.

»Seht, meine Lieben, es geht schon weiter.«

Dad legte den ersten Gang ein und nahm langsam Fahrt auf. Was eine ziemlich holprige Angelegenheit war. Das Zusammenspiel zwischen Gas und Kupplung war Dad nicht in die Wiege gelegt worden. Wie ein störrischer Esel fuhren wir ruckartig los.

»Nur nicht stehen bleiben«, ermahnte Dad unser Auto. Er streichelte und klopfte mit einer Hand auf der Armatur des Wagens, so als säße er auf einem Pferderücken.

Das Auto und Dad werden wohl nie beste Freunde.

Die Autofahrt wurde immer beschwerlicher, sobald wir die Mittagsstunden erreicht hatten. Es war brütend heiß und überall war Stau. Ich machte es mir auf der Rücksitzbank gemütlich, soweit es möglich war. Platz war ausreichend vorhanden. Während der Fahrt war es einigermaßen erträglich, denn durch das geöffnete Fenster bekamen wir einen erfrischenden Luftzug. Doch sobald wir mit dem Auto stillstanden, fühlte ich mich wie in einem Gewächshaus und das mitten im Hochsommer. Genauso stellte ich mir das Schwitzen in einer Sauna vor. In der Theorie zumindest. Praktisch hatte ich noch nie eine Sauna von innen gesehen. Würde ich aber nachholen, sobald ich achtzehn war.

Im Gegensatz zu jetzt säße ich in der Sauna nackt und nicht mit durchgeschwitzten Klamotten. Meine Kleidung klebte überall am Körper. Die Lage war beschissen. Fassen wir es kurz zusammen. Klimaanlage im Auto? Negativ! Kühle erfrischende Getränke? Negativ! Eine kalte Dusche? Negativ! Das Einzige, was bedingt half, war ausreichend zu trinken. Leider waren die Getränke eher warm als erfrischend kalt. Die ständige Flüssigkeitszunahme hatte aber auch einen Nachteil. Ich schwitzte noch mehr und meine Blase meldete sich öfter zu Wort. All das war aber nichts zu dem, was dann kam.

Ich meine damit die katastrophalen Bedingungen der Toiletten auf den Rastplätzen. So oft der Zeitplan es zuließ oder unsere Blase es forderte, legten wir alle drei Stunden eine kleine Pause ein. Um einen Happen zu essen, uns kurz die Beine zu vertreten oder auf die Toilette zu gehen. Tatsächlich ist es mir ein Rätsel, wie es Menschen schaffen, Parkplatztoiletten so schmutzig zu hinterlassen, dass man das Kotzen bekommt. Es stinkt schlimmer wie in einem Zoo, was im Gegensatz zu den Toiletten noch annehmbar war, weil ich weiß, dass es Tiere sind. Aber was sich auf einigen Rasthöfen abspielte, verursachen tatsächlich Menschen. Einfach nur ekelhaft. Und tatsächlich will ich nicht näher darauf eingehen. Allein der Gedanke daran, löst bei mir tierischen Brechreiz aus. Nach meinem ersten ultimativen Toilettenbesuch traf ich eine Entscheidung. Ich schlage mich direkt in die Büsche des Parkplatzes. Ja ich weiß, dass es nicht in Ordnung ist. Aber nach meinem letzten Nahtoderlebnis mit einer vollgeschissenen Toilette, die ich dann auch noch zu allem Übel vollgekotzt hatte, weil es mich einfach überkam, würde ich nie wieder einen Fuß in eine Rasthoftoilette hineinsetzen. Es tut mir leid, war aber so.

Angewidert von den miserablen Verhältnissen der Toiletten, dachten andere Parkplatzbesucher wohl dasselbe wie ich. Auch sie schlugen sich in die Büsche. Der Nachteil, eine Vielzahl Toilettenpapier, benutzte Taschentücher und leider auch die sogenannten Tretminen, lagen in den Grünanlagen umher. Vorteil, es stinkt wenigstens nicht so. Bis auf die ekelhaften Scheißhausfliegen ist es immer noch besser als auf dem Klo. Ich meine die grünlich schimmernden Fliegen. Dad fand die Problematik der Hygiene auf den Herrentoiletten nicht so schlimm. Vielleicht waren Männer die sauberen Toilettengänger. So aber wurde jede Rast zu einem kleinen Abenteuer, worauf ich allerdings gerne verzichtete.

Dad und ich hatten während der Autofahrt kaum etwas gesagt. Mom dafür umso mehr. Ich vertrieb mir die vielen Stunden im Auto mit Lesen. Meine Lieblingslektüre waren japanische Manga und Anime, die in dem Genre Fantasy, Shöjo und Magical Girl einzuordnen waren. Ich sah mich oft selbst in einer dieser Figuren und liebte es, mit ihnen unzählige Abenteuer zu erleben. Ich hatte schon einige Geschichten niedergeschrieben, die ich eines Tages vielleicht sogar veröffentlichen wollte. Und irgendwann würde ich selbst eine großartige Kriegerin erschaffen, die gegen das Böse kämpfte. Einen passenden Namen für sie hatte ich schon gefunden, »Orchi Daceae«, die Liebesgöttin.

Mit sechs Stunden Verspätung hatten wir unser Ziel endlich erreicht. Es war bereits nach Mitternacht. Was im Grunde nicht schlimm war, denn immerhin kamen wir heil und unversehrt an. Das Verhängnisvolle war aber, dass wir keinen Schlüssel für unser Ferienhaus hatten. Den hätten wir bis 22 Uhr abholen sollen. Was wir auch geschafft hätten, wenn Dad nicht wie eine Schnecke gefahren wäre. Dies wiederum bedeutete, dass wir die restliche Nacht schlafend im Auto verbringen mussten. Großartig! Ich war begeistert.

»Baby, da kann keiner etwas dafür. Kilometerlange Staus kann man halt nicht einfach so überfliegen«, predigte Mom, als ich zuvor lautstark mein Unmut geäußert hatte.

»Aber …«

»Es ist, wie es ist. Es hätte auch schlimmer kommen können. So! Jetzt ist Ruhe und ich will nichts mehr davon hören«, würgte Mom kurzerhand meinen versuchten Einspruch ab.

Wäre Dad statt mit neunzig Stundenkilometer vielleicht hundertvierzig auf der Autobahn gefahren, was durchaus möglich gewesen wäre, denn der Stauanteil belief sich nur auf fünfzehn Prozent unserer gefahrenen Strecke, so war ich mir sicher, dass unsere Ankunftszeit vor 22 Uhr gewesen wäre. Und ich hätte die Nacht in einem Bett schlafen können und nicht wie jetzt auf der Rücksitzbank unseres Autos, so! Außer die Nacht im Freien zu verbringen, blieb uns keine andere Wahl. Also entschied ich mich gegen nervige Insekten, Mücken und allerlei Getier. Genervt kuschelte ich mich in eine Decke. Ich versuchte, mich zu beruhigen und ein wenig zu schlafen. Was soll ich sagen?

Kapitel 3

Diese Nacht war die Hölle. Schlechter hätte mein Urlaub nicht beginnen können. Dad, der es sich auf dem Fahrersitz bequem gemacht hatte, soweit es bei seiner Größe und seinem fülligen Körper überhaupt möglich war, schnarchte so laut wie ein wildes Tier. Damit meine ich einen Wolf der sechs Geißlein gefressen hatte. Es war nicht zum Aushalten. Keine Ahnung, wie Mom dass Nacht für Nacht ertragen konnte. Sie, die tief und fest schlief, und ich bekam kein Auge zu. Dieses ständige Schnarchen war unerträglich. Immer wenn Dad tief einatmete, kam aus seiner Mundhöhle dieses laute Gebrüll. Bei jeder dieser Naturgewalt, die Dad mit seinem Urschrei auslöste, hatte ich das Gefühl, dass unser Auto im Takt seines Schnarchrhythmus’ zu beben schien. Nur wenn ich Dad ermahnte, ihn mit Namen nannte, kehrte endlich Ruhe ein.

Diese plötzliche Stille war verräterisch. Eigentlich hätte ich jetzt einschlafen sollen, doch genau das passierte nicht. Ganz im Gegenteil. Ich lauschte in die Dunkelheit und wartete auf den Moment, bis Dad wieder anfing zu schnarchen. Mit jeder dieser Aktionen wurde ich wütender. Aber das Allerschlimmste war nicht das Grunzen, sondern, nachdem ich Dad unsanft angesprochen hatte, er das Holz sägen zu vergessen schien, hörte er auf zu atmen. Und das war alles andere als witzig. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er wieder anfing zu atmen, um in der Folge den Geräuschpegel drastisch zu erhöhen. Mein Wolf schnarchte noch ohrenbetäubender. Aus einem Rasenmäher wurde ein Lkw, dessen Drehzahlmesser den roten Bereich erreichte. Was tat ich in meiner Verzweiflung? Richtig, ich hörte auf Dad anzusprechen und ließ ihn in aller Ruhe schnarchen. Lieber werde ich schwerhörig, bevor mir Dad erstickt. Nachdem ich zwei Stunden am Stück ununterbrochen schlafen konnte, wurden wir alle unsanft geweckt. Jemand klopfte gegen die Autoscheibe. Aufgeschreckt schauten wir uns um, konnten aber niemanden erkennen, da die Scheiben von innen beschlagen waren. Was wir allerdings sahen, war, dass längst ein neuer Morgen begann. Die Sonne war bereits aufgegangen. Abermals klopfte es an der Autoscheibe. Dad raffte sich auf und wischte ein Guckloch frei.

»Ah, warten Sie einen kleinen Moment, ich komme zu Ihnen.«

Nur langsam richtete ich mich auf, legte die Decke beiseite und befreite ebenfalls ein kleines Loch vom Beschlag. Ich schaute hindurch. Mom, war aus dem Auto gestiegen und begrüßte mit einer freundlichen Umarmung den älteren Herrn.

»Hallo Herr Sappert, Sie schickt der Himmel.«.

»Ich hatte Sie bereits gestern erwartet«, begrüßte Herr Sappert jetzt Dad mit einem Handschlag, nachdem er von Mom abließ.

»Der Verkehr«, versuchte Dad sich zu erklären.

»Sie haben die Nacht im Auto verbringen müssen. Das tut mir leid. Ich hatte auf Sie gewartet. Irgendwann bin ich los.«

»Es war zwar ein wenig eng im Auto, aber für ein oder zwei Nächte ist es durchaus machbar«, meinte Dad.

Ich bekam den Mund nicht zu. Sagte mein Vater für ein oder zwei Nächte wäre das okay? Für ihn vielleicht, aber nicht für mich. Er hatte sie wohl nicht alle. Noch so eine Nacht und ich war um fünfzehn Jahre gealtert. Empört legte ich mich wieder hin und deckte mich zu. Ich persönlich verspürte kein Verlangen diesem Sappert um den Hals zu fallen, um ihn zu begrüßen. Sie unterhielten sich eine Weile. Ich starrte den Dachhimmel des Autos an.

Sappert! Wir hatten ihn vor drei Jahren, als wir in Rom den Urlaub verbrachten, kennengelernt. Vor zwei Jahren war er dann die zweihundertsechsundzwanzig Kilometer von Rom nach Neapel gezogen. Jetzt arbeitete er in dieser Ferienanlage als Hausmeister. Nur durch seine Empfehlung waren wir hier. Ich persönlich mochte ihn nicht. Ja, er war nett und er hat mir auch nichts getan. Aber irgendetwas hatte der alte Herr an sich, was ich nicht verstand. Ich konnte es nicht erklären oder begreifen, es war so ein komisches Gefühl. Immer wenn er ..., Ach, keine Ahnung! Ich mochte ihn halt nicht. Müde streckte ich meine erschöpften Glieder und rollte mich auf die Seite.

»Baby, komm und begrüße Herrn Sappert.«

Alles, nur bloß das nicht. Ich tat so, als wenn ich noch schlafen würde, und verhielt mich ruhig. Dann hörte ich, wie Dad sich bei Sappert bedankte. Na, endlich macht sich der alte Greis vom Acker. Leider hatte ich mich zu früh gefreut. Dad riss die Autotür auf.

»Baby, aufstehen. Wir können ins Haus. Herr Sappert ist da und hat uns den Schlüssel gebracht. Komm und begrüße ihn.«

Genervt rollte ich mit den Augen. Widerwillig stieg ich aus dem Auto. Sappert schaute mich an.

»Denise, du bist ja eine richtige Frau geworden«, sprach er mit italienischem Akzent.

Und da war es wieder, dieses komische Gefühl. Eine Art Unbehagen überzog mich. Jetzt weiß ich auch, was es war. Es war sein Gesicht. Genauer war es sein Lächeln und der Glanz in seinen Augen. Sie funkelten so - lüstern! Dann nahm er mich in den Arm und drückte mich an sich. Ich wollte es nicht. Doch gut erzogen beugte ich mich seinem Umarmungsdrang. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn, dabei atmete er schwer. Mit Missbehagen löste ich mich von ihm und suchte instinktiv die Nähe meines Dads.

»Passen Sie gut auf Ihre Tochter auf, die Jungs werden Schlange stehen.«

»Keine Sorge, Herr Sappert, solange sie die Füße unter unseren Tisch streckt, Sie wissen schon.«

Dad drückte mich an sich.

»Ja, ein hübsches Ding.«

Unbewusst fuhr Sappert mit seiner feuchten Zunge über seine spröden Lippen. Er lächelte und haftete seinen Blick wie ein Schatten an mich.

»So, hier haben Sie Ihren Schlüssel, für die Wohnung mit Hausnummer sieben.«

 

Erst jetzt löste er seinen Blick von mir, als er merkte, dass Dad ihm nicht den Schlüssel abgenommen hatte, den er ihn hinhielt. Der nämlich, hatte bereits alle Hände voll zu tun.

»Geben Sie den Schlüssel meiner Frau, ich trage inzwischen die Koffer zur Tür.«

»Oh ja, natürlich. Bitte, junge Dame.«

Sappert strich durch seine dünnen fettigen Haare und legte sie auf eine Seite.

Ich war verwirrt. Sappert reichte mir den Schlüssel. Hatte er irgendetwas nicht mitbekommen? Er sollte doch den Schlüsselbund Mom geben.

»Nein, Herr Sappert, ich bekomme den Schlüssel. Nicht meine Tochter«, fauchte Mom ihn kratzbürstig an. Vorbei war es mit Frieden, Freude, Eierkuchen. Jetzt übernahm sie wieder das Kommando.

»Entschuldigen Sie vielmals, wo bin ich nur mit meinen Gedanken. Ich wünsche Euch einen schönen Aufenthalt.«

Sappert schenkte mir ein gezieltes Lächeln, welches keinesfalls freundlich schien. Ganz im Gegenteil. Mir lief ein eiskalter Schauder über den Körper. Mom riss meinen Blick von ihm.

»Baby, du trägst bitte die kleinen, leichten Sachen ins Haus? Ich werde uns inzwischen aufschließen.«

So übergab Herr Sappert meiner Mom den Schlüssel. Kopfschüttelnd und ohne sich zu bedanken eilte sie voller Vorfreude über die kleinen Treppenstufen hin zur Eingangstür. Dad eilte ihr nach, konnte aber keinesfalls Schritt halten. Er schnaufte als er die Koffer zum Haus trug. Ich schaute Sappert noch nach. Seine Bewegung ähnelte denen eines Pinguins. Wahrscheinlich war es die Hüfte oder das Knie, die ihn so watscheln ließen. Er war alt. Vielleicht antike fünfundsechzig oder siebzig Jahre. Und in einem war ich mir sicher: Ich wollte so wenig wie möglich mit diesem alten Sack zu tun haben. Wild entschlossen schnappte ich mir den größten Koffer. Nicht, weil ich scharf darauf gewesen war, mir den Allerschwersten vorzunehmen. Nein, im Gegenteil. Leider versperrte der große grüne Koffer den Zugang zu den dahinterliegenden kleineren Taschen. Also kam ich nicht umher, mich dieses Schwergewichts anzunehmen. Dad trug zwei Koffer in jeder Hand und eine Tasche unter dem Arm. Ich eilte ihm voll beladen hinterher. Wie ein Packesel schleppte ich mit beiden Händen, den Holzgriff des Koffers fest umklammert. Verdammt war das Ding schwer. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Und fast wäre ich nach vorne übergeschlagen, konnte es aber mit letzter Kraft verhindern. Die Folge wäre eine gehörige Schürfwunde mitten im Gesicht gewesen. Na, das wäre was geworden. Dad schaute sich um.

»Geht es?«

Ich nickte ihm zu.

»Ich komme klar«, schnaufte ich.

Endlich an der Haustür angekommen, stellte ich den Koffer auf der Treppe ab. Im Gegensatz zu Dad. Er hielt an allem fest was er in den Händen trug. Wie ein Gewichtheber stöhnte er auf.

»Die Koffer sind aber verdammt schwer«, versuchte er sich zu erklären.

Mom experimentierte sich an der Tür. Es schien, als hätte sie Probleme. Irgendwie klemmte das beknackte Schloss.

»Anna Maria, lange halte ich nicht mehr stand. Wenn es noch länger dauern sollte, fällt mir alles aus den Händen.« Dad war puterrot und stemmte sich ins Hohlkreuz.

»Erhardt, ich bin schon dabei, wie du siehst. Wenn du es besser kannst, dann bitte«, fauchte Mom ihn an.

Dad zuckte mit schmerzverzerrtem Gesicht und beiden Schultern. Er kämpfte wie ein Löwe. Mit ständigem Nachfassen versuchte er zu verhindern, dass die Koffer ungebremst auf der Erde aufschlugen. Endlich hatte Mom das Rätsel des Türöffnens gelöst. Mit letzter Kraft schaffte es Dad ins Innere des Hauses. Mit einem lauten Aufschrei ließ er die Koffer zu Boden. Darauf griff er sich in die Hosentasche, zog ein Stofftaschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mom atmete tief durch.

»Urlaub!«

Sie war beschwingt.

»Riechst du das, Erhardt.«

Mom breitete die Arme aus, so als würde sie jemanden umarmen wollen. Abermals atmete sie tief ein.

»Es duftet nach Urlaub.«

Ich fand, es roch nach Gartenlaube. Dad war völlig außer Atem. Er hatte kaum die Kraft, um zu reden. Mom hingegen schon. Sie war voller Tatendrang. Schnell riss sie alle Fenster und Türen zum Durchlüften auf. Der einsetzende Luftzug ließ die Eingangstür zufallen. »Knall!« Ich erschrak und war aber anscheinend die Einzige, die vom lauten Bums der zuschlagenden Tür überrascht war. Ich kniff für eine Sekunde die Augen zu, hielt den Atem an und blieb wie angewurzelt stehen.

»Mom!«, schrie ich sie erschrocken an.

»Ja, Baby?«

»Nichts!«, schwindelte ich und legte die Stirn in Falten.

»Wo ist die Waschtasche? Ich möchte jetzt duschen.«

»Baby, zuerst müssen alle Koffer ausgepackt werden. Und erst danach kannst du gerne duschen gehen.«

»Mom, aber ich stinke!«

Meine Mutter kam zu mir herüber und schnupperte an meinem Oberteil.

»Nein, du riechst nicht.«

»Ich stinke. Ich würde aber jetzt gerne duschen wollen und nicht erst später. Ich fühle mich dreckig.«

Plötzlich klingelte jemand an der Tür.

»Baby, es läutet. Machst du bitte deinem Vater die Tür auf?«

Ach ja, da war ja noch jemand. Erst jetzt bemerkte ich, dass Dad fehlte.

»Ja mache ich, aber danach gehe ich duschen.«

»Danke Schatz!«

Wow! Was war los. Mom bedankte sich bei mir?! Es waren wohl ihre positivgeladenen Urlaubshormone. Mit schnellem Schritt eilte ich zur Tür, um sie zu öffnen.

»Dad, du auch hier und nicht im …« Wollte ich tatsächlich Zoo sagen? Na, das wäre was geworden. Dad hätte es bestimmt nicht lustig gefunden, ich hingegen schon. Tatsächlich sah er wie ein vollgepackter Esel aus. Anstatt das Wort »Zoo« laut auszusprechen, räusperte ich mich und bekam so noch einmal die Kurve.

»Wer macht ständig die Tür zu?«, wieherte Dad wie ein Esel.

»Kommen Sie doch herein!«, sagte ich lächelnd.

»Vielen Dank, junge Dame. Du lächelst, gefällt es dir hier?«

»Absolut! Wie jedes Jahr, Dad«, log ich, damit die Stimmung nicht kippte.

Er trabte an mir vorbei und stellte die Reisekoffer ab.

»So, ihr Lieben. Das Auto ist leergeräumt und sämtliche Koffer befinden sich im Haus. Meine Damen, der Urlaub kann nun beginnen.«

»Und was ist jetzt mit den Koffern? Glaubt ihr etwa, die packen sich von selbst aus?«, warf Mom ein.

Mein amüsantes Lächeln verschwand. Warum musste sie immer so einen Stress verbreiten? Sie sollte sich lieber entspannen. Schließlich hatten wir Urlaub.

»Erhardt, zum Ausruhen haben wir später noch genügend Zeit. Zuerst müssen wir die Koffer auspacken.«

Dad, der sich gerade auf einen Sessel niedergelassen hatte, um ein wenig zu verschnaufen, schreckte hoch.

Typisch Mom. Außer Befehle zu erteilen, die Tür aufzuschließen und die Fenster zu öffnen, hatte sie noch nicht allzu viel zum Urlaub beigetragen. Dahingehend war es bei Dad und mir anders. Wir waren es schließlich, die den Inhalt des gesamten Autos ins Haus geschleppt hatten.

»Baby, hier, nimm den Koffer und die Waschtasche. Such dir ein Zimmer aus.«

»Okay, ich gehe nach oben, bin dann mal weg.«

Ich schnappte mir meinen Koffer und quälte mich damit die enge Treppe hinauf.

»Soll ich helfen?« Dad war in Sorge um mich.

»Nein! Ich bin schon groß, Dad. Das schaffe ich ganz gut allein.«, stöhnte ich.

Es ging nur langsam voran. Stufe für Stufe plagte ich mich mit dem viel zu großen Koffer ab. Ständig schlug der Reisekoffer erst ans Geländer, dann gegen die Wand, um darauf gegen jede Treppenstufe zu schlagen.

»Baby, lass den Koffer bitte heile«, rief Mom mir hinterher.

»Soll ich nicht doch lieber helfen?« Auch Dad stimmte wieder mit ein.