The New Jim Crow

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The New Jim Crow
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Als »Jim-Crow-Ära« gilt in den USA die Zeit vom Ende des amerikanischen Bürgerkriegs bis zum Erfolg der Bürgerrechtsbewegung, in der die Rassenhierarchie in den USA durch zahlreiche Gesetze und Maßnahmen zementiert war. Michelle Alexander argumentiert, dass das rassistische System in den 1960er Jahren nicht abgeschafft wurde, sondern unter dem Deckmantel des »War on Drugs« eine neue Form gefunden hat: The New Jim Crow.

Die Wahl von Barack Obama im November 2008 markierte einen historischen Wendepunkt in den USA: Der erste schwarze Präsident schien für eine postrassistische Gesellschaft und den Triumph der Bürgerrechtsbewegung zu stehen. Doch die Realität in den USA ist eine andere. Obwohl die Rassentrennung, die in den sogenannten Jim-Crow-Gesetzen festgeschrieben war, im Zuge der Bürgerrechtsbewegung abgeschafft wurde, sitzt heute ein unfassbar hoher Anteil der schwarzen Bevölkerung im Gefängnis oder ist lebenslang als kriminell gebrandmarkt. Ein Status, der die Leute zu Bürgern zweiter Klasse macht, indem er sie ihrer grundsätzlichsten Rechte beraubt – ganz ähnlich den explizit rassistischen Diskriminierungen der Jim-Crow-Ära.

In ihrem Buch, das in Amerika eine breite Debatte ausgelöst hat, argumentiert Michelle Alexander, dass die USA ihr rassistisches System nach der Bürgerrechtsbewegung nicht abgeschafft, sondern lediglich umgestaltet haben. Da unter dem perfiden Deckmantel des »War on Drugs« überproportional junge männliche Schwarze und ihre Communities kriminalisiert werden, funktioniert das drakonische Strafjustizsystem der USA heute wie das System rassistischer Kontrolle von gestern: ein neues Jim Crow.

Über die Autorin

Michelle Alexander ist Juristin, Bürgerrechtlerin und Hochschullehrerin. Sie studierte an der Stanford Law School und an der Vanderbilt University und leitete mehrere Jahre das Racial Justice Project der American Civil Liberties Union (ACLU) in Nordkalifornien und die Civil Rights Clinic an der Stanford University Law School. Als Anwältin spezialisierte sie sich auf Sammelklagen wegen Rassen- oder Geschlechterdiskriminierung. Sie ist Dozentin am Kirwan Institute for the Study of Race and Ethnicity und am Moritz College of Law der Ohio State University.

MICHELLE ALEXANDER

THE NEW JIM CROW

Masseninhaftierung und Rassismus in den USA

Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und

Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif

Verlag Antje Kunstmann

Für Nicole, Jonathan und Corinnne

© der deutschen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2016

© der Originalausgabe: Michelle Alexander, 2010, 2012, 2016

© des Vorworts: Cornel West, 2012

Titel der Originalausgabe: The New Jim Crow – Mass Incarceration in the Age of Colorblindness Verlag der Originalausgabe: The New Press, New York Umschlaggestaltung: Heidi Sorg Typographie und Satz: www.frese-werkstatt.de Druck und Bindung: Pustet Regensburg eBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH ISBN 978-3-95614-159-1

INHALT

Vorwort für die internationale Ausgabe

Vorwort von Cornel West

Vorbemerkung

Einführung

1. Die Rückkehr der Kastengesellschaft

2. Hinter Gittern

3. Die Farbe der Gerechtigkeit

4. Die grausame Hand

5. The New Jim Crow

6. Eine neue Bewegung

Dank

Anmerkungen

VORWORT FÜR DIE INTERNATIONALE AUSGABE

Amerika war von Anbeginn ein Land voller Widersprüche. Seine Gründer träumten von Freiheit, politischer Selbstbestimmung und individueller Freiheit, schufen aber dann einen Staat, der Besitzlosen und Frauen das Wahlrecht vorenthielt, die Sklaverei in der Originalverfassung festschrieb und Sklaven quasi als »Drei-Fünftel-Menschen« zur Bevölkerung zählte. Nach dem offiziellen, populären Narrativ hat Amerika seine hässliche Geschichte überwunden. Dieses Narrativ ist nicht völlig falsch. Unser Land hat die Sklaverei abgeschafft, Frauen und ethnischen Minderheiten das Wahlrecht gegeben und das gesetzmäßige Regime beseitigt, das als »Jim Crow« bekannt wurde – ein System aus Vorschriften, Gesetzen, Maßnahmen und Methoden, die die legale Diskriminierung der Afroamerikaner in praktisch allen Bereichen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens billigte. Heute trifft man in renommierten Universitäten und auf den Fluren der Macht Menschen aller Hautfarben an. Wir haben unseren ersten schwarzen Präsidenten gewählt. Diese Erfolgsgeschichte der amerikanischen Demokratie wird an unseren Schulen gefeiert und auf dem ganzen Globus verbreitet.

Doch es gibt noch eine andere Geschichte, eine weniger beliebte und politisch eher unangenehme, eine, die man in den Medien unseres Landes nur selten hört und die fast nirgendwo jenseits unserer Grenzen erzählt wird. Ein Teil dieser Geschichte ist Gegenstand dieses Buches. Sie muss überall auf der Welt bekannt werden.

Ich habe dieses Buch nicht für eine internationale Leserschaft geschrieben. Ich habe The New Jim Crow geschrieben, um in meinem eigenen Land Alarm zu schlagen, in einem Land, das von sich behauptet, das »Land der Freien« zu sein, obwohl wir einen größeren Anteil unserer Bevölkerung ins Gefängnis werfen als jedes andere Land der Welt. Wir predigen anderen Freiheit und Demokratie, verweisen aber Millionen der ärmsten Bürger dauerhaft auf einen Status am Rande der Gesellschaft und verweigern ihnen das Wahlrecht. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich früher blind war für das, was sich vor meiner eigenen Haustür abspielte. Als mir dann die Augen aufgingen, war ich entschlossen, auch andere aus ihrem Schlaf aufzurütteln und sich der Wahrheit dessen zu stellen, was wir in Amerika wieder einmal anrichten.

Inzwischen ist mir sehr daran gelegen, dieses Buch Menschen auf der ganzen Welt zugänglich zu machen, die an die Demokratie glauben und zutiefst um Gerechtigkeit besorgt sind. Ich hoffe, dass das, was auf diesen Seiten steht, einen internationalen Aufschrei auslöst und die Menschen begreifen, dass sich in den Vereinigten Staaten ein Alptraum entfaltet: Wir in Amerika werden angehalten zu glauben, dass Menschenrechtsverletzungen und -katastrophen überall, weit jenseits unserer Grenzen, stattfinden. Doch wir haben hier in unserem eigenen Land in ein paar wenigen Jahrzehnten die Gefängnispopulation vervierfacht und ein Strafsystem errichtet, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Kein anderes Land der Welt hält einen so hohen Anteil seiner Bürger in Haft – bei kaum 5 Prozent der Weltbevölkerung stellen wir fast 25 Prozent aller Gefängnisinsassen.

Millionen Menschen – in der überwältigenden Mehrzahl Arme und People of Color* – landen in diesem Land in Gefängnissen, weil ein rassistischer »Krieg gegen die Drogen« geführt wird und eine politische Bewegung für ein »hartes Durchgreifen« gegen Kriminalität eintritt, das zahllose Familien zerstört und ganze Gemeinschaften dezimiert. Die Zahl der Menschen, die nur wegen Drogendelikten hinter Schloss und Riegel gebracht werden, ist erschreckend und von etwa 50.000 im Jahr 1980 auf heute fast 500.000 gestiegen – das sind mehr, als in Westeuropa für alle Verbrechen zusammengenommen einsitzen. Über 90 Prozent der als »Kriminelle« oder »Verbrecher« Etikettierten erhalten keinen ordentlichen Prozess oder werden nicht angemessen vor einem Gericht vertreten; sie legen ohne Prozess ein Schuldbekenntnis ab, weil man ihnen damit droht, dass ihnen bei einer Verurteilung durch ein Geschworenengericht noch weit höhere Mindeststrafen drohen. Und Millionen Menschen werden, wenn sie dann ihre tatsächliche Haftstrafe abgesessen haben und aus der offiziellen Kontrolle durch unser sogenanntes »Rechtssystem« entlassen werden, in ein soziales Paralleluniversum gestoßen, in dem die elementaren Bürger- und Menschenrechte, die für andere selbstverständlich sind, nicht gelten. Es sind genau die Rechte, die ihnen durch die Bürgerrechtsbewegung zugestanden wurden, wie das Wahlrecht, das Recht, als Geschworener zu dienen und das Recht, in der Arbeitswelt, bei der Wohnungssuche, in der Bildung und bei den staatlichen Sozialleistungen – etwa in Form von Lebensmittelmarken und Sozialwohnungen – nicht diskriminiert zu werden. Selbst diejenigen, die sich nur geringfügiger Vergehen schuldig gemacht haben – beispielsweise weil sie mit kleinen Mengen Drogen erwischt wurden –, werden dauerhaft in eine niedrige Kaste am unteren Rand der Gesellschaft verwiesen. Dieses neue System nimmt vor allem afroamerikanische Männer ins Visier und erklärt sie zum Hauptfeind. In vielen amerikanischen Großstädten ist über die Hälfte der afroamerikanischen Männer im arbeitsfähigen Alter vorbestraft und wird für den Rest ihres Lebens mit gesetzlicher Billigung diskriminiert.

 

Politiker rechtfertigen die diskriminierenden Praktiken und sprunghaft angestiegenen Inhaftierungszahlen mit den hohen Kriminalitätsraten in den armen Minderheitengemeinschaften. Dieses Buch zeigt hingegen, dass dieses System seinen Ursprung in unserer Rassengeschichte und unserer Rassenpolitik hat, die Ängste schürt, spaltet, Menschen zu Sündenböcken macht und soziale Kontrolle über sie ausübt.

In Amerika ist ein neues System rassistischer Sozialkontrolle entstanden, das die Welt noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Internationale Proteste trugen dazu bei, dass amerikanische Rechtswissenschaftler und Politiker das Jim-Crow-System der Rassentrennung nach dem Zweiten Weltkrieg einer Prüfung unterzogen. Deshalb hoffe ich, dass unser Land auch jetzt auf der Weltbühne angeprangert und der Schande und Scham preisgegeben wird, damit es sich dem zentralen Widerspruch der modernen amerikanischen Demokratie stellt: unserem System der Masseninhaftierung. Wie der Jurist und Bürgerrechtler Bryan Stevenson kürzlich ganz treffend bemerkte, prägt die Masseninhaftierung heute unser Land wie einst die Sklaverei. Ich hoffe, dass die Völker der Welt nicht länger schweigen werden, wenn sie mehr darüber erfahren, wie in unserem Land entgegen unserer Behauptungen die tatsächliche Praxis in Sachen Rasse, Gleichheit und Freiheit aussieht.

Aber abgesehen davon, dass ich mir wünsche, Amerika möge endlich vor dem Gericht der internationalen Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden, hoffe ich auch inständig, dass dieses Buch einen Beitrag zu der sich ausweitenden Debatte über den globalen Krieg gegen die Drogen leistet. Seit die Vereinten Nationen das Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel – ein internationales Abkommen zum Verbot der Produktion und Verbreitung bestimmter Narkotika – verabschiedet haben, sind mehr als fünfzig Jahre vergangen und mehr als vierzig Jahre, seit US-Präsident Nixon den »Krieg gegen die Drogen« im eigenen Land erklärte, der sich in rasantem Tempo zu einem weltweiten, brutalen und sinnlosen Krieg ausweitete. Obwohl Milliarden in den Bau von Gefängnissen, gesetzliche Verbote und die Militarisierung der Polizei gesteckt wurden, ist dieser Krieg jämmerlich gescheitert und hat keineswegs Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit eingedämmt, geschweige denn beendet. Im Gegenteil, Drogen sind freier verfügbar und werden mehr konsumiert als vor Beginn des Kriegs gegen die Drogen. So stellte die Weltkommission für Drogenpolitik 2011 fest: »Der weltweite Krieg gegen die Drogen ist gescheitert, mit verheerenden Folgen für die Menschen und Gesellschaften rund um den Globus … Scheinbare Erfolge bei der Ausschaltung einer Quelle oder Dealerorganisation werden fast auf der Stelle durch das Aufkommen neuer Quellen und Dealer zunichtegemacht.«1

Statt Drogenmissbrauch und -abhängigkeit als schwerwiegende Probleme der öffentlichen Gesundheit anzugehen und in großem Stil in die Behandlung und Prävention zu investieren, sind nur allzu viele Staaten den Vereinigten Staaten gefolgt, haben den eigenen Bürgern den Krieg erklärt und stellen Mittel vornehmlich für Strafmaßnahmen und andere Praktiken zur Verfügung, die zwangsläufig das Leid der Ärmsten und Schwächsten in den Gesellschaften erhöhen. In den letzten Jahrzehnten wurden Millionen Menschenleben durch hohe Gefängnisstrafen sinnlos zerstört, kamen Tausende durch die Gewalt im Drogenkrieg und die Militarisierung der Polizei um, vor allem in Ländern wie Mexiko, wo allein in den vergangenen zehn Jahren über 100.000 Menschen getötet wurden oder verschwanden. Die mexikanische Regierung gab kürzlich Daten frei, die zeigen, dass zwischen 2007 und 2014 – also in Jahren, die zu den blutigsten im Krieg des Landes gegen die Drogenkartelle gehören – über 164.000 Menschen ermordet wurden. Profiteure dieses Blutbads sind auch die Privatgefängnisse, die in den Vereinigten Staaten großzügig dafür bezahlt werden, dass sie die zahllosen Einwanderer hinter Gitter stecken, die vor der Gewalt des Drogenkriegs in Mexiko und Lateinamerika fliehen.

Man möchte meinen, dass vierzig Jahre erfolgloser Krieg ausreichen würden, um die Antidrogenkrieger davon zu überzeugen, dass sie eine andere Richtung einschlagen müssen. Doch der katastrophale Krieg wird unvermindert fortgesetzt. Warum? Ein Grund dafür ist, dass der globale Krieg gegen Drogen kaum mit der Absicht geführt wird, die mit dem Drogenkonsum zusammenhängenden Probleme zu lösen. Der Krieg wird zwar mit dem Drogenmissbrauch gerechtfertigt, ist aber nicht dessen Hauptmotiv (und war es nie). In Amerika wurde den Drogen der Krieg wegen der Rassen- und Klassenzugehörigkeit derer erklärt, die als Feind etikettiert wurden. Die gegenwärtige Drogenpolitik und die Praxis im Kampf gegen den Drogenmissbrauch gehen in hohem Maß auf den Rassismus in der amerikanischen Politik und die politischen Nützlichkeit (und wirtschaftliche Profitabilität) eines nie endenden Kriegs zurück.

Drogenabhängigkeit und -missbrauch stellen schwerwiegende Probleme mit manchmal tödlichen Folgen dar, denen unser aller Sorge gelten sollte und die sofortiges Handeln erfordern. Aber in den Vereinigten Staaten ist der Umgang mit diesen schwerwiegenden Problemen von einer durch Rassismus und Spaltung geprägten Politik bestimmt, die selten offen diskutiert wird, aber als mächtige Grundströmung alle Maßnahmen und Praktiken beeinflusst und in eine gefährliche Richtung lenkt, oft mit tödlichen Folgen. Es ist eine große Tragödie, dass unser rassistischer Krieg gegen Drogen exportiert wurde und überall auf der Welt zu viel überflüssigem Leid, zu Tod und Verzweiflung führt. Ethan Nadelmann, Gründer der Drug Policy Alliance, fasst diese Entwicklung so zusammen: »Auf die Vereinigten Staaten als Modell für die Eindämmung des Drogenkonsums zu schauen, ist so, als würde man sich das Südafrika der Apartheid zum Vorbild nehmen, um das Rassenproblem zu bewältigen.« Ich hoffe, dieses Buch regt Menschen in anderen Ländern an, zu prüfen, ob ihre Regierung nicht einen drastischen Kurswechsel vornehmen sollte.

Schließlich hoffe ich zutiefst, dass dieses Buch zu einem internationalen Dialog darüber beiträgt, was ein Land, das eine egalitäre, multirassische, multiethnische Demokratie aufbauen will, wirklich tun muss. Oft blickt man in dieser Frage auf die Vereinigten Staaten, um dort Anregungen und Leitlinien zu bekommen, doch die zyklische Wiederauferstehung des auf Rasse basierenden Kastensystems in unserem Land sollte allen zu denken geben, bevor sie ihre Demokratie nach unserem Vorbild formen. Ich hoffe, dass andere Länder aus unserer Geschichte und unseren Erfahrungen Lehren ziehen und etwas Besseres schaffen als unser Politik- und Rechtssystem, statt es einfach zu übernehmen. Wir sind weit, sehr weit vom Aufbau einer inklusiven, egalitären Demokratie entfernt, in der »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« mehr als nur eine Floskel ist. Auf den folgenden Seiten wird deutlich, wie schwer es für ein Land und dessen Bewohner ist, Denk- und Lebensgewohnheiten aufzugeben – vor allem die Gewohnheit, den rassisch »Anderen« auszuschließen und zu unterdrücken. Die Länder mit den härtesten Strafgesetzen sind nachweislich jene mit einer stark gemischten Bevölkerung. Die Länder, in denen man Delinquenten mit dem meisten Mitgefühl und mit größter Milde behandelt, sind hingegen die homogensten. Es scheint geradezu ein Zug der menschlichen Natur zu sein, den »Anderen« gegenüber kein Erbarmen zu zeigen. Doch da die Länder der Welt immer stärker miteinander verbunden sind und Klimawandel, Kriege, Globalisierung und wirtschaftliche Konkurrenz zu großen Einwanderungs- und Migra tionsbewegungen führen, besteht die Herausforderung zunehmend darin, unsere Herzen und Köpfe für jene zu öffnen, die wir jetzt noch als »Andere« zu betrachten pflegen. Und wir werden unausweichlich dazu gezwungen werden, uns mit dem Erbe von Sklaverei, Unterdrückung und Kolonialismus auseinanderzusetzen, zu überlegen, wie wir den Schaden, den wir angerichtet haben, wiedergutmachen und Demokratien schaffen können, in denen jedes Leben, jede Stimme und jedes Votum wirklich zählen. Schließlich soll The New Jim Crow auch eine Warnung sein – dieses Buch berichtet darüber, wie Millionen armer People of Color in den Vereinigten Staaten an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, und das auch unter einem schwarzen Präsidenten. Es erinnert uns daran, wie wichtig es ist, dass wir uns mit aller Kraft der Politik der Angst, der Spaltung, Exklusion und Kontrolle widersetzen. Wir dürfen es nicht dabei belassen, uns eine andere Welt vorzustellen und von ihrer Verwirklichung zu träumen, vielmehr »müssen wir so handeln, als wäre es möglich, eine Revolution herbeizuführen und die Welt radikal zu verändern«, wie Angela Davis einmal sagte. Ich lege dieses Buch in der Hoffnung vor, dass es einen Beitrag zu einer gerechteren, alle sozialen Aspekte berücksichtigenden Justiz auf dieser Welt leistet.

Michelle Alexander, Juni 2016

* Anmerkung der Übersetzer: In der Übersetzung wird die englische Bezeichnung People of Color verwendet, da die Autorin diese im Original verwendet und es sich um eine selbstbestimmte Bezeichnung von und für Menschen handelt, die nicht weiß sind. Der Ausdruck ist im Englischen eine gängige Bezeichnung und wird auch in Deutschland in akademischen und politischen Publikationen vermehrt genutzt, da viele andere Bezeichnungen – etwa »Farbige« – eine koloniale und rassistische Dimension haben. Des weiteren wird im Text auch die Bezeichnung »schwarz« oder »braun« verwendet, um gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten die aus dem Konstrukt des Rassismus entstanden sind, zu benennen. Auf die Großschreibung dieser Begriffe, wie teils in der akademischen Literatur zum Thema üblich, wurde jedoch aufgrund der Lesbarkeit verzichtet.

VORWORT

von Cornel West

Michelle Alexanders The New Jim Crow ist die säkulare Bibel für eine neue soziale Bewegung im Amerika zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wie mit C. Vann Woodwards The Strange Career of Jim Crow – dem Buch, das Martin Luther King als »die historische Bibel der Bürgerrechtsbewegung« bezeichnete – liegt uns hier ein kraftvoller, eindringlicher Text vor, zugleich eine einzigartige demokratische Erweckung, die die Aufmerksamkeit auf die Armen und Benachteiligten in der amerikanischen Gesellschaft richtet. The New Jim Crow ist schon jetzt ein Klassiker, weil das Buch den neuen Geist unseres Zeitalters erfasst. Schon viel zu lange warten wir darauf, dass sich die Massen gegen die vielfache Benachteiligung zur Wehr setzen, unter der arme und unter prekären Verhältnissen lebende Menschen trotz der aufopfernden Arbeit intellektueller Freiheitskämpfer wie Marian Wright Edelman, Angela Davis, Loïc Wacquant, Glenn Loury und Marc Mauer zu leiden haben. Doch langsam, aber sicher erwachen die Menschen aus dem Schlaf, und mehr und mehr Mitbürger erkennen, dass sie in einem Käfig gefangen sind – der für die Wohlhabenden vielleicht auch ein goldener sein mag. The New Jim Crow ist ein lautstarker Weckruf aus dem Schlummer der Gleichgültigkeit gegenüber den Armen und Schwachen. Diese Gleichgültigkeit fördert ein oberflächliches Erfolgsethos – Geld, Ruhm und Vergnügen –, das viel zu viele dazu bringt, sich mit der Ungerechtigkeit abzufinden. Kurz, im verwirrenden Zeitalter Obamas feiert der Geist Martin Luther Kings mit diesem Buch seine Wiederauferstehung.

Während die Ära Obama historische Durchbrüche auf der Ebene der symbolischen Rassengleichheit und politischer Sichtbarkeit gebracht hat, führt uns Michelle Alexanders meisterhaftes Werk den systembedingten Zusammenbruch schwarzer und armer Gemeinden vor Augen, die durch Massenarbeitslosigkeit, soziale Vernachlässigung, Abwanderung von Betrieben und intensive Polizeiüberwachung verwüstet sind. Die Autorin lenkt mit ihrer tiefgreifenden Analyse unsere Aufmerksamkeit vom Symbol des Fortschritts in der Rassenfrage auf Amerikas größten Schandfleck: den massiven Missbrauch staatlicher Macht zum Zweck der Inhaftierung Hunderttausender wertvoller armer, schwarzer, männlicher (und zunehmend auch weiblicher) junger Menschen im Namen eines heuchlerischen »Kriegs gegen die Drogen«. Michelle Alexanders differenzierte Analyse der skrupellosen Behandlung und der brutalen Überwachung Schwarzer im Lauf der amerikanischen Geschichte – in Form der Sklaverei, von Jim Crow und der Masseninhaftierung – gewährt uns einen Blick unter die politische Oberfläche und legt die Strukturen eines reibungslos funktionierenden auf Rasse basierenden Kastensystems im Zeitalter der Farbenblindheit bloß. Gerade die Ideologie der Farbenblindheit, propagiert von Neokonservativen und Neoliberalen mit dem Ziel, die Ausmaße des Leidens Schwarzer in den 1980er und 1990er Jahren zu banalisieren und zu verschleiern, hat Amerika die Augen vor dem Neuen Jim Crow verschlossen. Es ist einfach traurig, dass sich diese Blindheit unter jeder Regierung erhalten hat und bis heute im öffentlichen Diskurs unseres Landes kaum thematisiert oder in Frage gestellt wird.

 

The New Jim Crow durchbricht dieses Schweigen. Wer das Buch liest, kann nicht mehr gleichgültig bleiben. Er wird nicht mehr wie ein Schlafwandler an der dunklen und hässlichen Realität vorbeigehen können, die seit Jahrzehnten existiert und nahtlos an den seit der Zeit der Sklaverei in Amerika bestehenden Rassismus anknüpft. Zweifellos würde der nationale Notstand ausgerufen, wenn weiße Jugendliche in derselben Zahl inhaftiert würden wie junge Schwarze. Wahr ist aber auch: Würden junge Schwarze aus der Mittel- und Oberschicht im selben Maße inhaftiert wie junge arme Schwarze, würden die schwarzen Anführer der Bürgerrechtsbewegung dem gefängnisindustriellen Komplex mehr Aufmerksamkeit widmen. Michelle Alexander deckt ihre Voreingenommenheit genauso auf wie die rassistischen Vorurteile der politischen Führung Amerikas, für die Arme und Benachteiligte jeder Hautfarbe ganz unten auf der Tagesordnung stehen. Die Autorin bringt dies in ihrem mutigen letzten Kapitel, in dem sie sich auf den großen James Baldwin beruft, deutlich zum Ausdruck, indem sie schreibt: »Die Gleichgültigkeit, die Weigerung, Menschen über alle Grenzen der Hautfarbe hinweg Mitgefühl entgegenzubringen, bildet den Kern des heutigen Kontrollsystems und jedes anderen rassische Kastensystems in den Vereinigten Staaten oder anderswo auf der Welt.«

Martin Luther King hat uns dazu aufgefordert, einander zu lieben, nicht dazu, einander farbenblind gegenüberzutreten. Einander zu lieben aber heißt, sich um alle zu kümmern, allen tiefes Mitgefühl entgegenzubringen und Anteil an allen zu nehmen, auch an den Armen und Schwachen. Die soziale Bewegung, die das vorliegende historische Werk anfachen und speisen wird, wird einer demokratischen Erweckungsbewegung gleichkommen, die zeigt, dass wir nicht gleichgültig sind, dass das rassische Kastensystem abgeschafft werden muss, dass wir eine Revolution unserer falschen Prioritätenliste brauchen, einen Machtwechsel von den Oligarchen zum Volk – und dass wir bereit sind, dafür zu leben und zu sterben!