The New Jim Crow

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Doch trotz dieser bedeutsamen Entwicklungen wird die Dimension des Problems immer noch nicht erkannt. Es existiert weder eine Bewegung auf breiter Basis, die Pläne zur Beendigung der Masseninhaftierung schmieden würde, noch ein Engagement, das vom Umfang her auch nur annähernd mit dem Kampf für die Erhaltung der Affirmative Action vergleichbar wäre. Überdies besteht weiterhin eine Tendenz in der Bürgerrechtsgemeinde, das Strafjustizsystem lediglich als eine Institution unter anderen zu betrachten, das mit unterschwelligen Rassenvorurteilen infiziert ist. Die Website der NAACP ist dafür ein Beispiel. Noch im Mai 2008 konnte man dort unter dem Punkt Rechtsabteilung eine kurze Einführung in die Arbeit der Organisation zu Fragen der Strafjustiz finden. Dort hieß es, dass »trotz der bisherigen Siege in der Bürgerrechtsfrage … das Strafjustizsystem immer noch von rassistischen Vorurteilen durchdrungen« sei. Die Besucher der Website wurden aufgefordert, der NAACP beizutreten, um »die in den letzten dreißig Jahren hart erkämpften Bürgerrechte« zu verteidigen. Niemand, der die Website aufrief, erfuhr, dass die Masseninhaftierung von Afroamerikanern viele dieser hart errungenen Siege bereits zunichtegemacht hatte.

Man stelle sich einmal vor, die Bürgerrechtsorganisationen und afroamerikanischen Anführer der Bewegung hätten in den 1940er Jahren nicht Jim Crow ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Angesichts dessen, dass die Rassentrennung damals das wichtigste Instrument der rassischen sozialen Kontrolle in den Vereinigten Staaten war, wäre das absurd gewesen. In diesem Buch wird die These vertreten, dass die Masseninhaftierung in Wahrheit der neue Jim Crow ist und sich jeder, der an sozialer Gerechtigkeit interessiert ist, mit aller Kraft für die Abschaffung dieses neuen rassischen Kastensystems einsetzen sollte. Die Masseninhaftierung – nicht Angriffe auf die Affirmative Action oder eine laxe Handhabung der Bürgerrechte – ist der schlimmste Ausdruck des Gegenschlags gegen die Bürgerrechtsbewegung. Das verbreitete Narrativ, Sklaverei und Jim Crow seien überwunden und die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten sei ein Beweis für den »Triumph des Landes über die Rasse«, ist gefährlich und irreführend. Der farbenblinde öffentliche Konsens, der heute in Amerika herrscht – das heißt, der weitverbreitete Glaube, dass die Hautfarbe keine Bedeutung habe –, hat uns die Augen vor den Realitäten in unserer Gesellschaft verschlossen und das Entstehen eines neuen Kastensystems gefördert.

Meine Haltung zum Strafjustizsystem hat sich stark verändert, seit ich vor zehn Jahren den Anschlag an dem Telefonmast bemerkte. Für mich ist das neue Kastensystem inzwischen so deutlich erkennbar wie mein eigenes Spiegelbild. Wie bei einer optischen Täuschung, in der man das versteckte Bild erst erkennt, wenn man die Konturen wahrnimmt, verbirgt sich das neue Kastensystem unsichtbar im Labyrinth der von uns entwickelten Rationalisierungen für die anhaltende Ungleichheit. Es ist durchaus möglich – und sehr leicht –, diese »eingebettete« Wirklichkeit nicht zu sehen. Erst nachdem ich jahrelang für eine Reform der Strafjustiz gearbeitet hatte, verschob sich bei mir der Fokus allmählich auf das rigide Kastensystem, bis es mir deutlich vor Augen stand. Und es erscheint mir heute seltsam, dass ich es nicht früher erkannt habe.

Da ich also um die Schwierigkeit weiß, etwas zu sehen, dessen Existenz die meisten vehement bestreiten, rechne ich damit, dass dieses Buch auf Skepsis oder Schlimmeres stoßen wird. Manche werden die Charakterisierung der Masseninhaftierung als »rassistisches Kastensystem« für eine grobe Übertreibung halten. Ja, sagen sie wahrscheinlich, vielleicht haben wir »Klassen« in den Vereinigten Staaten – beschönigend als Ober-, Mittel- und Unterschicht bezeichnet –, womöglich sogar eine Unterklasse (eine Bevölkerungsgruppe, die so weit von der Mitte der Gesellschaft entfernt ist, dass sie die geheimnisvolle Karriereleiter gar nicht mehr erreichen kann), aber wir haben in diesem Land nichts, was man als »Kaste« bezeichnen könnte.

Ziel dieses Buches ist es nicht, in eine schon lange anhaltende, heftige Debatte in der wissenschaftlichen Literatur darüber einzugreifen, was ein Kastensystem ist und was nicht. Ich verwende den Begriff rassisches Kastensystem wie im allgemeinen Sprachgebrauch für ein System, in dem eine stigmatisierte ethnische Gruppe qua Gesetz und Gewohnheit in einem niedrigen gesellschaftlichen Status gefangen ist. Jim Crow und die Sklaverei waren Kastensysteme. Und unser System der Masseninhaftierung ist ebenfalls eins.

Um den elementaren Charakter des neuen Kastensystems zu verstehen, ist es vielleicht hilfreich, sich die Strafjustiz – alle dazugehörigen Institutionen und Methoden – statt als ein unabhängiges, eigenständiges Konstrukt als ein Tor zu einem viel umfassenderen System rassischer Stigmatisierung und ständiger Marginalisierung vorzustellen. Dieses umfassendere System, hier als Masseninhaftierung bezeichnet, bringt Menschen nicht nur hinter reale Gitter in realen Gefängnissen, sondern auch hinter virtuelle Gitter und Mauern – Mauern, die für das bloße Auge nicht sichtbar sind, aber fast so effektiv wie einst die Jim-Crow-Gesetze People of Color dauerhaft zu Bürgern einer Unterklasse machen. Mit dem Begriff Masseninhaftierung meine ich aber nicht nur das Strafjustizsystem an sich, sondern auch das gesamte Geflecht von Gesetzen, Vorschriften, Maßnahmen und Gewohnheiten, das alle als kriminell Gebrandmarkten der Kontrolle unterwirft, ob sie im Gefängnis sitzen oder nicht. Nach ihrer Entlassung treten die ehemaligen Häftlinge in eine verborgene Unterwelt ein, in der sie per Gesetz diskriminiert und dauerhaft aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Sie bilden Amerikas neue Unterkaste.

Von Kaste zu sprechen, erscheint manchen vielleicht fremd und unvertraut. Öffentliche Diskussionen über rassische Kasten sind in den USA relativ selten. Amerikaner vermeiden das Gespräch darüber, weil sie sich ihrer Rassengeschichte schämen. Wir sprechen nicht einmal über Klassen. Die Abneigung dagegen rührt zum Teil daher, dass viele die Vorstellung haben, die Klasse spiegele den eigenen Charakter wider. Das liegt sehr stark an der tiefsitzenden Überzeugung, dass – trotz aller Beweise für das Gegenteil – mit der nötigen Disziplin und Initiative jeder von einer unteren in eine höhere Klasse aufsteigen kann. Man sieht ein, dass so ein Aufstieg unter Umständen schwierig ist, dennoch ist das amerikanische Selbstbild eng mit dem Glauben verbunden, dass er immer möglich ist und dass Scheitern eine Frage des Charakters ist. Und das gilt folglich auch für eine ganze ethnische Gruppe.

Was in den wenigen öffentlichen Debatten über das Elend der Afroamerikaner völlig fehlt, ist die Tatsache, dass ein enormer Prozentsatz von ihnen überhaupt nicht die Freiheit zum gesellschaftlichen Aufstieg besitzt. Nicht nur, dass die meisten keine Gelegenheit dazu bekommen, die Schulen, die sie besuchen, schlecht sind oder sie in Armut leben, nein, das Gesetz hindert sie daran, und auch die wichtigsten Institutionen, mit denen sie in Kontakt kommen, sind darauf angelegt, ihren Aufstieg zu verhindern. Um es krasser auszudrücken: Das heutige Kontrollsystem sperrt einen großen Prozentsatz der Afroamerikaner aus der Gesellschaft und der Arbeitswelt aus. Es bedient sich der Institutionen der Strafjustiz, funktioniert aber eher wie ein Kastensystem als ein System zur Verhinderung von Verbrechen. So gesehen ist die sogenannte Unterklasse eher als Unterkaste zu bezeichnen – eine niedrige Kaste von Menschen, die durch Gesetz und Gewohnheit dauerhaft aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Und während dieses neue System rassistischer sozialer Kontrolle vorgibt, farbenblind zu sein, schafft und erhält es eine Rassenhierarchie genauso aufrecht wie frühere Kontrollsysteme. Wie Jim Crow (und die Sklaverei) stellt die Masseninhaftierung ein eng gestricktes Netz aus Gesetzen, Maßnahmen, Gewohnheiten und Institutionen dar, die zusammen dafür sorgen, dass sich eine weitgehend durch Rasse definierte Gruppe nicht aus ihrem untergeordneten Status befreien kann. Diese Behauptung mag angesichts der Wahl Barack Obamas besonders abwegig sein. Viele werden einwenden, es könne doch nicht sein, dass ein Land, das zum ersten Mal einen schwarzen Präsidenten gewählt habe, ein rassisches Kastensystem habe. Ein berechtigter Einwand. Doch wie ich in Kapitel 6 zeigen werde, besteht kein Widerspruch zwischen der Wahl Barack Obamas ins höchste Amt des Landes und der Existenz eines rassischen Kastensystems in der Ära der Farbenblindheit. Das gegenwärtige Kontrollsystem beruht auch darauf, dass es den »Ausnahmeschwarzen« gibt, und wird durch dessen Existenz weder widerlegt noch ausgehöhlt. Andere wenden vielleicht ein, das Vorhandensein eines rassischen Kastensystems werde schon dadurch widerlegt, dass die meisten Amerikaner – egal, welcher Hautfarbe – Rassendiskriminierung ablehnen und für die Farbenblindheit eintreten. Doch wie die nächsten Seiten deutlich machen werden, bedürfen rassistische Kastensysteme keiner Feindseligkeit gegen bestimm te Ethnien und keines Fanatismus, um effektiv zu sein. Es genügt die Gleichgültigkeit gegenüber der Rassenfrage, wie Martin Luther King schon vor über 45 Jahren erkannte.

Aufgrund der jüngsten Entscheidungen einiger Bundesstaaten, vor allem New Yorks, die Mindeststrafen für Drogendelikte abzuschaffen oder zu verringern, glauben manche, dass das in diesem Buch geschilderte System rassischer Kontrolle im Schwinden begriffen sei. Das anzunehmen, ist meiner Ansicht nach ein schwerer Irrtum. Viele Bundesstaaten, die ihre harten Strafgesetze reformiert haben, haben es nicht aus Sorge um das Leben und die Familien getan, die durch diese Gesetze zerstört werden, oder wegen der rassistischen Aspekte des Kriegs gegen die Drogen, sondern aus Angst vor einem explodierenden Haushalt in einer Zeit der Rezession. Mit anderen Worten, die Rassenideologie, die zu diesen Gesetzen geführt hat, bleibt trotz milderer Strafgesetze weitgehend unangetastet. Veränderte wirtschaftliche Bedingungen oder steigende Kriminalitätsraten können das Schicksal der Drogendelinquenten leicht wieder wenden, vor allem, wenn Drogentäter weiter hauptsächlich als People of Color wahrgenommen werden. Und man muss sich Folgendes klarmachen: Die bloße Verkürzung der Haftstrafe bringt die Architektur des neuen Jim Crow nicht ins Wanken. Solange man eine große Zahl von Afroamerikanern verhaftet und als Drogenkriminelle abstempelt, werden sie weiterhin nach ihrer Entlassung dauerhaft auf einen Platz am Rand der Gesellschaft verwiesen, egal, wie lange sie hinter Gittern gesessen haben. Das Fundament des Systems der Masseninhaftierung ist das Gefängnisetikett, nicht die Haftzeit.

 

Skepsis gegen die hier aufgestellten Behauptungen ist berechtigt. Natürlich gibt es zwischen Masseninhaftierung, Jim Crow und der Sklaverei – den drei großen bisherigen rassistischen Kontrollsystemen in den Vereinigten Staaten – wichtige Unterschiede. Diese und ihre Implikationen zu verkennen, wäre fatal für den Diskurs über Rassengerechtigkeit. Viele dieser Unterschiede sind jedoch nicht so bedeutend, wie sie auf den ersten Blick erscheinen; andere zeigen lediglich, dass Systeme rassistischer sozialer Kontrolle ihre Gestalt verändern, sich weiterentwickeln und nach und nach den Veränderungen des politischen, sozialen und gesetzlichen Umständen der jeweiligen Zeit anpassen. Letztlich glaube ich, dass die Ähnlichkeiten zwischen diesen Kontrollsystemen gegenüber den Unterschieden überwiegen und dass die Masseninhaftierung im Großen und Ganzen so angelegt ist, dass Klagen dagegen scheitern müssen. Dies hat, wenn es zutrifft, tiefgreifende Auswirkungen auf jedes Engagement für die Rassengerechtigkeit.

Aus der Rückschau lässt sich gut erkennen, dass unsystematische Reformen oder einzelne Gerichtsverfahren allein nicht ausgereicht hätten, die Rassentrennung unter Jim Crow abzuschaffen. Zweifellos hatten sie ihre Berechtigung, doch das Bürgerrechtsgesetz von 1964 und den damit verbundenen kulturellen Wandel hätte es nicht gegeben, hätte man nicht gleichzeitig in der afroamerikanischen Gemeinde ein kritisches politisches Bewusstsein geschaffen und damit für breite strategisch durchdachte Aktionen gesorgt. Und genauso ist es ein fundamentaler Irrtum zu glauben, der Neue Jim Crow könne über den konventionellen Gerichtsweg und einzelne Reformen, vor allem aber ohne eine sie stützende große soziale Bewegung besiegt werden.

Eine solche Bewegung wird jedoch so lange nicht zustande kommen, als sich die engagiertesten Gegner der Rassenhierarchie äußern und verhalten, als ob es kein vom Staat gestütztes rassisches Kastensystem mehr gäbe. Wenn wir uns weiterhin die populären Mythen vom Fortschritt in der Rassenfrage erzählen, schlimmer noch, wenn wir uns einreden, das Problem der Masseninhaftierung sei einfach zu groß, zu abschreckend, als dass wir etwas dagegen unternehmen könnten, wenn wir meinen, es sei besser, unsere Energien auf die Kämpfe zu richten, die leichter gewonnen werden können, dann wird die Geschichte ein hartes Urteil über uns fällen. Unter unseren Augen spielen sich Menschenrechtsverletzungen ab, die einem Alptraum gleichkommen.

Wenn wir jemals den Neuen Jim Crow überwinden wollen, müssen wir einen anderen Konsens über die Rassenfrage herstellen, indem wir uns über die Grundstruktur unserer Gesellschaft einigen. Am Anfang sollte ein Dialog stehen, ein Gespräch, das das kritische Bewusstsein fördert, ohne das kein effektives soziales Handeln möglich ist. Dieses Buch soll sicherstellen, dass das Gespräch nicht mit einem Augenzwinkern endet.

Es ist unmöglich, in einem relativ schmalen Buch alle Aspekte der Masseninhaftierung und ihrer Folgen für die Rassengleichheit zu behandeln, und ich erhebe gewiss nicht den Anspruch, dies hier geleistet zu haben. Das Buch ist eher eine grobe Skizze, sodass viele wichtige Themen nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdient hätten, zum Beispiel die speziellen Erfahrungen von Frauen, Latinos und Einwanderern mit der Strafjustiz, obwohl gerade diese Gruppen besonders betroffen sind und unter den schlimmsten Übergriffen zu leiden haben. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt jedoch auf dem, was afroamerikanischen Männern im neuen Kastensystem widerfährt. Ich hoffe, andere Wissenschaftler und Anwälte werden dort weitermachen, wo dieses Buch endet, und die Kritik weiter ausführen oder die hier skizzierten Themen auf andere Gruppen und andere Kontexte übertragen.

Was mit diesem Buch erreicht werden soll – das Einzige, was damit erreicht werden soll –, ist, einen dringend gebotenen Diskurs darüber anzuregen, welche Rolle dem Strafjustizsystem bei der Schaffung und Erhaltung der Rassenhierarchie in den Vereinigten Staaten zukommt. Das Schicksal von Millionen Menschen – ja, die Zukunft der Afroamerikaner an sich – hängt vielleicht davon ab, ob diejenigen, die für Rassengleichheit eintreten, bereit sind, ihre Meinung zum Strafjustizsystem in unserer Gesellschaft einer Prüfung zu unterziehen. Dass zurzeit in vielen amerikanischen Großstädten mehr als die Hälfte der jungen schwarzen Männer unter dessen Kontrolle stehen, ist nicht nur – wie viele behaupten – ein Symptom der Armut oder eines Mangels an Wahlmöglichkeiten, sondern Beweis für die Existenz eines neuen rassischen Kastensystems.

Kapitel 1 gibt einen kurzen historischen Abriss der rassistischen sozialen Kontrolle in den Vereinigten Staaten und beantwortet die grundlegende Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Es beschreibt die Herrschaft über die Afroamerikaner durch die Sklaverei und Jim Crow, die offiziell abgeschafft wurden, dann aber in neuer Form wieder auferstanden, in einer Form, die auf die Bedürfnisse und Beschränkungen der neuen Zeit zugeschnitten war. Wie wir sehen werden, folgen Geburt und Tod der rassischen Kaste in Amerika einem bestimmten Muster. Immer wieder gelingt es den fanatischsten Verfechtern der Rassenhierarchie, ein neues Kastensystem zu schaffen, indem sie quer durch das politische Spektrum jeden Widerstand dagegen brechen. Diese Meisterleistung beruht vor allem darauf, dass sie an den Rassismus der weißen Unterschicht appellieren und deren prekäre Lage ausnutzen, also die einer Bevölkerungsgruppe, die verständlicherweise darum ringt, nicht am untersten Ende der amerikanischen Gesellschaftshierarchie zu landen. Und mit dieser bis auf die Sklaverei zurückgehenden Methode haben sie jetzt einem neuen rassischen Kastensystem zur Geburt verholfen: der Masseninhaftierung.

Die Struktur der Masseninhaftierung wird in Kapitel 2 genauer beschrieben, wobei der Schwerpunkt auf dem Krieg gegen die Drogen liegt. Die Polizei unterliegt in diesem Krieg kaum gesetzlichen Einschränkungen, und enorme finanzielle Anreize sorgen dafür, dass sie Menschen mithilfe quasi militärischer Taktiken massenhaft wegen Drogendelikten festnimmt. Wer einmal in die Mühlen der Strafjustiz gerät, hat fast keine Chance mehr, jemals wieder wirkliche Freiheit zu genießen. Angeklagten wird in der Regel ein echter Rechtsbeistand verweigert, man drängt sie durch Androhung einer langen Haftstrafe zu einem Schuldeingeständnis und einem Deal mit dem Gericht, um sie dann unter institutionelle Kontrolle zu stellen – im Gefängnis oder durch eine Bewährungsstrafe. Nach der Entlassung werden ehemalige Täter mit Billigung des Gesetzes ihr Leben lang diskriminiert, und die meisten landen irgendwann erneut im Gefängnis. Sie gehören zu Amerikas neuer Unterkaste.

In Kapitel 3 steht die Rolle des Konzepts Rasse im amerikanischen Strafjustizsystem im Mittelpunkt. Es beschreibt die Methoden, mit denen es einem offiziell rasseneutralen Strafrechtssystem gelingt, eine außerordentlich hohe Zahl schwarzer und brauner Männer zu verfolgen, festzunehmen und zu inhaftieren, obwohl People of Color nicht mehr Drogendelikte und andere Gesetzesverstöße begehen als Weiße. In diesem Kapitel wird die Behauptung widerlegt, die Rate der Inhaftierung Schwarzer sei mit deren Kriminalitätsrate zu erklären, und benennt das je nach Hautfarbe enorm unterschiedliche Vorgehen in jedem Stadium des Strafrechtsverfahrens – bei Durchsuchungen, bei der Festnahme, beim Aushandeln der Strafe mit dem Gericht und bei der Verurteilung. Kurz, in diesem Kapitel wird erklärt, wie die gesetzlichen Regeln, nach denen das System funktioniert, zwangsläufig zur Diskriminierung führen. Diese gesetzlichen Regeln garantieren, dass die Unterkaste überwiegend aus People of Color besteht.

Kapitel 4 zeigt, wie das Kastensystem nach der Entlassung aus dem Gefängnis funktioniert. Die Entlassung aus dem Gefängnis bedeutet in vieler Hinsicht nicht den Beginn der Freiheit, sondern vielmehr eine grausame neue Phase der Stigmatisierung und Kontrolle. Unzählige Gesetze, Vorschriften und Regeln diskriminieren die ehemaligen Straftäter und verhindern praktisch ihre echte Reintegration in die normale Arbeitswelt und die Gesellschaft. Ich behaupte, dass die mit dem »Gefängnisetikett« verbundene Scham und das Stigma in mehrfacher Hinsicht der afroamerikanischen Gemeinde mehr Schaden zufügen als einst Jim Crow. Die Kriminalisierung und Dämonisierung schwarzer Männer spaltet ihre Community, bringt die Familien auseinander, zerstört das Netz gegenseitiger Unterstützung und verstärkt die Scham und den Selbsthass der heutigen Parias.

Die vielen Parallelen zwischen der Masseninhaftierung und Jim Crow, deren wichtigste die gesetzlich gebilligte Diskriminierung ist, werden in Kapitel 5 nachgezeichnet. Wie Jim Crow marginalisiert die Masseninhaftierung große Teile der afroamerikanischen Gemeinde, segregiert sie physisch (in Gefängnissen und Gettos) und durch die Diskriminierung beim Wählen, im Arbeitsleben, bei der Wohnungssuche, in der Bildung, bei Sozialleistungen und beim Dienst in Geschworenengerichten. Die Bundesgerichte haben das gegenwärtig System praktisch gegen den Vorwurf rassistischer Vorurteile abgeschirmt, so wie frühere Kontrollsysteme vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten geschützt und verstärkt wurden. Aber das ist noch nicht alles. Wie Jim Crow trägt die Masseninhaftierung zur Definition dessen bei, was »Rasse« in Amerika bedeutet und welchen Stellenwert sie hat. Das Stigma der Kriminalität wirkt ganz ähnlich wie einst das Stigma der Rasse. Es rechtfertigt eine gesetzliche, soziale und ökonomische Grenzziehung zwischen »uns« und »ihnen«. In Kapitel 5 werden aber auch Unterschiede zwischen Sklaverei, Jim Crow und Masseninhaftierung erläutert, vor allem die Tatsache, dass die Masseninhaftierung dazu dient, einen ganzen Bevölkerungsteil, der für überflüssig erklärt wird, wegzusperren, weil er in der neuen globalisierten Wirtschaft nicht benötigt wird, während frühere Kontrollsysteme dazu dienten, schwarze Arbeiter auszubeuten und auf ihren Platz zu verweisen. Außerdem widmet sich dieses Kapitel den Auswirkungen des neuen Kastensystems auf Weiße: Auch wenn sie nicht das vorrangige Ziel des Kriegs gegen die Drogen sind, werden sie dennoch davon beeinträchtigt – eine beeindruckende Illustration dessen, wie ein rassistischer Staat Menschen jeder Hautfarbe beschädigt. Und schließlich ist das Kapitel auch eine Antwort auf Kritiker, die behaupten, die Masseninhaftierung könne schon deshalb nicht als rassisches Kastensystem bezeichnet werden, weil das »harte Durchgreifen gegen Kriminalität« auch von Afroamerikanern gutgeheißen werde. Aber das überzeugt heute so wenig wie vor hundert Jahren, als Schwarze und Weiße sagten, die Rassentrennung spiegele lediglich die »Wirklichkeit« wider, nicht aber rassistische Feindseligkeit, und die Afroamerikaner täten besser daran, an sich selbst zu arbeiten, statt Jim Crow zu bekämpfen. In unserer Geschichte hat es immer Afroamerikaner gegeben, die aus verschiedenen Gründen das herrschende Kontrollsystem verteidigten oder sich damit gemein machten.

In Kapitel 6 geht es um die Frage, was die Existenz des Neuen Jim Crow für die Zukunft der Bürgerrechtsbewegung bedeutet. Ich bin der Meinung, dass nichts weniger als eine große soziale Bewegung nötig ist, um das neue Kastensystem endgültig abzuschaffen. Zwar können auch ohne eine solche Bewegung bedeutende Reformen erreicht werden, aber so lange der öffentliche Konsens, der das gegenwärtige System stützt, nicht vollständig überwunden ist, wird es intakt bleiben. Doch auch der Aufbau einer sozialen Bewegung auf breiter Basis wird nicht reichen. Es genügt nicht einmal annähernd, die Wähler davon zu überzeugen, dass zu viele Menschen inhaftiert werden und Drogenmissbrauch ein öffentliches Gesundheitsproblem ist, kein Verbrechen. Wenn es einer kommenden Bewegung zur Bekämpfung der Masseninhaftierung nicht gelingt, sich der entscheidenden Rolle des Konstrukts »Rasse« in unserer Gesellschaftsstruktur zu stellen und eine Ethik echter Fürsorge, des Mitgefühls und der Anteilnahme an Menschen aller Schichten oder Klassen, Hautfarben und jeder Herkunft in unserem Land (einschließlich der armen Weißen, die oft gegen arme People of Color ausgespielt werden) zu entwickeln, wird selbst das Ende der Masseninhaftierung nicht das Ende der rassisch definierten Kaste in Amerika bedeuten. Es wird unausweichlich ein neues System rassistischer sozialer Kontrolle entstehen, das wir nicht voraussehen können, genauso wie das gegenwärtige System der Masseninhaftierung vor dreißig Jahren von niemandem erahnt wurde. Keine Aufgabe der Bewegung für Rassengerechtigkeit ist heute dringlicher, als dafür zu sorgen, dass Amerikas gegenwärtiges rassisches Kastensystem sein letztes sein wird.