Buch lesen: «Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele»

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Regina Bäumer · Michael Plattig

Aufmerksamkeit ist
das natürliche Gebet der Seele

Geistliche Begleitung in der Zeit

der Wüstenväter und der personzentrierte Ansatz

nach Carl R. Rogers – eine Seelenverwandtschaft?!

Regina Bäumer

Michael Plattig

Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele

Geistliche Begleitung

in der Zeit der Wüstenväter und

der personzentrierte Ansatz

nach Carl R. Rogers –

eine Seelenverwandtschaft?!


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

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© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de) Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-429-03510-5 (Print) 978-3-429-04641-5 (PDF) 978-3-429-06051-0 (ePub)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im SS 1998 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften II der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie nur geringfügig verändert.

Die Idee für diese Arbeit erwuchs aus den Gesprächen der beiden Autoren über ihre Erfahrungen im Rahmen von geistlicher und therapeutischer Begleitung von Menschen. Beide Autoren nahmen an der internationalen Tagung „Prayer and Spirituality in the Early Church“ der Katholischen Universität von Melbourne (Australien) im Juni 1996 teil. Dem schloß sich ein Studienaufenthalt in Washington an der Catholic University of America und an der Washington Theological Union (Ordenshochschule) an.

Bei unserer Zusammenarbeit an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster bzw. dem dort ansässigen Institut für Spiritualität ergab sich ein reger Austausch. Eine gemeinsame Lehrveranstaltung an der Hochschule im SS 1994 und ein Fortbildungskurs am Institut für Spiritualität ließen das Projekt reifen.

War unser Interesse am Thema zunächst nur persönlicher und kollegialer Art, so kamen wir im Zuge unserer Forschungsarbeiten immer mehr zu der Erkenntnis, daß es lohnenswert sei, unsere Ergebnisse und Anregungen, die wir gewonnen hatten, einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

In der Zeit unserer Arbeit wurden wir von vielen Menschen begleitet und unterstützt, und zwar auf ganz unterschiedliche Weise:

Die Karmeliten in Australien und in den USA gewährten uns großzügige Gastfreundschaft während unserer Auslandsaufenthalte. Der Louis Hermann and Susan Hamilton Rogge Fund (Washington D.C.) unterstützte unsere Forschungen finanziell.

Die Franziskaner - damals noch in Münster am Hörsterplatz - ermöglichten es uns, die Arbeit in Ruhe verfassen zu können.

Es gab das Interesse all derer, die von unserem Projekt hörten und uns ermunterten, an einer Veröffentlichung zu arbeiten und es gab die kritischen und gleichwohl konstruktiven Nachfragen und Anregungen all derer, die mitreden konnten und die uns damit auch über schwierige Phasen hinweghalfen.

Die Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster gewährte uns ein Forschungsfreisemester.

Wir bedanken uns an dieser Stelle für alle Unterstützung, ohne die unser Vorhaben nicht hätte Gestalt annehmen können.

Unser besonderer Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Rainer Kampling für die Begleitung und die Begutachtung dieser Arbeit. Wir bedanken uns bei Frau PD Dr. Dorothea Sattler für die Erstellung des Zweitgutachtens. Sr. Katharina Schuth OSB danken wir dafür, daß sie die Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen hat, kurzfristig, genau und freundlich.

Erwähnen möchten wir auch all die Menschen, die sich in Krisensituationen an uns gewendet haben, in unserer jeweiligen Funktion als Therapeutin oder Priester, und aus deren Vertrauen und deren Lebenskraft unsere Erfahrungen als Begleiterin/Begleiter erwachsen sind, die wir hier einbringen.

Dieses Buch ist geschrieben worden mit der Option, „gut lesbar“ zu sein, will sagen, daß es für alle Leserinnen und Leser, die Erfahrungen und Interesse im und am Thema haben, einen Zugang gibt, der nicht verstellt ist durch zu „hohe Wissenschaftlichkeit“ oder zu „flache Popularität“.

Wir stellen uns vor, daß das Spektrum unserer Leserschaft breit gefächert ist und daß es sehr unterschiedliche Vorkenntnisse und Interessen gibt. Die Aufteilung der Kapitel und die Überschriften sollen helfen, jedem den Einstieg an der Stelle zu ermöglichen, wo sein Interesse liegt und sich von da aus „vor- oder zurückzuarbeiten“, je nachdem, wohin ihn oder sie die Neugier oder die gewonnenen Anregungen führen.

Vorwort zur Neuherausgabe

Im Rahmen des Instituts für Spiritualität an der Phil.-Theol. Hochschule Münster haben wir inzwischen eine berufsbegleitende Fortbildung Geistliche Begleitung und den berufsbegleitenden Masterstudiengang Theologie der Spiritualität entwickelt und installiert. Für diese Studien ist diese Arbeit von grundsätzlicher Bedeutung, weshalb wir uns entschieden haben, das Buch in dieser Form neu herauszugeben. Der Text wurde weitgehend in der ursprünglichen Form belassen. Ebenso die Literaturliste, die allerdings durch einen zweiten Teil mit aktueller Literatur ergänzt wurde.

Wir hoffen, dass unsere Studie auch über das Institut für Spiritualität hinaus allen Interssierten auf dem Gebiet von Geistlicher Begleitung und therapeutischer Arbeit Anregungen für die eigenen Überlegungen und Reflexionsprozesse liefert.

Münster, im Januar 2012


Regina Bäumer P. Michael Plattig O.Carm.

Gliederung

0. Einleitung

I. Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern und Therapeutische Begleitung bei Carl R. Rogers - Darstellung

I.1. Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern

I.1.A. Kirchengeschichtliche Verortung der Wüstenväter

I.1.B. Die Wüste und der Kampf mit den Dämonen

I.1.B.a. Die biblische Sicht der Wüste als Ort der Erwählung, des Bundes und der Prüfung

I.1.B.b. Die Vorstellungen des zeitgenössischen Hellenismus von der Wüste als dem idealen Ort eines gesunden und zurückgezogenen Lebens

I.1.B.c. Die religiös-mythische Deutung der Wüste als Bereich des Todes und der lebensbedrohenden Gefahr, als Ort der Dämonen

I.1.C. Die Entwicklung von der Anachorese zum Koinobitentum

I.1.D. Die Apophthegmata und Vitae Patrum

I.1.D.a. Quellenlage und Verfasserfrage

I.1.D.b. Die literarische Form

I.1.D.b.α. Anekdotisches Apophthegma

I.1.D.b.β. Gleichniserrzählungen

I.1.D.b.γ. Das Logion

I.1.D.c. Schriftbezug

I.1.D.d. Wunder und Visionen

I.1.D.e. Verschriftlichung, Redaktion und Wirkungsgeschichte

I.1.E. Evagrios Ponticos und Johannes Cassian

I.1.E.a. Evagrios Pontikos

I.1.E.b. Johannes Cassian

I.1.E.c. Johannes Cassian als Vermittler des Evagrios Ponticos im Westen

I.1.F. Menschenbild der alten Mönche

I.1.F.a. Auseinandersetzung mit den Gedanken, Leidenschaften und Dämonen

I.1.F.b. Der Umgang mit dem Sünder - Barmherzigkeit und Vergebung

I.1.F.c. Gehorsam in der Beziehung zum Altvater

I.1.G. Ziel und Praxis Geistlicher Begleitung

I.1.G.a. Zielbeschreibung

I.1.G.b. Methode

I.1.G.b.α. Konkrete Weisung

I.1.G.b.β. Trösten und Ermutigen

I.1.G.b.γ. Geduld und Langmut

I.1.G.b.δ. Behutsam zur Wahrheit führen und keine Entscheidung abnehmen

I.1.G.b.ɛ. Verweigerung des Wortes

I.1.G.b.ζ. Gefühle und Bedürfnisse zulassen

I.1.H. Die Rolle des geistlichen Begleiters im frühen Mönchtum

I.1.I. Zusammenfassung

I.2. Der personzentrierte Ansatz nach Carl. R. Rogers

I.2.A. Einleitung

I.2.B. Zur Biographie von Carl Ranson Rogers

I.2.C. Anthropologische Voraussetzungen

I.2.D. Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie

I.2.D.a. Beziehung

I.2.D.b. Inkongruenz

I.2.D.c. Echtheit

I.2.D.d. Bedingungslose positive Zuwendung

I.2.D.e. Empathie

I.2.D.f. Kommunikation des empathischen Verstehens

I.2.D.g. Folgerungen

I.2.E. Der therapeutische Prozeß nach C.R. Rogers

I.2.F. Unterscheidende Merkmale der Gesprächspsychotherapie

I.2.G. Zur Kritik an C.R. Rogers’ Menschenbild

II. Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern und Therapeutische Begleitung bei Carl R. Rogers - Zusammenschau

II.0. Einleitung

II.1. Anthropologische Voraussetzungen

II.2. Beziehung

II.3. Inkongruenz

II.4. Echtheit

II.5. Bedingungslose positive Zuwendung

II.6. Empathie

II.7. Prozeß

II.8. Zusammenfassung

III. Bedeutung für die Praxis

III.0. Einleitung

III.1. Pastorale Theorie und Praxis

III.1.A. Aspekte der Tradition und ihre Implikationen für heute

III.1.A.a. Buße und Geistliche Begleitung

III.1.A.b. Katechese und Geistliche Begleitung

III.1.A.c. Biographische Entwicklung und Geistliche Begleitung

III.1.B. Aspekte des Verhältnisses von Seelsorge und Psychotherapie

III.1.C. Konsequenzen für eine Praktische Theologie

III.1.D. Konsequenzen für Geistliche Begleitung heute

III.2. Konsequenzen für die Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern

IV. Schlußwort

Anmerkungen

Literatur

Neuere Literatur in Auswahl

0. Einleitung

„Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele“1

Geistliche Begleitung in der Zeit der Wüstenväter und der personzentrierte Ansatz nach Carl R. Rogers - eine Seelenverwandtschaft?!

Geistliche Begleitung nennt man in der christlichen Tradition die helfende Beziehung zwischen einem ratsuchenden Gläubigen und einem Seelsorger, einer Seelsorgerin. Begleitung und Hilfestellung ergeben sich in den Gesprächen, die Ratsuchender und Seelsorger/in in regelmäßigen Abständen miteinander führen. Diese Form der Individualseelsorge zieht sich durch die gesamte Geschichte des Christentums. Die zunehmende Individualisierung der Seelsorge heute führt zu einer gesteigerten Nachfrage nach Geistlicher Begleitung.2 Die gegenwärtige Praxis, die zur Zeit auffindbare theologische Literatur zu diesem Thema und die meisten Ausbildungsgänge zum geistlichen Begleiter sind geprägt vom ignatianischen Hintergrund, von seinen Exerzitien als einer Intensivform Geistlicher Begleitung.

Dies hat historische und systemische Gründe. Nach dem Trienter Konzil übernahmen Jesuiten die Geistliche Begleitung für den heranwachsenden Klerus in den Kollegien und Priesterseminaren.3 Dies führte zu einer Focusierung auf die ignatianische Form der geistlichen Begleitung. Daneben zeigt sich bis heute, daß der systematisch durchgearbeitete und erprobte Ansatz der ignatianischen Exerzitien eine gute Grundlage für Geistliche Begleitung bietet.

Die christliche Tradition Geistlicher Begleitung ist jedoch wesentlich breiter, sie birgt unterschiedliche und unterscheidbare Konzeptionen, angefangen bei den „Sprüchen“ der Wüstenväter und -mütter (Apophthegmata Patrum) im 4./5. Jahrhundert bis hin zu den Anleitungen zu einem frommen Leben (Philothea) bei Franz von Sales im 17. Jahrhundert.

Von daher kann man nicht von der geistlichen Begleitung schlechthin, sondern nur von Geistlicher Begleitung in einer bestimmten Schule oder in einer Mischung unterschiedlicher Ansätze sprechen.

Seit der beginnenden Auseinandersetzung der Theologie mit der Psychologie, gibt es in der Beschäftigung mit Geistlicher Begleitung die Tendenz, Anleihen bei der Psychologie zu machen. Im Zuge dieses Prozesses geriet die Geistliche Begleitung oft in Konkurrenz zu sich entwickelnden Therapieformen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, das Eigene der geistlichen Begleitung zu profilieren und sich immer wieder von der Psychologie abzugrenzen, wobei diese eher als Hilfswissenschaft betrachtet wurde.

Als Beispiel mag J. Sudbrack dienen, der etwa die psychologischen Erkenntnisse, Ignatius zitierend, zu den „übrigen Dingen auf dem Angesicht der Erde“ zählt, die dem letzten Ziel untergeordnet sind, nämlich: „Der Mensch ist geschaffen, um Gott, unseren Herrn, zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und zu dienen...“4. Das „Psychologische“ bildet in seiner Gliederung die Stufe drei nach dem „Somatischen“ und „Pädagogischen“ auf dem fünfstufigen Weg über das „Mystagogische“ (Stufe vier) zum „Geistlichen“. Diese klassische Unterordnung der Psychologie unter die Theologie und damit ihre Einordnung unter die Hilfswissenschaften der Theologie bzw. des Geistlichen, behandelt die psychologischen Erkenntnisse sehr von oben herab und bedient sich ihrer oft blauäugig und unreflektiert im Bewußtsein der Überlegenheit des eigenen Standpunkts. Psychologie wird in dieser Sicht immer als defizitär betrachtet, als Zugang zum Menschen und zur Welt, dem das „Eigentliche“ mangelt.

Allmählich gestaltet sich die Beziehung versöhnter; ein Interesse an gegenseitiger Befruchtung scheint zu wachsen. Dabei ist auffällig, daß die theologischen Disziplinen mehr und selbstverständlicher Erkenntnisse der Psychologie gebrauchen als umgekehrt. Allerdings fällt auch auf, daß in der theologischen Literatur zur geistlichen Begleitung von „Therapie“ oft allgemein und nicht differenziert gesprochen wird, daß weder Schulen noch Grundansätze der Psychologie sauber unterschieden werden bzw. daß klar Bezug darauf genommen wird.

K. Schaupp z. B. behandelt das Thema der Abgrenzung zu Therapie explizit auf einer halben Seite seiner Einführung in die Geistliche Begleitung5. Er unterscheidet Therapie und Geistliche Begleitung im Hinblick auf das Ziel, das bei der Therapie eine „Freiheit von ...“ sei, während es bei Geistlicher Begleitung um eine „Freiheit für...“ gehe. Es gehe also bei der Therapie mehr um die Bearbeitung innerpsychischer Konflikte, um Einbeziehung unbewußten Materials, damit Therapie hilfreich für die Identitätsfindung sein könne.

Dies trifft jedoch so nur für problemorientierte Therapieformen zu. Die person-zentrierte Therapie nach C.R. Rogers z.B. würde diesen Therapieansatz ablehnen. Ihr geht es nicht primär um die Lösung eines Konflikts oder um die Bearbeitung unbewußten Materials, sondern um die Hilfe zur „Veränderung durch Verstehen“6. Die Perspektive ist also auch hier nicht eine Freiheit von bestimmten Symptomen, sondern eine Freiheit für Veränderung und Entwicklung. Schaupps Beobachtung trifft also, wenn überhaupt, nur auf einen Teil der Therapieformen zu.

Solche Positionen, so unzureichend sie auch sind, machen jedoch eines deutlich, daß man heute im gesamten Bereich der geistlichen Begleitung nicht mehr ohne die Erkenntnisse aus der Psychologie auskommen kann und auskommen darf.

Unser Interesse ist es, Erkenntnisse aus der Tradition Geistlicher Begleitung und aus der humanistischen Psychologie nebeneinander zu stellen.

Im Bereich der geistlichen Begleitung beziehen wir uns auf die Konzepte und Formen der Wüstenväter und -mütter. Im Bereich der humanistischen Psychologie beziehen wir uns auf C.R. Rogers und sein Konzept.

Bei den Wüstenvätern und -müttern findet sich die Ursprungsform Geistlicher Begleitung in der christlichen Tradition, die alle späteren Konzepte beeinflußt hat. In dieser frühen Zeit liegt noch kein durchstrukturiertes Konzept Geistlicher Begleitung vor, wie etwa die „Exerzitien“ des Ignatius oder die „Philothea“ des Franz von Sales. In der Quelle, den „Apophthegmata Patrum“ (= Sprüchen der Väter), sind kurze Geschichten, bzw. wie der Titel sagt, Aussprüche von Vätern und einigen Müttern gesammelt. Es schien uns lohnend, auf diese Ursprungsform zurückzugreifen, da sie durch ihre offene Struktur einem Vergleich mit psychologischen Formen der Begleitung zugänglicher ist. Bei der Beschäftigung mit den Apophthegmata Patrum und in interdisziplinären Gesprächen tauchten immer wieder Verbindungen auf, sprangen Parallelen mit der Gesprächspsychotherapie nach C.R. Rogers ins Auge.

Neben dieser assoziativen Anknüpfung spricht für den Vergleich mit C.R. Rogers seine weitgehende Rezeption im Rahmen seelsorglichen Handelns.7

Nach dem Erscheinen seines Buches „On Becoming a Person“ 1961, das Rogers unerwartet große Anerkennung brachte und eine millionenfache Auflage erzielte, wurde er für die nächste Dekade zum bedeutendsten Psychologen Amerikas. Gewisse Ideen von Rogers wurden so weitgehend akzeptiert und rezipiert, daß es schwierig ist, zu ermessen, wie revolutionär sie in ihrer Entstehungszeit waren.8

Der personzentrierte Ansatz, der von C.R. Rogers entwickelt wurde, ist im Rahmen der pastoralen Praxis sehr weit verbreitet und bildet die Grundlage für verschiedene Ausbildungsgänge (z.B. Beratungs-, Telefon- und Krankenhausseelsorge)9. Die Grundideen Rogers’ finden sich allerdings oft auch unter anderen Überschriften wieder, wobei der Zusammenhang mit seinem Konzept dann meist nicht dokumentiert oder belegt ist, doch bei näherer Auseinandersetzung deutlich wird.10

So könnte man sagen, daß C.R. Rogers und sein personzentrierter Ansatz für den ganzen Bereich der Pastoralpsychologie, der praktischen Seelsorgsarbeit, der Individualseelsorge eine ähnliche Rolle spielt wie die Wüstenväter und -mütter für die Geistliche Begleitung.

Es geht nun in dieser Arbeit nicht darum, in einem weiteren Versuch zu definieren, was Geistliche Begleitung ist, oder die Grenzen zwischen Geistlicher Begleitung und Psychotherapie zu ziehen, sondern unser Ansatz ist zunächst ein rein informativer. Wir möchten interessierten Leserinnen und Lesern aus dem Bereich der therapeutischen und der seelsorglichen Arbeit Einblick geben in die Geistliche Begleitung der Wüstenväter und -mütter und in die Grundlagen der Gesprächspsychotherapie nach Rogers. Wir wollen Verknüpfungen herstellen und Unterschiede aufzeigen und gehen davon aus, daß diese Zusammenschau für beide Seiten interessant sein kann. Die Relevanz von C.R. Rogers für Geistliche Begleitung ergibt sich aus der bereits erwähnten rein pragmatischen Tatsache seiner Rezeption im Bereich der praktischen Theologie. Die Relevanz der Wüstenväter für therapeutische Arbeit heute ergibt sich aus den historischen Zusammenhängen. Die Wüstenväter und -mütter verstanden sich ausdrücklich als Therapeuten, denen die Heilung des ganzen Menschen wichtig war. Sie sind damit die Ahnen heutiger Therapeutinnen und Therapeuten. Wie jede Beschäftigung mit Geschichte identitätsstiftend sein und Impulse für die Gegenwart liefern kann, so auch die Beschäftigung mit der „Therapie“ zur Zeit der frühen Kirche. Es wird uns immer wieder darum gehen, Impulse aufzuzeigen, die sich Geistliche Begleitung nach dem Modell des frühen Mönchtums und Psychotherapie nach C.R. Rogers gegenseitig geben können. Dieser Austausch, so unsere Erfahrung, ist für beide bereichernd. Diese Bereicherung ist unser Ziel!

Darüber hinaus sehen wir wichtige Konsequenzen dieser Betrachtung für die Gestaltung der Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die eigens formuliert werden sollen.

Bei allem Bemühen, dieses Anliegen in schriftlicher Form vorzustellen, sehen wir deutlich die Begrenztheit des Unterfangens. Wir schließen uns M. Josuttis an, der für seine „Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität“ formuliert hat: „Ein Buch ist hier, wie auch in anderen elementaren Lebensbereichen, ein Medium, das Distanzen schafft, die man beim besten Willen nicht überspringen kann. Allenfalls kann es Impulse vermitteln, Neugierde wecken, Suchbewegungen auslösen: Wo kann ich das lernen, von dem hier die Rede ist? Wie kann ich eine/r werden, der/die andere auf dem Weg in das Leben kraft eigener Erfahrung führt?“11