Mit Anlauf nach Berghimmel

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Kapitel 3



W



as war denn das für ein Schrillen? Heute war doch Sonntag, der Wecker konnte es nicht sein. Noch einmal erklang das schrille Klingen und ich fuhr im Bett hoch. Jan lag nicht mehr neben mir. Er musste schon zum Aufzug gegangen sein und hatte wohl nachgeschaut, wer da kam. Das Schrillen war nämlich unsere Wohnungsklingel. Wollte jemand ohne Zugangsberechtigung zu uns in das Penthouse, so wurde dies durch das Klingeln angezeigt. Über eine Kamera konnte man direkt sehen, wer im Aufzug wartete. Entweder gab man seine Genehmigung, oder man konnte mit einer Gegensprechanlage Kontakt aufnehmen.



Ich sah auf den Wecker neben mir. Gerade mal 10 Uhr morgens. Am Wochenende schliefen wir gerne schon mal bis mittags. Ich stemmte mich aus dem Bett und schlurfte noch recht verschlafen in den Wohnraum. Ich hatte ein T-Shirt an, was mir bis zu den Knien reichte. Ich liebte solche langen gemütlichen Schlabbershirts zum Schlafen. Mein brauner, kinnlanger Bob stand sicher wieder in alle Himmelsrichtungen ab. Auch wenn er ansonsten pflegeleicht war, nach dem Schlafen sah ich immer aus, als ob nachts irgendwelche Vögel versucht hatten, Nester darin zu bauen.



Gerade als ich mich genüsslich reckte und ein herzhaftes Gähnen zu hören war, betrat Jan mit noch zwei weiteren Personen das Wohnzimmer.



„Guten Morgen“, gähnte ich.



Der Mann, der bei Jan stand, taxierte meine langen schlanken Beine. Was ein Spanner, dachte ich mir. Die Frau dagegen, schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. Die Lippen waren fest aufeinander gepresst. Ach, was eine frigide Zicke, schoss es mir bei ihrem Anblick durch den Kopf.



„Schatz, darf ich dir meine Eltern vorstellen?“



Ich erstarrte mitten im Strecken, mein Mund stand noch auf. In dem Moment gab ich sicher das perfekte Bild für ein Magazin ab. Eins, was über verzweifelte arme Frauen berichtete. Mit dem Bild würde mein Spendenkonto für die erbärmlichste Frau auf Erden im Nu überschwellen.



Nur stand ich jetzt hier vor meinen Schwiegereltern in spe. Jetzt sicher ganz weit in speeee. Ich ließ die Arme sinken und machte ein paar unbeholfene Schritte in Richtung seiner Eltern.



„Am besten ziehen Sie sich erst einmal etwas an, bevor Sie uns begrüßen.“ Eine eiskalte Dusche war gegen die Stimme von Jans Mutter heißes Wasser. Ihr Blick schickte noch Eisblitze hinterher.



„Bin sofort wieder da“, nuschelte ich und verschwand blitzschnell im Schlafzimmer. Scheiße, das war jetzt aber gehörig schief gegangen.



Ich kramte im Schrank nach Nylonstrumpfhose, einem schwarzen Rock und eine weiße, figurbetonte Bluse. In Rekordzeit duschte ich mich, föhnte mir die Haare, legte ein dezentes Makeup auf und schlüpfte in die bereitgelegten Anziehsachen. Mist, die Pumps befanden sich natürlich nicht im Schlafzimmer. Warum musste Jan auch so verdammt ordentlich sein? Schuhe gehörten bei ihm in den Schuhschrank, der sich im Eingangsbereich befand. Dafür musste ich aber am Wohnzimmer vorbei. Entweder nur in Strumpfhose, oder in meinen Hauspuschen, stilecht im Zombielook.



Die konnte ich auf keinen Fall anziehen, da würde Jans Mutter doch gleich in Ohnmacht fallen. Wobei wahrscheinlich jeder Zombie, sollte mal eine Seuche ausbrechen, in ihrer Gegenwart Selbstmord begehen würde. Autsch, das waren aber gemeine Gedanken. Dabei hatte ich sie noch gar nicht richtig kennengelernt.



Ich entschied mich, die Schlappen auszulassen und leise Richtung Eingang zu schleichen. Vielleicht hatte ich Glück und sie standen gerade mit dem Rücken zur Tür. Ich wagte mich also Richtung Aufzug, als ich in Höhe des Wohnzimmers durch die Stimme von Jans Mutter abgelenkt wurde.



„Ich bin wirklich schwer enttäuscht mein Sohn. Wir waren zum Brunch verabredet und nichts ist vorbereitet. Diese Frau hat einen sehr schlechten Einfluss auf dich.“



„Sybille, es tut mir leid“, hörte ich Jan sagen. Er nannte seine Mutter Sybille? Ich blieb stehen und musste dem Gespräch lauschen. Und der Spruch,

der Lauscher an der Wand, hört seine eigene Schand,

 sollte nun mit voller Wucht über mich hereinbrechen.



„Warum warst du heute noch nicht in der Firma? Überhaupt die letzten Wochenenden hast du dich dort sehr rar gemacht!“ Sein Vater war anscheinend hierüber aufgebrachter, als dass wir – nö, nicht wir, sondern Jan – den Brunch vergessen hatten. Hätte ich davon gewusst, hätte ich mir doch einen Wecker gestellt. Aber alles hätte half jetzt nicht weiter.



„Nina wollte mit mir mehr Zeit verbringen. Gerade jetzt vor Weihnachten.“



„Sohn, da lässt du dir so schnell von ein paar dürren Beinen den Blick vernebeln? Die Firma wird dich ein Leben lang begleiten, diese Nina dagegen, wird sicher nicht lange an deiner Seite bleiben. Wenn eine Frau jetzt schon solche Einschnitte von dir verlangt, wird dass, wenn ihr länger zusammen seid, nicht besser werden. Junge, lass dich doch nicht von einer Frau so unterbuttern. Deine Mutter stand und steht immer hinter mir. So eine Frau brauchst du auch.“



„Aber ich liebe Nina, Heinrich.“



„Papperlapapp, das ist nur ein Strohfeuer. Sie sieht ganz hübsch aus, aber du brauchst, um weiter erfolgreich zu sein, eine ganz andere Art von Frau an deiner Seite. Sie wird dir nie den Rücken so frei halten, wie ich das bei deinem Vater tue. Aber deine Cousine wäre eine perfekte Kandidatin. Die habe ich übrigens zu Weihnachten zu uns eingeladen. Du wirst natürlich auch dabei sein. Eine Nina ist aber nicht vorgesehen.“



Ich hielt den Atem an. Das war ja wohl … mir fielen schon gar keine Wörter mehr dafür ein. Was bildeten sich seine Eltern eigentlich ein? Die ganze Situation war total grotesk. Jan sprach seine Eltern mit den Vornamen an, seine Eltern fanden mich beide total scheiße und Jan hatte sich bisher sehr zurück gehalten. Ich wartete also mit angehaltenem Atem, ob er nun endlich auf Gegenwehr gehen würde und mich verteidigen würde.



„Ich werde Nina auf keinen Fall in den Wind schießen.“



Ha, da kam der Gegenangriff, weiter so!



„Ich muss mir aber eine plausible Erklärung einfallen lassen, warum sie nicht mit zu euch zum Weihnachtsessen kommen kann. Wenn ihr meint, ich soll meine Cousine besser kennenlernen, dann sicher ohne Nina.“



Zitternd ließ ich den Atem wieder entweichen. Was war das jetzt? Ich konnte es nicht fassen, was ich hier hörte. Auf der einen Seite wollte er mich warm halten, auf der Anderen aber seine Cousine treffen – ohne mich. So etwas würde ich nicht mit mir machen lassen.



Kopflos rannte ich ins Schlafzimmer, zog meine Koffer vom Schrank herunter. Laut polternd kamen sie neben mir runter. Ich riss die Schranktüren auf und fing an, meine Sachen einzupacken. Lautlos liefen mir die Tränen über die Wange. Es schmerzte so sehr. Ich dachte Jan würde mich lieben. Dieses verdammte Arschloch.



„Nina, was ist hier los?“



Ich fuhr herum und sah Jan mit tränenverhangenem Blick an.



„Verpiss dich.“



Er kam auf mich zu. „Nina, rede mit mir. Was ist los?“



„Ich sagte, verpiss dich!“



Jan stand vor mir und wollte gerade nach meinen Händen greifen, als ich nun meinerseits ihn mit eiskaltem Blick ansah. „Fass mich an und ich breche dir jeden einzelnen Finger.“ Meine Worte kamen zischend heraus. Ich fühlte mich mittlerweile wie ein Eisblock.



„Shit, du hast das Gespräch im Wohnzimmer mit angehört. Es ist nicht so, wie du es verstanden hast Nina.“



Wollte der mich jetzt verarschen?



„Jan, ich bin weder taub, noch blöd. Hol jetzt bitte meine Sachen aus dem Wohnzimmer, die mir sind, dann werde ich verschwinden.“



„Nina, lass uns doch über alles vernünftig reden.“



„Du kannst mich mal am Arsch lecken Jan! Hol meine Sachen, habe ich gesagt. Wir werden jetzt nicht darüber reden, und in Zukunft auch nicht. Ich brauche keinen Mann, der nicht hinter mir steht. Der vor allen Dingen nicht zu mir steht!“



„Nina, nun warte doch mal. Lass uns… autsch, was soll das?“



Jan rieb sich das Schienbein. Ich hatte nun wirklich die Nase voll. Ich musste hier raus. Auf keinen Fall würde ich mir die Blöße geben und vor ihm, oder seinen Eltern, heulen.



„Was ist denn hier los?“



Seine Eltern standen nun auch noch in der Tür.



„Sie scheinen doch nicht von gestern zu sein. Nach was sieht es denn aus?“, antwortete ich nicht gerade freundlich.



„Sie packen?“



„Ganz genau!“



„Sie ziehen aus?“



„Wow, Sie sind ja richtig gut.“



„Nina, nun warte doch. Wir können doch über alles reden. Du musst doch nicht gleich deine Sachen packen.“



Ich drehte mich wieder zu Jan um. „Jan, falls du dich erinnern kannst, hatten wir dieses Thema zu Anfang, als ich bei dir eingezogen bin. Warum wohl habe ich mich so lange dagegen gewehrt? Aus diesen Gründen Jan. Eben weil ich geahnt habe, dass andere unsere Beziehung nicht gutheißen und du dann nicht zu mir stehst. Ich habe dir damals gesagt, dass du dir wirklich sicher sein sollst. Das bist du nicht und ich ziehe sofort meine Konsequenzen. Ich muss mich nicht so hintergehen lassen.“



Ich holte tief Luft, drehte mich wieder zu meinen Koffern und packte weiter.



„Konsequent sind Sie, das muss man Ihnen lassen.“ Jans Vater schaute mir anerkennend beim Packen weiter zu.



Ich ignorierte ihn und wandte mich wieder an Jan. „Würdest du jetzt bitte die restlichen Sachen holen? Ich möchte los, die Fahrt ist weit.“



„Du willst jetzt nach Hause fahren?“



„Ja natürlich. Ich werde mir sicher jetzt kein Hotelzimmer nehmen und die Vorweihnachtszeit dort verbringen. Übrigens Jan, hiermit kündige ich auch. Sofort und auf der Stelle.“



„Du hast aber eine Kündigungsfrist …“



„Du bestehst nun wirklich auf die Kündigungsfrist?“

 



Jans Vater mischte sich wieder ein. „Ich würde einen Auflösungsvertrag vorschlagen, der auf Montag datiert ist. Die Personalabteilung kann Ihnen diesen zuschicken. Am besten wäre per Fax, damit Sie ihn zügig unterschreiben können.“



„Ich gebe Montag die Faxnummer meiner Eltern an die Personalabteilung weiter.“ Ich musste mich Räuspern. „Und vielen Dank.“



„Wissen Sie Frau Sandner, man muss Ihnen ja nicht noch Steine in den Weg legen.“



Jan war unterdessen meine restlichen Sachen aus der Wohnung holen gegangen und ich stand nun fertig bepackt im Schlafzimmer. Er hielt mir die Stiefel hin.



„Nina…“



„Lass gut sein Jan. Es hat keinen Sinn. Irgendwie habe ich es von Anfang an geahnt.“



Ich zog mir Stiefel und Mantel an. Dann schnappte ich mir meine Handtasche und den erstbesten Koffer, der neben mir stand.



„Lass Nina, das werde ich dir zum Wagen bringen lassen.“



„Danke.“



Ich ging an Jans Eltern mit erhobenem Kopf vorbei, nahm meinen Trolley, den man leicht ziehen konnte und verschwand zum Aufzug. Ohne Umwege fuhr ich in die Tiefgarage und stiefelte zu meinem kleinen, alten Opel Corsa. Puh, das würde mit den Koffern ganz schön eng werden, aber der kleine Wagen würde das schon packen und ich auch!



Neben mir erschienen Jan und F-P, die meine Koffer und einige Taschen dabei hatten.



„Soll ich dir noch helfen?“



„Nein. Das schaffe ich schon alleine. Fahr du wieder zu deinen Eltern hoch.“



„Wollen wir nicht nochmal über…“



„Wie oft noch?“, unterbrach ich ihn. „Wirklich, lass es gut sein.“



„Das hab ich nicht gewollt.“ Er zog den Kopf ein und ging weg.



Ich drehte mich zu dem Haufen an Koffern um und wäre am liebsten jetzt schon verzweifelt darauf heulend zusammengebrochen. Ein Räuspern riss mich zum Glück aus dieser Schmach.



„Frau Sandner, wenn ich Ihnen behilflich sein darf?“ F-P hatte mich also nicht verlassen.



„Würden Sie das wirklich? Ich meine, nach dem Desaster am Freitagabend…“



„Das war doch kein Desaster. Und nun lassen Sie mich die Koffer einpacken, dann müssen Sie nicht länger hier in der Kälte stehen.“



Geschickt und wirklich schnell, ließ der Portier die Koffer in den kleinen Corsa verschwinden. Kofferraum, und Rücksitzbank waren allerdings voll beladen. Aber es passte wirklich alles hinein.



„Vielen, vielen Dank!“



„Nichts zu danken. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt und fahren Sie bitte vorsichtig.“



Ich wusste nicht was mich antrieb, aber ich musste F-P umarmen. Als ich ihm noch einen dicken Schmatzer auf die Wange drückte, war es ihm sichtlich unangenehm.



„Und Sie, bleiben so wie Sie sind. Auch wenn Sie ein wenig zugeknöpft herüberkommen.“ Ich grinste nun wieder. Dann schwang ich mich hinter das Lenkrad und fuhr in den Sonntagsverkehr von München hinaus. Hier würden mich jetzt keine zehn Pferde mehr halten. Nun ging es also doch wieder in die Heimat.



Ich fädelte mich auf die Autobahn ein und nachdem ich meine Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, wählte ich per Kurzwahltaste die Nummer meiner Eltern.



Natürlich hatte ich mein Handy in der Freisprecheinrichtung. Bei meinem Pech würde mich sonst sofort eine Polizeikontrolle erwischen.



„Sandner?“



„Hallo Mama, Nina hier.“



„Oh hallo Schatz. Alles in Ordnung? Ich hoffe, du möchtest jetzt nicht für Weihnachten absagen?“



„Nein Mama, ganz im Gegenteil. Ich bin auf dem Weg zu euch. Steht mein Zimmer noch frei?“



„Aber natürlich mein Schatz. Ich werde das Bett gleich frisch beziehen. Fahr bitte vorsichtig!“



„Danke Mama, du bist die Beste. Bis nachher.“



Meine Mutter war wirklich die Beste. Sie fragte nicht nach, was los war. Sicher ahnte sie es, aber sie war so taktvoll, gerade am Telefon nicht damit anzufangen.



Ich dreht das Radio lauter und gab Gas. Mit sagenhaften 100 km jagte ich über die Autobahn. Ich seufzte. Ich kroch natürlich und die Fahrt würde verdammt lange dauern.




Kapitel 4



I



ch versuchte, mich so geschickt als möglich zu strecken. Ich war jetzt 6 Stunden unterwegs und es war nicht mehr weit bis zu unserem kleinen Dorf.



Vor zwei Stunden hatte allerdings dichter Schneefall eingesetzt und ich kroch nun wirklich vor mich hin. Das letzte Stück der Strecke kannte ich zwar auswendig, trotzdem musste ich vorsichtig fahren. Mittlerweile lag eine dicke Schicht Schnee und wie erwartet, war hier bei uns im Hinterland kein Winterdienst unterwegs.



Die letzten Kilometer standen nun bevor. Diese musste ich den Berg hinauf schaffen, wo unser Dörfchen lag. Eigentlich musste ich es nicht schaffen, sondern mein armer altersschwacher Corsa. Bisher kämpfte er sich unermüdlich die kurvige Straße hinauf.



Ich konnte kaum noch die Hand vor Augen erkennen. Die Scheibenwischer arbeiteten unermüdlich und ohne mich hätte es mein Autochen sicher nach Hause geschafft. Aber ich saß immer noch hinter dem Lenkrad. Und das war fatal. Die letzte Kurve nahm ich zu euphorisch und Klein-Corsa kam ins Schlittern. Meine Winterreifen waren nicht mehr die Besten. Hatte ich den Wagen in München fast nie gebraucht, so wurde es mir nun zum Verhängnis. Hektisch bemüht, versuchte ich gegen zu lenken, doch der Wagen schob sich unermüdlich Richtung Graben.



Ein Ruck fuhr durch das Auto. Nun war ich also kurz vorm Ziel vom Weg abgekommen. Ich versuchte, nochmal Gas zu geben, aber der Motor heulte nur auf und die Räder drehten durch. Auch das Einlegen des Rückwärtsganges und schubweises Gasgeben halfen nicht. Ich saß im Graben fest.



Frustriert ließ ich meinen Kopf auf den Lenkrad herabsinken. Ich drehte den Zündschlüssel und der Motor verstummte. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass es erst der Anfang einer Reihe von Pannen war. Denn eine Panne alleine gab es bei mir nicht. Ich saß nun einige Hundert Meter vom Dorf entfernt, mitten im Graben. Mit ein wenig Vorstellungskraft konnte ich sogar die Dächer durch das dicke Schneetreiben erkennen.



Ich nahm mein Handy aus der Halterung, um meine Eltern anzurufen. „Nein“, murmelte ich. Und dann lauter, „verdammt nochmal, das darf jetzt nicht wahr sein!“



Ich hatte genau an der einen einzigen Stelle meine Panne, an der kein Handynetz vorhanden war. Sozusagen ein Funkloch auf dem Berg. Genau an dieser Stelle war unser Bermudadreieck.



Somit blieb mir nichts anderes übrig, als das letzte Stück zu laufen. Oder wenigstens so weit, wie ich wieder Handyempfang hatte. Ich sah nicht gerade erfreut nach draußen in die dichten und großen Schnellflocken. Frau Holle gab jetzt wirklich alles und ich war mir sicher, da halfen noch ein paar Azubis mit.



Ich griff nach meinem Mantel auf dem Beifahrersitz, zwängte mich im Auto schon hinein und drückte gegen die Fahrertür. Ich drückte nochmal. Und noch einmal, bis ich mir eingestehen musste, dass die verdammte Tür nicht aufging.



Ich massierte mir die Schläfen und atmete ruhig ein und aus. Ich schob mich auf die Knie und Richtung Beifahrertür. Hoffentlich ging diese auf. Während ich im Vierfüßlerstand unbeholfen versuchte, die Tür zu öffnen, klopfte es. Ich bekam einen riesen Schreck, Bilder von Massenmördern mit Äxten in der Hand, abgetrennten Köpfen und ganz viel Blut, schossen mir Kinomäßig durch meinen eigenen Kopf. Ich schrie und bäumte mich auf. Als mein Kopf gegen den Himmel des Autodaches stieß, wurde mein Schrei zu einem Wimmern und Stöhnen. Während ich mir mit der linken Hand den Kopf hielt, riss ich mit der rechten Hand beherzt den Rückspiegel ab – der sowieso schon lose war – und drehte mich auf dem Sitz so gut es ging zum Klopfgeräusch hin.



Kampfbereit hielt ich den Spiegel in der Hand, als ich das Gesicht am Fahrerfenster sah. Mein Wimmern wurde wieder zu einem Schrei und vor lauter Angst schmiss ich den Rückspiegel – ich gebe zu, absolut gedankenlos – Richtung Seitenscheibe. Natürlich ging diese nicht zu Bruch, aber das Gesicht verschwand von der Scheibe. Draußen erklang ein Brüllen und nun wurde an der Fahrertür gerissen. Mein Schreien war in ein Jammern übergegangen und ich versuchte mich rückwärts über den Schaltknüppel Richtung Beifahrersitz zu schieben.



Die Fahrertür wurde nun aufgerissen, die Schneeflocken flogen sofort hinein und ich schmiss mich mit einem spitzen Schrei nach hinten. Schemenhaft sah ich die Gestalt näher kommen und trat zu.



„Verdammt noch mal, sind Sie verrückt?“, brüllte die Gestalt. „Wollen Sie mich kastrieren?“



Oh Mist, die Stimme kannte ich doch. Den Schmerz ignorierend und versucht, möglichst meine Stimme unter Kontrolle zu bekommen, fragte ich, „Daniel?“



Ein Kopf tauchte nun vorsichtig an der offenen Tür auf. „Nina, bist du das?“



„Ja“, gab ich kleinlaut zu.



„Wolltest du mich gerade entmannen, oder was war das für eine Aktion?“



Ich schämte mich jetzt wirklich. „Nein, aber als ich hier liegenblieb und dann das Klopfen … ach Menno, ich habe da an den Kopfmörder gedacht.“



Daniel schob sich nun weiter in mein Auto hinein und hielt mir die Hand hin. „Das sind Kindergeschichten gewesen. Du weißt doch, dass dies jedem Jugendlichen hier erzählt wurde – vor allen Dingen den Mädchen – damit sie nicht nachts unterwegs waren.“



Das wusste ich natürlich, aber meine Nerven lagen nun mal blank. Nach all dem Mist, brach ich nun in Tränen aus. Der Schmerz, den ich die ganze Zeit verdrängt hatte, kam nun mit voller Wucht an.



„Scheiße Nina, so war das nicht gemeint.“



Daniel zog mich aus dem Wagen heraus und nahm mich in den Arm. Seine Wachsjacke fühlte sich unangenehm kalt und nass an und doch tat es gut, dass mein alter Jugendfreund mich fest im Arm hielt und ich an seiner Schulter Rotz und Wasser heulen konnte.



„Was ein beschissener Tag“, schniefte ich und löste mich langsam aus Daniels Umarmung.



„Komm, ich nehme dich mit ins Dorf und liefere dich bei deinen Eltern ab.“



Auf der Straße stand der große Range Rover, den Daniel schon lange besaß.



„Könntest du vielleicht mein Gepäck noch…?“



„Steig schon einmal ins Auto ein, ich kümmere mich darum.“



Auf zittrigen Beinen ging ich zu Daniels Auto und stieg ein. Der Motor lief noch und es war mollig warm. Erst jetzt bemerkte ich, dass die kurze Zeit draußen ganz schön kalt gewesen war.



Der Kofferraum wurde geöffnet und die ersten zwei Koffer wurden von Daniel hineingehoben.



„Puh, was schleppst du denn so viel Gepäck mit? Man könnte meinen du würdest hierher ziehen.“ Er grinste mich über die Koffer hinweg von hinten an.



Ich hatte mich auf dem Sitz nach hinten gedreht und spielte nun mit einer Haarsträhne.



„Hups, du scheinst wirklich hierher zu ziehen?“



Auch wenn ich schon einige Jahre nicht mehr hier wohnte, so kannte er die Geste noch von früher. Immer wenn er mit einer Vermutung richtig lag, fing ich unbeholfen an, mit meinem Haar zu spielen. Sogar, als ich die Haare mal rappelkurz gehabt hatte, war dieser Tick nicht verschwunden.



„Ich frage jetzt lieber nicht weiter nach.“



Ich war wirklich froh, dass mich Daniel hier draußen gefunden hatte. Nachdem er das letzte Gepäckstück in seinem Auto verstaut hatte, fuhren wir schweigend zum Dorf. Wie ich es von früher her kannte, war die große Tanne schon geschmückt und das goldene Licht im weißen Schneefall sah einfach traumhaft aus.



Daniel hielt vor dem kleinen Fachwerkhaus meiner Eltern an und ging gleich ans Heck, um die Koffer auszuladen. Während ich noch auf das Haus zuging, wurde schon die Haustür aufgerissen und meine Mutter kam mir entgegen.



„Schatz, wir haben uns schon Sorgen gemacht. Und warum bist du mit Daniel hier? Wo ist dein Auto?“



Hatte sie heute Mittag keine Fragen gestellt, so prasselten diese jetzt auf mich ein.



„Mara, lass unsere Tochter doch erst einmal reinkommen.“



Mein Vater trat an uns heran und nahm mich in den Arm. „Willkommen zu Hause mein Kind.“



Auch mit 25 Jahren war ich immer noch ihr kleines Mädchen. Während mich mein Vater zusammen mit meiner Mutter ins Haus schob, half er Daniel dabei, die Koffer auszuladen.



„Danke Daniel. Möchtest du noch mit reinkommen und dich aufwärmen?“



„Nein Danke Helmut. Ich werde Ninas Auto noch aus dem Graben ziehen, danach müssen meine Tiere versorgt werden.“



Ich trat noch einmal in den Flur, um mich bei Daniel zu bedanken. „Ohne dich wäre das heute ein langer kalter Weg geworden.“ Ich umarmte ihn und ging dann wieder mit meiner Mutter in die Wohnstube. Meine Eltern hatten das Fachwerkhaus vor einigen Jahren gekauft und liebevoll renoviert. Ich würde mein altes Zimmer beziehen. Auf Dauer war das nichts, aber für den Übergang sicher die beste Lösung.

 



„So Nina. Nun erzähl uns doch bitte was vorgefallen ist.“ Meine Eltern setzten sich zu mir auf die große kuschelige Couchgarnitur und warteten ab, dass ich ihnen die Geschichte erzählte.