Dear Sister 1 - Schattenerwachen

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Dear Sister 1 - Schattenerwachen
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Maya Shepherd

Dear Sister 1 - Schattenerwachen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Winter

2. Winter

3. Winter

4. Anonyme Anruferin

5. Winter

6. Winter

7. Winter

8. Winter

9. Anonyme Anruferin

10. Winter

11. Winter

12. Anonyme Anruferin

13. Winter

14. Winter

15. Winter

16. Anonyme Anruferin

17. Winter

18. Winter

19. Winter

20. Eliza

21. Winter

22. Eliza

23. Winter

24. Eliza

25. Winter

26. Eliza

27. Winter

28. Eliza

Danksagung

Impressum neobooks

Prolog

Der Regen der letzten Nacht hatte den Waldboden in eine einzige Rutschbahn verwandelt. Die Polizisten von Wexford kämpften sich in schwarzen Gummistiefeln und neongelben Regenjacken durch die Schlammmassen, während der Nebel ihnen zusätzlich die Sicht erschwerte. Durch den Niederschlag hatten auch die Leichenspürhunde jede Orientierung verloren. Sie rannten aufgebracht voraus und führten die nachfolgenden Menschen im Kreis. Jede Weggabelung sah aus wie die andere. Selbst der zuständige Förster hatte ihnen geraten, die Suche auf die Mittagsstunden zu verschieben, aber sobald vermeintlich Verletzte im Spiel waren, konnte nicht schnell genug gehandelt werden.

Der anonyme Notruf war um drei Uhr morgens auf der Polizeiwache von Wexford eingegangen.

„Hier ist der Notruf neun-neun-neun. Welche Art von Notfall haben Sie zu melden?“

Es war erst nur ein leises Rauschen zu hören gewesen, dann plötzlich eine weibliche, flüsternde Stimme: „Sie verblutet.“

„Können Sie lauter sprechen? Mit wem spreche ich?“

Ein Rascheln drang durch den Lautsprecher, ganz so, als würde jemand schnell rennen und dabei den Hörer gegen die Brust pressen.

„Können Sie mich hören?“, hakte der Polizist nach.

„Raven Nature Reservoir“, kam die gehetzte Antwort.

„Ich möchte Ihnen wirklich helfen, aber dafür müssen Sie mir sagen, was vorgefallen ist und wo genau Sie sich befinden.“

„Sie würden mir nicht glauben“, drang ein unterdrücktes Schluchzen durch den Hörer. Die Frau schien noch sehr jung zu sein, wahrscheinlich noch ein Mädchen.

„Erzählen Sie mir, was passiert ist. Sind Sie auch verletzt? Gibt es noch mehr Verletzte?“

„Ihr Blut wird nicht reichen. Sie ist nicht jung genug“, jammerte das Mädchen verzweifelt. Sie schien völlig vergessen zu haben, mit wem sie sprach.

„Ist dort noch jemand außer Ihnen und der Verletzten?“

Ein greller und panischer Schrei drang plötzlich durch die Leitung. Ein Schrei, der den Polizisten unvermittelt zusammenfahren ließ. Er war so laut und voll blanker Angst, dass er einem die Haare zu Berge stehen ließ.

„Miss, was ist passiert?“, rief der Beamte alarmiert.

Es folgte ein Rascheln wie von einem Handgemenge und dann wurde es still in der Leitung.

Bei einem Notruf schaltet sich automatisch das Ortungsprogramm ein, doch der Anruf war zu kurz gewesen, um eine genauere Position ausmachen zu können, sodass den Polizisten nichts weiter übrig blieb, als einen Radius von fünf Kilometern abzusuchen, ohne genau zu wissen, nach wie vielen Personen sie suchen mussten und in welchem Zustand diese waren.

Mittlerweile war es halb sechs Uhr morgens und alle waren von Kopf bis Fuß durchnässt und durchgefroren. Sie wollten die Suche bereits einstellen, als einer der Hunde plötzlich bellend Alarm schlug. Es kam so überraschend, dass seinem Halter vor Schreck die Leine aus den tauben Fingern glitt und der Hund herrenlos durch das Unterholz wetzte. Der Alarm brachte neues Leben in den Suchtrupp und alle stürzten schlitternd hinter dem Tier her. Doch schon kurze Zeit später kam die Gruppe zum Stehen, als sie durch das Geäst den flackernden Schein von Kerzen in der Ferne wahrnahm. Das Gebell des Hundes war verstummt. Das befremdliche Licht hatte etwas Beklemmendes an sich, war es doch ein deutliches Zeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte.

Fast ehrfürchtig und doch mit gezogenen Waffen näherte sich die Truppe der Lichtquelle. Sie ließen die Waffen sinken, als sie versuchten, das sich ihnen bietende Bild mit dem Verstand zu erfassen.

Unter dem Astdach einer uralten Tanne, geschützt vor dem Regen, lag ein nackter Körper auf Moos gebettet. Um die Gestalt herum war ein perfekter Kreis aus einem weißen Pulver gebildet worden. Doch das Pulver war an vielen Stellen nicht mehr weiß, sondern von Blut dunkelrot verfärbt. In etwa fünfzehn Zentimeter Abständen waren Kerzen um den Kreis herum aufgestellt worden. Der Körper in der Mitte des Kreises gehörte einer jungen Frau, die höchstens achtzehn Jahre alt sein konnte. Die Aussage der Anruferin, dass das Opfer nicht jung genug sei, erschien deshalb umso absurder. Ihre bleiche Haut hob sich gespenstisch von dem dunklen Moos ab. Ihr ganzer Körper war von Schnitten übersäht. Doch der Längste verlief an ihrer Kehle, so tief, dass ihr Kopf nach hinten gekippt war. Ihre hellblauen Augen starrten leblos in den grauen Himmel empor. Auf ihrem Gesicht waren die Spuren von Tränen zu erkennen, während das blonde Haar rot gefärbt war von ihrem Blut.

Es war ein Anblick, der die anwesenden Polizisten noch bis in ihre Träume hinein verfolgen sollte.

1. Winter

Die ganze Schule hatte über nichts anderes, als den grausigen Leichenfund vom Morgen, gesprochen. Es hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Flure und Kursräume verbreitet und löste die wildesten Spekulationen aus. Bisher war nicht bekannt, um wen es sich bei dem Opfer und der verschwundenen Anruferin handelte. Jede Schülerin, die an diesem Tag am St. Peters College unentschuldigt fehlte, kam dafür in Betracht. Theoretisch also auch meine ältere Schwester Eliza. Doch Eliza war schon so lange verschwunden, dass ich mir wenig Sorgen darum machte, dass sie es sein könnte. Unsere Eltern bangten trotzdem und würden erleichtert aufatmen, wenn herauskam, dass es sich um die Tochter eines anderen Paares handelte. Denn so müssten sie ihre Hoffnung nicht aufgeben, dass Eliza eines Tages doch zu uns zurückkehren würde. Es hörte sich schrecklich an, aber ich sah das Ganze etwas anders. Ich wünschte Eliza zwar nicht den Tod, aber die Gewissheit, was aus ihr geworden war, wäre für mich dennoch besser als der Zustand des permanenten Bangens und Hoffens meiner Eltern. Selbst wenn das bedeuteten sollte, dass es sich bei dem Opfer um meine Schwester handelte.

Seitdem Eliza verschwunden war, taten nicht nur meine Eltern, sondern auch Lucas so, als sei sie eine Heilige gewesen. Dabei war sie alles andere als fromm oder gar heilig. Sie war in meinen Augen sogar das ziemliche Gegenteil davon und genau deshalb war ich mir fast sicher, dass sie weder tot noch in Not war. Sie wusste wie man sich durchs Leben schnorrte und warf vermutlich gerade irgendwo auf der Welt das Geld eines anderen mit vollen Händen aus dem Fenster, ohne dabei auch nur einen einzigen Gedanken an ihre zurückgelassene Familie im verschlafenen Wexford zu verschwenden.

Lucas und ich verließen den Schulbus gemeinsam an der Haltestelle Slade Castle. Es war die letzte vor der Endstation Churchtown. Jeden Morgen legten wir über eine Stunde Fahrzeit zurück, nur um zur Schule zu kommen. Schon oft hatte ich meine Eltern angefleht, näher an die Stadt zu ziehen, aber sie weigerten sich standhaft. Jedes Mal mit derselben Begründung, dass sie die direkte Lage am Meer und die Nähe zu den alten Burgruinen gegen nichts in der Welt eintauschen würden. Sie mochten es, wenn bei Sturm die Wellen so hoch schlugen, dass wir sie von unseren Schlafzimmerfenstern aus sehen konnten und sie liebten das Pfeifen des Windes durch die alten Burggemäuer. Hier beschwerte sich niemand über unsere dreizehn Katzen, die das einzige Erbe unserer verstorbenen Großmutter waren. Der einzige Grund, der Slade Castle für mich liebenswert machte, war Lucas. Während unsere Familie das kleine quadratförmige Haus direkt neben dem Schloss bewohnte, lebte Lucas mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Toby in dem gelben langgezogenen Anbau des Schlosses. Er war nur zwei Tage vor Eliza zur Welt gekommen und somit ein Jahr, vier Monate und sechszehn Tage älter als ich. Seitdem ich denken konnte, mochte ich ihn. Während Eliza und ich ständig im Krieg lagen, war Lucas immer der Friedenswächter gewesen. Er hatte mich getröstet, wenn Elizas Worte oder auch Schläge zu hart gewesen waren und ich hatte ihm dafür meine kindlichen Geheimnisse anvertraut, von denen sonst niemand wusste. Er hatte nicht eines davon verraten oder mich je dafür ausgelacht, er hatte mich immer verstanden. Lucas war mein Held und nicht nur das: Seit drei Monaten und vier Tagen war er auch mein fester Freund.

 

Wir verabschiedeten uns mit einem kurzen, aber zärtlichen Kuss, bevor er in das Haus verschwand. Ich öffnete unsere Haustür und spähte dann erwartungsvoll in den Briefkasten. Es war eine alte Angewohnheit aus Kindheitstagen, in denen ich hoffte, Post zu bekommen, obwohl weder mein Geburtstag noch Weihnachten war. Vorsichtig steckte ich meinen Arm durch den schmalen Briefkastenschlitz und zog mit den Fingerspitzen einen weißen Briefumschlag hervor. Heute war einer der seltenen Tage, an denen ich Glück hatte: Der Brief war tatsächlich an mich adressiert. Winter stand in Computerschrift auf dem Umschlag. Neugierig wendete ich das Kuvert und suchte nach einem Absender. Nichts, nur mein Name und die Adresse. Ich sah mir gerade die Briefmarke etwas genauer an, als Miss Snowwhite sich gegen mein Bein presste und laut zu schnurren begann. Automatisch kniete ich mich nieder und begann, der weißen Katze mit den schwarzen Ohren über das Fell zu streicheln, während ich weiter auf den Briefumschlag starrte. Der Poststempel stammte aus den USA. Aber wer sollte mir von dort aus schreiben?

Miss Snowwhite schnupperte an dem weißen Papier und rümpfte dann angewidert die Nase. Sie drehte sich schnurstracks um und lief an mir vorbei zu der Burgruine. Komisch, das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Seit Eliza weg war, hatte sich Miss Snowwhite zu einer richtigen Stubenkatze gemausert. Sie liebte es, egal ob im Sommer oder im Winter, auf dem Teppich vor dem Kamin zu liegen. Oft rollte sie sich auch auf meinem Bett zusammen oder verkroch sich auf die oberste Treppenstufe zum Dachboden. Früher hatte sie oft das Haus verlassen, wenn Eliza heimgekommen war. Eliza war laut und wüst. Eigenschaften, die Miss Snowwhite nicht leiden konnte.

Ich hielt nun den Brief vor meine eigene Nase und begann, daran zu schnuppern. Er roch nicht anders als jedes normale Papier. Ungeduldig riss ich den Umschlag auf, während ich die Tür hinter mir mit dem Fuß zukickte. Sie fiel mit einem Knall ins Schloss.

Im nächsten Augenblick stolperte ich über meine eigenen Füße, als ich die Handschrift des Absenders erkannte: Eliza - Eindeutig und ohne Zweifel.

Sie hatte Monate gebraucht, bis ihre Schrift aussah, als stamme sie aus einem anderen Jahrhundert. Niemand schrieb die Buchstaben mit ihrem Schwung und den vielen kleinen Schnörkeln.

Verstohlen blickte ich mich im Flur um. Aus der Küche war das geschäftige Treiben unserer Mutter zu hören, die das Essen zubereitete. Unser Vater war noch auf der Arbeit und würde erst in einer Stunde nach Hause kommen. Schnell streifte ich mir die Schuhe von den Füßen und schlich vorsichtig, wie auf Samtpfoten, in das obere Stockwerk. Ich schloss meine Zimmertür so leise wie möglich und verkroch mich auf mein Bett, direkt neben dem Fenster.

Liebes Schwesterchen,

seit Wochen habe ich mir vorgenommen, dir endlich zu schreiben, doch mal war zu viel los, ein anderes Mal hatte ich kein Papier, das nächste Mal fehlte mir der Stift oder ich verlor den Mut, weil schon so viel Zeit vergangen war.

Ich weiß, du musst mich für einen schrecklichen Menschen halten, weil ich einfach wortlos verschwunden bin. Aber mir hat sich eine Chance geboten, die ich mir unmöglich entgehen lassen konnte. Ich wollte das Leben mit all seinen Facetten und Farben spüren.

Doch das Leben ist nur halb so toll, wie ich es mir erträumt habe. Es gibt zu viele Schattenseiten. Du fehlst mir, Winter.

Mach dir keine Sorgen um mich. Unkraut vergeht nicht.

In Liebe,

Eliza

P.S.: Zeig den Brief nicht unseren Eltern. Sie würden es nicht verstehen.

Wütend zerknüllte ich den Brief und warf ihn in Richtung des Papierkorbs. Das war so typisch für sie! Nie um eine Ausrede verlegen und am Ende lud sie mir auch noch diese Bürde auf, obwohl wir uns nie besonders gut verstanden hatten. Wenn unsere Eltern davon erfuhren, dass ich ihnen einen Brief von Eliza verheimlichte, wäre am Ende ich die „Böse“, obwohl Eliza uns ohne ein Wort verlassen hatte. Ich konnte die Vorwürfe schon förmlich hören: Wie konntest du uns nur einen Brief deiner Schwester vorenthalten? Du weißt doch, wie große Sorgen wir uns um sie machen. Wir sind so enttäuscht von dir!

Dem Poststempel nach zu urteilen, trieb Eliza sich nun in Amerika herum. Scheinbar hatte sie nun auch die Schattenseiten des Lebens kennengelernt, doch was genau war ihr widerfahren, dass sie, die immer taffe Eliza, in diese Stimmung geriet und sich nach mir sehnte?

Eliza hatte es schon früher geliebt, sich in Rätseln auszudrücken und damit ihrem Gegenüber ein großes Geheimnis aufzugeben. Sie umgab sich mit Heimlichkeiten wie andere mit einer Parfümwolke. Eliza glaubte, das mache sie interessanter und wahrscheinlich hatte sie sogar recht damit, eine weitere Sache in der wir total gegensätzlich waren.

Der ganze Brief war eigentlich ein einziges Beispiel für Elizas Ignoranz unserer schwierigen Beziehung gegenüber. Nur ein einziger Satz ließ mich wirklich innehalten: Du fehlst mir, Winter.

Es war ganz und gar unüblich zwischen uns, dass wir der anderen sagten, dass sie uns fehlte. Sicherlich mochte ich meine Schwester irgendwie, aber wenn ich an Eliza dachte, fühlte ich nicht die Art von Sehnsucht wie man seine beste Freundin vermisste, wenn sie die Sommerferien in Spanien verbrachte. Ich vermisste es vielmehr mit jemandem zu streiten. Wir hatten zwar viel Zeit miteinander verbracht, das Resultat der einsamen Gegend, doch bestand zwischen uns keine Freundschaft oder gar enge schwesterliche Beziehung.

Wenn ich schlechte Laune gehabt hatte, war Eliza immer ein perfekter Prellbock gewesen – aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Selbst wenn sie nicht der Grund meiner schlechten Stimmung gewesen war, was tatsächlich eher selten vorkam, arteten die meisten unserer gemeinsamen Unternehmungen oder Gespräche sowieso in einem heftigen Streit aus, sodass ich darin immer ein Ventil für meine Gefühle fand.

Doch überkam Eliza in der Ferne tatsächlich so etwas wie Heimweh oder gar Schuldgefühle?

Selbst wenn, das war nun wohl ihr Problem. Schließlich hatte sie die Entscheidung getroffen, einfach abzuhauen und ihrer Familie den Rücken zu kehren. Spätestens in zwei Wochen würde sie ohnehin reumütig bei unseren Eltern anrufen und sie um Geld anbetteln. Der Brief an mich war nur der erste Vorbote. Wer weiß, vielleicht erwartete sie sogar, dass ich unseren Eltern den Brief zeigte, gerade weil sie mich darum gebeten hatte, es nicht zu tun, doch den Gefallen tat ich ihr nicht.

2. Winter

Am Freitagmorgen war der Leichenfund im Wald nach wie vor das alles beherrschende Gesprächsthema in der Schule. Die Neuigkeit des Tages war, dass es sich bei der Leiche nicht, wie angenommen, um eine Schülerin aus Wexford handelte, sondern, dass das sechszehnjährige Mädchen vor einer Woche in London verschwunden war. Ihre Eltern hatten sie erst am Vortag des Mordes als vermisst gemeldet. Offenbar war es nichts Ungewöhnliches, dass sie für ein paar Tage nichts von ihr hörten, was mich an meine Schwester denken ließ. Aber länger als drei Tage war sie noch nie weggeblieben und deshalb hatten ihre Eltern sich schließlich doch dazu entschlossen, zur Polizei zu gehen. Es muss ein Schock für sie gewesen sein, bereits einen Tag später die Meldung zu bekommen, dass ihre Tochter nie nach Hause zurückkehren würde. Obwohl Eliza nun schon seit Monaten verschwunden war, wäre der Fund ihrer Leiche für meine Eltern nicht weniger schlimm, als wäre sie erst einen Tag weg gewesen.

So schockierend diese grausige Tat auch war, so zeigten sich die Bewohner von Wexford doch gleichzeitig irgendwie erleichtert darüber, dass die Tote nicht aus ihrer Stadt stammte. Der Mord war zwar hier verübt worden, aber da das Mädchen aus London kam, lag der Verdacht nahe, dass ihr Mörder ebenfalls nicht aus der Gegend kam. Vielleicht war Wexford nur rein zufällig zum Schauplatz eines Ritualmordes geworden? Dass nun jedoch London mit der Tat in Verbindung gebracht wurde, machte die Sache für mich nicht wirklich besser - ganz im Gegenteil. Denn genau dorthin war ein Klassenausflug samt Übernachtung für die nächste Woche geplant gewesen. Nun waren alle Lehrer in Sorge und überlegten, den Ausflug zu verschieben oder sogar ausfallen zu lassen. Nicht, dass ich viele Freunde in meiner Klasse gehabt hätte und wild darauf gewesen wäre, Zeit mit ihnen zu verbringen, aber ich war dankbar um jede Gelegenheit, die mir eine Chance bot, für wenigstens ein paar Stunden unserer tristen Graslandschaft zu entkommen. Und mal ehrlich, in einer Großstadt wie London verschwanden sicher täglich Mädchen. Dies war dort wohl keine Ausnahme und so auch kein unmittelbarer Grund, den Ausflug abzusagen.

Meine Klassenkameraden waren da glücklicherweise ganz meiner Meinung. Unser Klassensprecher und gleichzeitig auch Klassenclown Carson protestierte am lautesten: „Gerade jetzt sollten wir nach London fahren. Dort fallen wir viel weniger auf, als hier wie verängstigte Schafe auf den Mörder zu warten.“

Mrs. Kelly hatte vor wenigen Jahren ihr Lehramtsstudium beendet. Wir waren ihre erste eigene Klasse und demnach scheute sie sich vor jeglicher Gefahr und jeder Art von Diskussion, die außerhalb ihres Lehrplans stattfand. Auch jetzt fühlte sie sich sichtlich unwohl. Kopfschüttelnd schob sie ihre schwarze Brille auf ihrer Nase zurecht. „Ich kann das nicht alleine entscheiden. Darüber muss ich erst mit dem Direktor sprechen.“

Carson hatte kein Mitleid mit ihr: „Kommen Sie schon, Mrs. Kelly. Wenn Sie dafür sind, hat der Direktor auch nichts dagegen. Sie sind doch unsere Klassenlehrerin, Sie müssen sich für uns einsetzen!“

Mrs. Kelly dachte verzweifelt über seine Worte nach und wog das Für und Wider ab, so wie sie es wahrscheinlich in ihrem Pädagogikkurs an der Universität gelernt hatte. „Ich werde darüber nachdenken“, antwortete sie schließlich vage.

Meine Tischnachbarin Dairine stupste mich leicht mit dem Ellbogen an. „Was hältst du von einer Wette? Gibt die Kelly nach oder hat sie zu viel Schiss?“

Ich legte den Kopf leicht schief und betrachtete Mrs. Kellys ängstliches und verzweifeltes Gesicht. „Sie ist ein Angsthase.“

„Du glaubst also, aus London wird nichts?“

„Du weißt doch, ich bin Pessimistin.“

„Ich nicht. Ich sage, sie hat größere Angst vor Carson und der Meute als vor einem Mörder in London“, grinste Dairine mit einem siegessicheren Lächeln.

„Was ist der Wetteinsatz?“

„Ein Cocktail in London? “

„Wenn ich recht habe, fahren wir gar nicht nach London.”

„Na dann brauchst du doch auch keinen Cocktail zu zahlen“, grinste mir Dairine frech entgegen. Sie war meine einzige Freundin. Wenn man das, was uns beide verband, überhaupt als Freundschaft und nicht eher als Zweckgemeinschaft bezeichnen konnte. Ich hatte mich noch nie außerhalb der Schule mit ihr getroffen. Ich wusste nicht einmal, welche Hobbys sie hatte und ehrlich gesagt, hatte es mich auch nie interessiert. Meine Freizeit hatte ich schon immer mit Lucas und Eliza, sofern sie uns mit ihrer Anwesenheit beehrte, verbracht. Dairine erging es da ähnlich. Sie war vor drei Jahren mit ihrer Familie aus Colorado hierhergezogen. Sie sprach nicht nur anders als wir, sondern sah auch anders aus. Während unsere Schuluniformen alle akkurat gebügelt und gefaltet waren, peppte Dairine sie mit Buttons von mir unbekannten Rockbands und neonfarbenen Bändern auf. In ihren Haaren trug sie verschiedenfarbige Kunsthaarsträhnen. Man erkannte sie schon von Weitem wie ein leuchtender Stern. Viele glaubten deshalb, dass sie sich für etwas Besseres hielt oder verstanden sie schlicht nicht. Auch ich konnte Dairines Gedankengänge oft nicht ganz nachvollziehen, aber es war wohl normal, dass sich zwei Außenseiter zusammenschlossen. Wie hieß es so schön? Zusammen war man weniger allein - zumindest schien es so.

 

Am Abend machten sich meine Eltern fertig, um wie jedes Jahr an diesem Tag auszugehen. Es war der fünfundzwanzigste Oktober: Ihr Jahrestag und damit der einzige feierliche Anlass, an dem sie ohne mich und Eliza das Haus verließen. Wegen ihrer Sorgen um meine Schwester hatten sie ihn dieses Jahr eigentlich ausfallen lassen wollen. Eliza war nun schon seit einem halben Jahr verschwunden.

„Ich werde mich nicht amüsieren können, solange ich nicht weiß, wie es Eliza geht“, hatte meine Mutter traurig gesagt.

„Sie wird nicht ausgerechnet heute wiederkommen. Und selbst wenn, wird sie dann auch noch da sein, wenn ihr von eurem Rendezvous zurückkommt“, hatte ich erwidert, in der Hoffnung, dass sie mir glaubte.

Es war stunden- und tagelange Schwerstarbeit gewesen, sie zu überzeugen. Doch sobald ich meine Mutter überredet hatte, war Dad ein Kinderspiel gewesen. Er richtete sich grundsätzlich nach meiner Mum.

Sie standen in ihrer nobelsten Kleidung vor mir und taten so, als würden sie für einen ganzen Monaten verreisen und nicht nur für zwei Stunden in die Stadt fahren.

„Wir schließen gleich die Haustür ab, aber denke bitte daran, sie noch einmal zu kontrollieren, bevor du ins Bett gehst.“

Ich nickte brav, um die Belehrungen so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.

„Kommt Lucas rüber?“

Wieder ein Nicken.

„Trinkt keinen Alkohol!“

Ich verdrehte die Augen. Lucas und Alkohol, guter Witz! „Nein, machen wir nicht.“

„Und wenn Eliza sich meldet, rufst du uns sofort an.“

„Natürlich!“ Sie erwarteten nach wie vor, dass meine Schwester jede Sekunde anrufen könnte. Sollte sie tatsächlich anrufen, würde ich ihr sagen, dass sie das letzte, verantwortungsloseste Miststück war und sofort wieder auflegen. Es würde tatsächlich zu ihr passen, ausgerechnet heute anzurufen und unseren Eltern damit den Abend zu versauen. Rücksichtslos und egoistisch waren Eigenschaften, die meine Schwester gut beschrieben. Wobei, für meine Eltern wäre es wohl ein Grund zur Freude. Als würden Weihnachten und Geburtstag zusammenfallen.

„Wir bleiben nicht lange weg, Schatz. Wenn du Angst bekommst, kannst du uns natürlich auch jederzeit anrufen.“

Ich stöhnte genervt auf. Ich war weder fünf noch alleine. Von mir aus hätten sie die ganze Nacht wegbleiben können, denn ich hatte meine eigenen Pläne. Pläne mit Lucas, von denen er genauso wenig wusste wie meine Eltern.

„Mum, ich bin schon ein großes Mädchen.“

„Für uns wirst du immer unsere kleine Prinzessin bleiben“, säuselte Dad, streichelte mir übers Haar und gab mir einen Kuss auf den Kopf. Mum tat es ihm nach. Seit Eliza weg war, waren sie noch besorgter und rührseliger als ohnehin schon.

„Geht jetzt bitte, bevor es noch peinlicher wird.“

Sie lachten beide und verließen endlich, endlich, ENDLICH das Haus. Ich wartete bis ich ihr Auto auf die Straße abbiegen sah, erst dann rief ich Lucas an.

„Sie sind weg, kommst du rüber?“

„Ich bin noch nicht mit den Mathehausaufgaben fertig.“

Mein kleiner Streber! „Die kannst du auch noch morgen oder Sonntag machen.“

„Ich mache sie aber lieber erst zu Ende. Hast du deine Hausaufgaben denn schon alle gemacht?“

„Nein ...“ Selbst wenn ich vorgehabt hätte, sie zu machen, war ich dafür im Moment viel zu nervös.

„Soll ich dir helfen?“

Würde er wohl schneller zu mir kommen, wenn ich ja sagte? „Das wäre lieb.“

„Okay, ich beeile mich, damit ich schnell bei dir bin.“

„Danke, du bist ein Schatz!“, flötete ich ins Telefon.

„Ich hab dich lieb.“

Ich hasste es, wenn er das sagte. Wie ein kleiner netter Junge. So etwas sagte man zu seinen Eltern oder der besten Freundin, aber nicht zu seiner festen Freundin. Trotzdem erwiderte ich: „Ich dich auch. Bis gleich!“

Ich wünschte er würde endlich Ich liebe dich sagen, aber vielleicht würde er das nach dem heutigen Abend ja.

Schnell holte ich den Beutel mit den Teelichtern aus dem Eichenschrank im Wohnzimmer hervor und flitzte ins obere Stockwerk. Ich hatte mein Bett bereits frisch bezogen. Nun verteilte ich die Teelichter im ganzen Zimmer und ließ nur einen schmalen Weg zu meinem Bett frei. Es waren genau hundert Stück. Auf Knien krabbelnd, zündete ich eins nach dem anderen an. Danach griff ich in meinen Kleiderschrank und zog das schwarze Minikleid hervor, das ich mir extra für diesen Anlass gekauft hatte. Es war das einzige Kleid in meinem Schrank und sah mehr nach Eliza als nach mir aus, aber es war perfekt für diesen Abend. Mit dem Kleid lief ich ins Badezimmer und streifte mir meine Jeans und das graue T-Shirt vom Körper. Auch meine Unterwäsche wechselte ich eilig. In schwarzem String und passendem Spitzen-BH blickte ich in den Spiegel. Das war die Nacht der Nächte. Heute sollte es passieren. Ich war bereit dafür. Mehr als bereit. Und Lucas war der einzig Richtige dafür. Ich hatte immer gewusst, dass er es einmal sein würde, daran bestand gar kein Zweifel.

Meine Wangen glühten rosig und ich strich mir grinsend eine meiner kupferfarbenen Haarsträhnen hinters Ohr, nur um im nächsten Moment meine Haare schwungvoll über den Kopf zu werfen. Sie waren so glatt wie die Bluse meiner Schuluniform. Ich hatte mir schon immer eine wilde Lockenmähne gewünscht, aber selbst die Versuche, sie mit dem Lockenstab zu bearbeiten, waren erfolglos geblieben. Also würde ich mich wohl mit meinem Los abfinden müssen.

Als es endlich an der Tür klopfte, stieg ich noch schnell in die schwarzen Pumps von Eliza und stolperte damit die Treppe hinunter. Mein Herz schlug bis zum Hals. Schwungvoll riss ich die Tür auf. Da stand er. Sein blondes Haar war wie immer unter einer grauen Wollmütze verborgen und seine Hände steckten in den Hosentaschen seiner Jeans. Lucas sah mich mit großen Augen an. Ich hatte mir schon beim Kauf des Kleides vorgestellt, mit welcher Begeisterung und Vorfreude er mich betrachten würde. Doch jetzt sah sein Blick eher panisch als begeistert aus.

„Wie siehst du denn aus?“, fragte er verwirrt. Ich presste ärgerlich die Lippen aufeinander.

„Gefällt es dir nicht?“

Er musterte mich erneut und schien sich erst jetzt mein Outfit genauer anzusehen, so, als hätte er vorher nur bemerkt, dass es anders als normal war.

„Doch, aber sonst gefällst du mir auch. Hast du irgendetwas vor?“

„Nein, ich wollte mich nur mal schön machen, damit du siehst, dass ich das auch kann.“

Lucas begann zu lachen, während er immer noch wie angewurzelt an der Türschwelle verharrte, so, als traute er sich nicht, hereinzukommen. Der Wind wehte kühl um meine nackten Arme und Beine, sodass ich zu frösteln begann.

„Du bist auch ohne Kleid wunderschön.“

Ich grinste still in mich hinein. Ich wusste, dass er es so nicht gemeint hatte, dafür war er viel zu anständig, aber ich würde ihm gleich schon zeigen, wie ich ohne Kleid aussah.

„Wolltest du mir in der Tür bei den Hausaufgaben helfen?“

Er grinste und trat schließlich ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Wir gingen nach oben, ohne abzuschließen.

Sobald Lucas das Kerzenmeer in meinem Zimmer bemerkte, blieb er wie versteinert mitten auf der Treppe stehen.

Seine Augen weiteten sich und langsam schien er meinen Plan zu begreifen. Mit einem zögerlichen Lächeln drehte ich mich zu ihm herum.

„Meine Eltern sind nur einmal im Jahr außer Haus. Der Zeitpunkt ist perfekt.“

„Wir haben alle Zeit der Welt ...“

„... aber ich will nicht länger warten. Ich bin mir sicher, Lucas!“

Ich sah ihm bittend in die Augen. Er durfte mir jetzt keine Abfuhr erteilen. Er hatte sein erstes Mal bereits hinter sich und ich wollte meines mit ihm erleben. Ich hätte mir niemand Besseren vorstellen oder wünschen können. Lucas war zärtlich, liebevoll und fürsorglich. Alles, was sich ein Mädchen nur wünschen konnte. Oft konnte ich immer noch nicht glauben, dass er ausgerechnet mit mir zusammen war. Er war so beliebt, dass er jede hätte haben können und ich wettete, die anderen Mädchen hassten mich nur noch mehr dafür, dass er sich für mich entschieden hatte. Für mich, die immer etwas pessimistische Außenseiterin, die graue Maus.

Er sah zögernd zu mir auf. Ich stand eine Treppenstufe über ihm und war so ein paar Zentimeter größer als er. Nach einigen qualvollen Sekunden, erwiderte er endlich mein Lächeln. „Wenn du dir sicher bist, bin ich es mir auch.“

Ich strahlte und nahm ihn bei der Hand. Gemeinsam betraten wir mein Zimmer und ließen uns auf mein schmales Einzelbett gleiten. Da es nicht für zwei gemacht war, war es etwas eng, so konnte er mir aber wenigstens nicht entweichen.

Unsere Lippen berührten sich und ich spürte, wie sich das unbeschreibliche Kribbeln in meinem ganzen Körper ausbreitete. Es begann in der Magengegend und zog sich von dort aus meinen Rücken hinauf, um in einem Kitzeln in meinem Nacken zu enden. Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, während Lucas‘ unbeschreiblicher Duft mich einhüllte wie eine Wolke. Sein Duft war nicht klar zu definieren, sportlich und sinnlich zugleich und doch mit nichts vergleichbar. Er war einzigartig, eben genau wie Lucas. Es war sein Duft und ich liebte ihn genauso sehr wie Lucas selbst. Seine Berührungen waren vorsichtig, so, als könne er mich zerbrechen, wenn er fester zugriff. Aber genau das wollte ich. Er sollte mich am ganzen Körper berühren. Ich wollte eins mit ihm sein. Es würde perfekt werden. Mein erstes perfektes Mal mit dem perfekten Mann dafür. Ich war berauscht vor Glück und Liebe.