Mensch auf eigene Gefahr

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Mensch auf eigene Gefahr
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Maxi Hill

Mensch auf eigene Gefahr

Eine authentische Geschichte über Menschlichkeit und deren Gefahren in dieser Zeit.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Die Fremde

Das Interview

Zwei Jahre zuvor

Farid

Sheyla

Ein dummer Fauxpas

Nur ein Telefonat

Heimat

Das Projekt

Warum Sheyla?

Die Crux mit der Sprache

Die Macht der Worte

Das wahre Leben

Die Macht der Straße

Die Wut kommt näher

Ein Für und ein Wider

Mut zum Aufbegehren?

Richtige Konsequenzen?

Ein Bericht in der Zeitung

Maxi Hill

Impressum neobooks

Prolog

*

D ie wohlfeilste Art des Stolzes ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.

Auszug: Arthur Schopenhauer

Aphorismen zur Lebensweisheit

*

Die Fremde

An jenem Tag, an dem Isa-Kathrin Benson widerwillig zur Tür geht, als die Klingel schellt, beginnt das Ende einer Zeit, der sie nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat, als jeder andere Mensch auch.

Sie sollte nicht gehen. Eine junge Kultur-Journalistin sitzt in ihrem Wohnzimmer. Sie ist gekommen im Auftrag der Redaktion, um mit ihr ein Interview zu machen. Blutjung ist sie, hat hellblondes kurzgeschnittenes Haar, und ein Hauch von Babyspeck polstert ihr Gesicht.

Draußen an der Tür hätte es Isa vorgezogen, fernab der gierigen Augen, die sie hinter den Türspionen im großen Mietshaus vermutet, die Angelegenheit zu regeln. Was heißt regeln? Regeln kann Isa nichts. Aber nun steht Sheyla vor ihr. Aufgelöst. Außer sich. Flehend, ebenso laut wie wortlos.

Was sieht sie, wenn sie die Fremde ansieht, von der sie lange Zeit nicht viel mehr wusste als ihren Namen? Sheyla klingt für europäische Ohren orientalisch.

Die Frau sieht nicht aus wie eine, die den Schleier um die Lenden gebunden trägt und mit den Hüften schwingt, bis der Bauchspeck vibriert. Sie ist keine aus Tausend und einer Nacht. Sie trägt einen grünen Parka und eine graue Hose, wie sie auch Europäerinnen tragen. Darunter eine Molton-Bluse, rot mit schwarzen Karos. Nur das Kopftuch verrät etwas von ihrer Herkunft. Die Art wie sie es trägt, zeigt ihre Gesinnung, ihren Glauben.

Kein Streicheln der Schultern beruhigt ihre Erregung; kein Zureden. Isa wusste nie, ob Sheyla ihre Worte je wirklich verstanden hatte wenn sie nickte und dabei lächelte. Sie glaubt es zumindest nicht. Heute lächelt Sheyla nicht einmal.

»Du bist allein? Wo ist Khalid?« Die Frage ist jetzt absurd, aber sie fällt Isa als rettender Strohhalm ein. Jede Mutter wird wieder vernünftig, wenn es um eines ihrer Kinder geht, zumal um das jüngste. Nichts dergleichen.

Sheyla dreht ihren Kopf hin und her, zieht die Augenbrauen zusammen und beginnt zu weinen. Dabei zerrt sie ratlos an Isas Ärmel, dass die wertvolle Wolle ihres Pullovers zu reißen droht. Die Szenerie ist ganz so, wie Gary, Isas Mann, es einst prophezeit hat: »Du kannst nicht die halbe Welt retten. Wenn du dich einmal mit denen einlässt, kriegst du sie nie wieder los.«

Es ist ein Spruch aus einer Zeit, die Isas Leben geprägt hat und die dennoch für sie nur eine kurze Episode auf der Sonnenseite der Welt war — der geologischen. Schon damals in Afrika hatte sie dieser Spruch wütend gemacht. Er widersprach dem, warum sie damals dort waren, wohin man sie geschickt hatte. Es gab einen nie enden wollenden Krieg auf roter Erde, so wie es noch immer Kriege in der Welt gibt. Gäbe es keine, müsste man über humanitäre Hilfe nicht so oft nachdenken.

Hier, im Frieden und Sheyla betreffend, kam noch ein Satz von Gary dazu: »Die Frau hat es faustdick hinter den Ohren!«

Auch wenn sie seine rein intuitive Art mitunter verurteilt, sie kennt ihn nicht anders. Gary ist in dieser Zeit nicht der einzige, der so spricht. Leider kennt auch er nur schwarz und weiß, missachtet alle Nuancen. Es gäbe totsicher viel mehr Empathie unter den Menschen, hätte die Flut der Fremden das Land nicht so vehement überschwemmt. Noch vor drei Jahren nahmen die Leute viel mehr Anteil an jedem Schicksal, das unverschuldet in Not geriet. Nur manchmal kam es ihr vor, als habe einer zu wenig Herz. Jeder Mensch wird mit einem Herzen geboren, aber wie es schlägt, bestimmt der Verlauf seines Lebens. Ihr Leben hat sie Not erfahren lassen, hat sie fühlen lassen, wie es ist, wenn man ganz unten steht, oder abseits…

Seit vielen Jahren glaubt auch sie nicht mehr an den Spruch ihrer Mutter, der einst zu ihrer kindlichen Devise wurde: »Jeder Mensch ist gut, man muss ihn nur gut sein lassen.« Die Zeit lehrte sie: Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen.

Seit Jahrzehnten bemüht sie sich genau darum, aber wer kann schon alles verstehen?

Die vielen Fremden kommen nicht, weil sie den Kriegen fliehen. Wer erwartet das? Die Welt — das alte Europa an der Spitze — hat manche Völker klein gehalten. Wen wundert es, wenn ein paar von ihnen einen Teil vom Wohlstand in Europa abhaben wollen.

Warum sollte Sheyla schlecht sein? Nur weil sie mal wieder im unpassenden Moment Hilfe braucht? Sie kennt bei Sheyla nur den unpassenden Moment, aber gibt es je einen passenden?

Isa nimmt die junge Frau hart am Arm und zieht sie tiefer in die Wohnung hinein, die nach dem Wunsch ihres Mannes frei von dubiosen Fremden bleiben sollte. Hastig schließt sie die Tür hinter sich und versucht sich vorzustellen, was passiert sein könnte.

Sie wartet, sammelt sich, holt Luft. Noch ehe sie ein Wort findet, dreht sich Sheyla um, steif wie eine Marionette. Ihre Schultern sind verkrampft, die Augen zittern. Ihre Arme umschlingen den eigenen Körper. Worte findet sie noch immer nicht. Stattdessen wirft sie sich Sekunden später an Isas Hals und weint, dass es einen Stein erweichen würde. Die Worte, die sie dabei herauspresst, sind neu. Keine einzige deutsche Vokabel kommt klar über die bebenden Lippen. Wie kann Isa sicher sein, dass alles mit wachem Verstand aus dem verwirrten Munde kommt. Sie packt Sheyla fester bei den Schultern, spricht aber zu ihrem Gast im Wohnzimmer, der ihr heute sehr wichtig ist: »Vermutlich gibt es wieder Stress mit dem Freund. Vermutlich begreift sie langsam, von ihm nur benutzt worden zu sein. Da kann man schon mal die Nerven verlieren.«

Sheyla hat offenbar mehr verstanden als Isa glaubt. Ihre krächzenden Worte klingen zwar seltsam, aber umso heftiger von Abschiebung, von Unrecht... und Rache? Was will Sheyla damit sagen?

»Stopp Sheyla. Stopp…!«

Sheyla erschrickt vor der Wucht in Isas Worten. Sie fasst sich und versucht, deutlicher zu sprechen. Husten überkommt sie, ihre Kehle ist vermutlich trocken. Isa besorgt blitzschnell ein Glas Wasser.

»Du fort aus Haus…«, sagt Sheyla heiser, dabei strömen Tränen über die Wangen und verfangen sich zwischen Kinn und dem Kopftuch, das man Hidschab nennt.

»Ich kann jetzt nirgendwohin mitkommen. Ich habe … du siehst doch …« Isa deutet sparsam zum Wohnzimmer, wo die Journalistin Jenny Mai sitzt und darauf wartet, sich wieder auf die Hauptperson für ihre Reportage zu konzentrieren.

 

»Du musst!« schreit Sheyla wie von Sinnen.

»Sheyla!«, sagt Isa mit Nachdruck. Sie nimmt ihr das Glas aus der Hand, aus dem das Wasser heraus geschwappt ist, nun vom Parka herunter läuft und den Teppich dunkel färbt. »Ich kann nicht. Ich habe gerade ein Interview…«

Sheyla stößt Isa beiseite und schreit aus Leibeskräften: »Dann du tot. Farid sagt, Männer wollen…«, eine Handbewegung deutet an, als will jemand schießen oder als explodiere etwas. Isa schüttelt verständnislos ihren Kopf. Sheylas Augen werden weit: »…weil Deutsche …ungerecht… wollen abschieben. Du mitkommen … oder Polizei…« Ihre Hand fährt beim letzten Wort deutlich zum Ohr.

Keiner hat je über Gefahren von Menschen berichtet, deren unsägliche Flucht die Nerven krank gemacht, die Seelen ruiniert hat. Keiner? Doch! Isa weiß, Gary hatte sie sogar gewarnt. Aber Gary hatte nicht an so etwas gedacht. Er meinte die Last des gewöhnlichen Lebens, nicht die Last der Angst um das Leben. Soweit wäre nicht einmal Gary gegangen.

Wenn Sheylas Nerven nicht krank sind, was sie bisher nicht feststellen konnte, dann muss ihr jetzt etwas einfallen.

Nach einem kurzen Blick auf die wartende Journalistin und einer bedauernden Geste ins Nichts greift Isa zum Telefon. Nicht den Notruf wählt sie, aber die Nummer, die ihr einst der Wachschutz vom Hause gegeben hatte, als Sheyla mal wieder weinend vor ihrer Tür stand und bat, Isa möge die Polizei rufen, weil sie glaubte, mit Farid sei etwas Schreckliches passiert.

Als Isa hört, wie sich am anderen Ende jemand meldet, drückt sie Sheyla den Hörer in die Hand und bedeutet mit einer Geste, sie möge sich erklären. Doch daraus wird nichts. Das Weinen ist stärker, die merkwürdig betonten Worte klingen jetzt unaussprechlich. Sheyla reicht den Hörer zurück an Isa, wortlos, beinahe wütend.

»Entschuldigen Sie«, sagt Isa ins Nichts. »Hier spricht Isa-Kathrin Benson. Bei mir ist Sheyla, die tschetschenische Freundin meines Nachbarn Farid. Sie spricht ziemlich konfus von Farids Rache und von — offenbar — einer Gefahr. Ich kann sie nicht beruhigen…«

»Augenblick«, sagt die Stimme. Man hört das Tippen auf einer Tastatur, schweren Atem und den gedämpfte Ton zu einer anderen Person. In Isas Mund sammelt sich klebriger Speichel. Sie spürt, wie sich zwischen ihre Augenbrauen eine senkrechte Furche in die Stirn gräbt, wie ihre Hände zucken, wie ihr Atem schneller geht.

Nach einer langen Minute ist die Stimme am anderen Ende wieder klar; sie spricht die genaue Adresse und den vollständigen Namen von Farid, was für Isa schier unmöglich erscheint. Sie hatte sich noch gar nicht genau erklärt. Nachdem sie den Standort bestätigt hat, sagt die Stimme: »Bleiben Sie wo Sie sind. Und gehen Sie oder die Frau keinesfalls zu dem Verdächtigen. Wir kommen…«

…Sheylas Arme fallen herab wie die einer Marionette, wenn der Spieler die Fäden lockert. Isa möchte ihr glauben, aber keinesfalls dem Sinn ihrer Worte.

Sheyla und Farid kommen aus verschiedenen Welten und trafen doch mit gleicher Hoffnung und gleichem Ziel aufeinander. Er kommt vom Hindukusch, sie vom Nordkaukasus, wo man seit hundert Jahren sowjetisch dachte und russisch sprach, wo die Alten sowjetisch sozialisiert sind und die Jungen nach dem Verfall der Sowjetmacht auch den Islam für sich entdeckt haben. Dort, wo Sheyla herkommt, tobte derselbe grässliche Krieg wie am Hindukusch, wo man sich frei machen will vom Terror der Taliban. In Tschetschenien wollte sich das Volk frei machen von der russischen Vorherrschaft. Kriege sind immer Glaubenskriege, ob um verschiedene Weltanschauungen oder verschiedene Götter.

…Isa hält Sheyla fest umschlungen. Die junge Frau atmet jetzt normal. Isa glaubt, ihr ist die Absurdität ihres Handelns nach dem Anruf endlich bewusst geworden. Sie rückt ihr Kopftuch gerade, das bei der hilflosen Umklammerung ein wenig verrutscht ist und etwas von ihrem dunklen Haar freigibt. Ein erster Funken Hoffnung, obwohl Isa ahnt, wie die Sache zwischen Farid und Sheyla abgelaufen sein kann. Sheyla und Farid haben ein gemeinsames Kind. Aber wäre das nicht Grund genug, friedlich zu sein?

Isa spürt, wie Sheyla einen Schrei herunter schluckt. Ihr Körper zuckt, aber sie ergibt sich ihrer Lage.

War das Kind für Farid nur der Grund, um hier bleiben zu dürfen?

Die Frage ist berechtigt. Es gibt Berichte über Schicksale aus fernen Welten, die solche Machenschaften verurteilen. Sie hat schon viel recherchiert und weiß eines ganz bestimmt: Die Leute dieser Stadt verteufeln nicht die Schutzsuchenden. Sie verteufeln so manche Raffinesse. Und die vielen arbeitsfähigen aber herumlungernden Männer stehen in offener Kritik. Farid gehört ganz bestimmt dazu.

Isa zieht die Schultern an. Sie kann manch eine deutsche Mutter verstehen, die ihren Sohn in einen fernen Krieg verabschieden musste, wenn zugleich die jungen kräftigen Männer aus einem umkämpften Land im fremden, aber sicheren Nest von Mama Angela Merkel Schutz suchen. Gary nennt es: Drücken vor der Verantwortung. Er findet so manchen Fluchtgrund hinterhältig. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit. Offiziell wird die Meinung vertreten, Afghanistan kann noch nicht selbst für seine Sicherheit einstehen, es brauche Geduld und Unterstützung, um das Erreichte langfristig zu sichern. Die Hilfe der Welt ist damit allemal verständlich. Warum aber stuft man dieses Land als sicher ein, in das bedenkenlos abgeschoben wird?

Stille. Weder Sheyla sagt jetzt etwas, noch will Isa ihre Ansicht über die unbeherrschte Welt allzu deutlich machen.

Die junge Journalistin sitzt brav im Sessel und fährt mit der Hand durch ihr Haar.

»Was wird jetzt aus unserem Termin? Ich habe Deadline am Montag, und das hier wird nicht nur eine Kolumne. Es wird ein Profil.«

Isa versteht. An einen Bericht über sich selbst denkt sie zwar nicht sehr gerne, aber immerhin hätte Jenny Mai mehr Anrecht auf ihre Zeit als Sheyla.

Ungehalten scheint Jenny Mai wegen der Störung nicht zu sein, eher hellwach. Ein solches Ereignis spiegelt das Leben live. Stoff für eine ungeplante Story?

»Was würden Sie an meiner Stelle tun?« Isa will die Journalistin nicht provozieren. Sie kann auch Sheyla nicht einfach ignorieren. »Ich habe immer geholfen wo ich konnte.« Isa zieht ihren Kopf zu Sheyla hin, während ihr vermutlich verschiedene Szenarien durch den Kopf gehen. »Sie würde nicht verstehen, wenn ich sie ignorier…«

Es ist zu erwarten, dass Jenny Mai nicht so schnell klein beigibt. Aber die Genugtuung, als Unterlegene ihr Vorhaben abzubrechen, überlässt sie keinem. Nicht Isa und erst recht nicht Sheyla.

»Ist doch gut, wenn Sie sich nicht wegducken.« sie zögert vor den nächsten, wahrscheinlich für den Fortgang ihres Vorhaben wichtigeren Worten: »Ihre Bücher schöpfen nun mal aus diesen Begebenheiten. Grund genug, dass man Sie auserwählt hat für das Profil auf der Literaturseite. «

Isa erwidert nichts.

»Als man mir sagte, Sie sind ein Anwalt der Schwachen, dann war es nicht so, dass ich es nicht geglaubt habe. Jetzt erlebe ich es hautnah… «

Isa versteht den Wink der jungen Frau, endlich zum Thema zurückzukommen. Offenbar gelingst es ihr nicht sehr gut, all das Erlebte in ihrem Kopf zu ordnen und auf ihr eigentliches Ziel auszurichten. Mit Blick auf das kopflose Wesen in Isas Armen beginnt sie sich plötzlich zu interessieren: »Kann man die Angst der Frau ignorieren?« Eine Antwort gibt Isa-Kathrin Benson nicht. Sie hört längst ungewohnte Geräusche im Flur…

Es sind zwei Beamte. Beide in merkwürdig schweren Monturen. Zuerst reden sie mit Sheyla. Isa geht derweil zurück ins Zimmer, weil es ihr Anstand so erfordert. Einer der beiden Männer telefoniert, dann fragt er, ob Sheyla noch ein paar Minuten in Isas Wohnung bleiben darf. Klar kann sie. Auch wenn es einerseits unpassend ist, andererseits auch dem Hausherren nicht gefallen würde.

Es kommen wie aus dem Nichts noch zwei weitere Männer in Overalls im Sturmschritt über den Gang. Sie reden mit den anderen, dann öffnet einer die Tür zu Farids Wohnung, ein anderer drängt Sheyla in Isas Wohnung zurück. Darüber gerät sie in Aufregung. Es gefällt ihr nicht, was gegenüber an Farid Tür vor sich geht. Immer wieder beteuert sie »Nischt Farid. Nischt Farid!« Isa kann sie kaum beruhigen.

Es dauert. Isa kocht für Sheyla Tee und für Jenny Mai noch einmal Kaffee. Dazu holt sie Gebäck aus der Dose. Man sieht es Sheyla an, sie bekommt kaum einen Bissen herunter, nur ihre Augen wandern über die Möbel und die vielen Bücher, die in Doppelreihen die Schränke füllen. Sie war noch niemals in dieser Wohnung. Alles, was sie sieht, lenkt sie vermutlich von ihrer Angst ab.

Als die Männer in den Overalls ihre Arbeit getan haben, gehen sie mit zwei kleinen Plastikbeuteln den Mittelgang entlang zum Aufzug. Einer der beiden anderen erkennt Isas Not. »Keine Gefahr«, winkt er ab, was so viel heißen mag wie: keine Waffe. Was man in den Plastikbeuteln aus der Wohnung mitnimmt, bleibt ungesagt.

Die Journalistin Jenny Mai hält es nicht mehr in der Passivität. Flugs ist sie mitten im Geschehen:

»Darf die Polizei in Abwesenheit des Mieters so einfach…?«, fragt sie. Viele Journalisten stellen solche Fragen aus Gewohnheit, besonders dann, wenn es den anderen in Erklärungsnot bringt.

»In diesem Falle schon«, sagt der Mann, der in seiner Montur schwitzt und von Zeit zu Zeit mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischt.

»Wir haben schließlich unsere Erfahrungen …« Mehr sagt er nicht. Der ältere der beiden spricht, ohne seine Lippen zu bewegen: »Keine Angst, nur wegen Verdacht auf Betäubungsmittel.«

Jenny Mai kann nicht ahnen, welches Déjà-vu-Erlebnis Isa bei diesem Wort durch Mark und Bein fährt…

Als Sheyla mit den beiden Polizisten das Haus verlässt, verspricht Isa, Acht zu geben auf sich und auf das, was Farid betrifft. Wie könnte sie diese Worte ernst meinen?

Als wieder Ruhe einkehrt, spürt sie, in den letzten zwei Stunden viel zu flach geatmet zu haben. Das regelt sich wieder. Nicht auszudenken, Sheyla hätte einen ernst zu nehmenden Grund gehabt, der allen mehr genommen hätte, als nur den Atem …

Das Interview

An Isa-Kathrin Benson kam man nicht so leicht heran. Der Sicherheitsdienst hielt mich auf. Nicht wegen der Autorin, die ich, Jenny Mai, zu interviewen hatte. Er hielt alle Menschen auf, die nicht in diesen Wohnblock gehörten, der die Menschen in sich aufsaugt wie ein hungriger Schlund. Mehr Menschen als in einem Dorf wohnen hier. In einem Dorf würde jeder jeden kennen. Das war hier illusorisch, nicht erst, seit die Zeit so viele Fremde zu uns gespült hat.

Die Sprechanlage surrte. Dann hörte ich die Stimme der Frau, die ich nur von Lesungen und Talks kannte. Was galt der berufliche Blick gegen ein Interview im ganz intimen Umfeld? Das Kultur-Magazin der Stadt hatte sich zur Aufgabe gemacht, auch die regionale Literatur wieder stärker in den Fokus rückte.

Hoch oben wohnte sie und gab mir durch die Sprechanlage eine klare Wegweisung.

Schon von ihrer Tür aus schaute sie mir über den langen Mittelgang entgegen. Als ich näher kam, suchte ich nach ein paar persönlichen Worten, ehe es zur Sache gehen sollte: »Ich hatte Sie mir älter vorgestellt.«

»Dann kommen Sie morgen gleich nach dem Aufstehe nochmal wieder«, scherzte Isa-Kathrin Benson. Wir lachten und das Eis war sofort gebrochen. »Das Altern ist eine der Gerechtigkeiten des Lebens. Sie kommen auch noch dahin«, sagte sie schmunzelnd. »Keine Angst. Älter zu werden kann durchaus bequem sein.«

Während ich über die Schwelle stieg, bemühte ich mich, keinen abschätzenden Blick auf die kleinen Anzeichen ihres Alters zuzulassen.

»Heißt das, man muss sich im Alter keine Mühe mehr geben?«

»Im Gegenteil. Die Eitelkeit altert leider nicht mit, sie ändert sich nur in der Richtung.«

Ich dachte an Marie Ebner-Eschenbach: Jung zu sein ist schön, alt ist bequem. Laut sagte ich: »Wenn das so ist, kann das Alter nur von Vorteil sein.«

»Man muss zumindest keine Meinung mehr fürchten. Keine über sich und keine, die man von sich gibt.«

Wortlos nahm sie meine Jacke und trug sie zur Garderobe.

»Mein Opa sagte immer: Alter schützt vor Torheit nicht.« Ich spürte an ihrem Gesicht: Das war zu platt für eine, die sich zu artikulieren verstand.

»Das ist nicht meine Version. Für manche Torheit ist man nur zu schwach geworden, für andere zu klug.«

 

Von Torheit spürte ich bei Isa Kathrin Benson nichts. Sie schien mir wenig eitel, dafür freundlich, zurückhaltend, bescheiden.

Ihre Stimme klang sanft und doch nicht kraftlos. Sie trug hellgraue Jeans und eine weiße Bluse unter dem hellgrauen Kaschmirpullover. Edel, aber nicht over-dressed, wie man sagt. Ihr Haar umspielte das faltenlose Gesicht. Es schimmerte in einem Braun, dem ein leichtes Violett untergemischt war: Frisch. Modern.

Während sie Kaffee einschenkte, bestaunte ich das Bücherregal. Dürrenmatt, Feuchtwanger, Seghers, Simmel, Strittmatter und «unser» Juri Koch standen aufgereiht neben vielen anderen deutschsprachigen Literaten. Im Fach darunter die Wälzer von den Franzosen: Zola, Balzac, Dumas und Stendhal.

Bescheidener platziert waren mehr als zwanzig Bände aus Isa-Kathrin Bensons eigener Feder, wie man sagt.

Sie schreibe nicht mit der Hand, erwiderte sie. Das könne sie nicht. Der Computer sei ihre Prothese für das, was manche Leute Talent nennen. Sie nenne es Fleiß und die Gabe, sich selbst infrage zu stellen — immer wieder, auch wenn es weh tut. Wenn sie den Eindruck habe, mit ihrer Arbeit vollkommen zufrieden zu sein, verwerfe sie das Werk. Oder sie lässt es jemanden lesen, der ihr nicht gutgesinnt ist, dem ein Verriss das Ego stärkt. Daran könne sie sich hochhangeln.

Und dann stand sie selbst vor dem Bücherschrank und strich mit der Rückseite des Zeigefingers behutsam über die Wölbung ihrer Schätze.

Die Franzosen stünden nur in ihrem Schrank, weil man sie auch in der DDR zu kaufen bekam. Damals, als die Zensur die Bücherregale beherrschte und somit den Horizont der Menschen. Dennoch gebe es auch gute DDR-Literaten. Seghers sei noch immer ihr Vorbild. Sie habe es mit ihrem siebten Kreuz immerhin geschafft, das Kind Isa aus ärmstem Haus zum Lesen zu begeistern. Die Mutter habe nicht das Geld gehabt, um die Schulliteratur anzuschaffen. Zum Glück habe es in ihrem Dorf eine flexible Bibliothek gegeben, die zweimal in der Woche die Ausleihe betrieb. Kostenlos, schob sie mit Nachdruck hinterher, als wollte sie das Gute betonen, das zu schnell vergessen worden ist.

Das Paar wohnte geschmackvoll, aber auf Repräsentation ist die Wohnung nicht ausgerichtet. Alles war geradlinig und sachlich, ohne jeden Schnickschnack.

»Man muss leben können und arbeiten, mehr braucht es nicht«, sagte sie fast beschämt, als sie meinem Blick nachspürte. »Es gibt Menschen auf dieser Welt, die all die Annehmlichkeiten, die wir uns vehement als unser minimales Recht einfordern, nie im Leben kennenlernen werden.«

»Ein Satz aus einem Ihrer Bücher. Ich finde so manches von Ihnen sehr mutig…«

Ihr gütiger Blick beschämte jetzt mich. Ich musste die Sache abwarten und fragte, was es auf sich hat, wenn man sagt, sie sei ein Sprachrohr der Schwachen.

»Bei meiner Biografie?«

Sie gab mir das Gefühl zu glauben, ich würde ihre Biografie kennen. Aber ich kannte, um ehrlich zu sein, allenfalls ihre Bibliografie, die mir inzwischen vollständig aus dem Bücherschrank entgegen schaute.

»Wer das Leben mit seinen Facetten kennt und seine Wurzeln nicht verleugnet…« Sie zog die schmalen Schultern an. Ihr kurzer Blick prüfte in meinem Gesicht, was ich zu hören gedacht hatte. Ich nickte, während ich meinen Notizblock aus der Tasche fischte und ihn auf meinen Knien bereithielt.

»Mein Leben stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Selbst der liebe Gott hatte kein Erbarmen gezeigt. Ich habe vier Geschwister und mein Vater war im Krieg geblieben. Ohne die Prägung durch das Leben verläuft vieles anders – glaube ich.«

Was hatte ich erwartet? In dem Moment war mir nur klar: Wer mit dem, was er schreibt, als Sprachrohr der Schwachen gilt, dessen Wurzeln saugten vermutlich nie am Wohlstand.

Isa-Kathrin Benson strich ein paar Haare aus ihrer Stirn. Es war sehr still in diesem riesigen Haus, in dieser Wohnung, die sehr viel Ruhe ausstrahlte, dennoch keinesfalls lauschig wirkte.

Meine Vorstellung von dem, was ich ursächlich hören wollte, rückte von mir ab und blieb doch nah bei mir. Nah, weil jedes Wort mit der Ursache, mit dem Wesen verbunden war, das ich hinter den Geschichten zu ergründen versuchte. Auftragsgemäß.

Durch mein Fragen ermuntert erzählte sie von ihrem Werden in der schwersten Zeit, die es je gab auf deutschem Boden. Von fünf vaterlosen Kindern und einer geplagten Mutter.

Als sie endete, zog sie wieder die Schultern hoch, als wollte sie sagen: Ich hab ΄s Ihnen ja gesagt.

Mir war klar, dass ein solcher Mensch die Schattenseiten des Lebens nachvollziehbar beschreiben kann.

»Nicht alles, was mich bewegt, hat mit Armut zu tun. Es sind die Armutszeugnisse unserer Zeit, die mich rastlos machen.«

Jetzt wollte sie vermutlich nicht deutlicher werden. Ihre zuckenden Lippen wurden von der zierlichen Tasse verborgen, nach der sie gegriffen hatte. Der Moment verflog. Einmal mehr fiel mir auf, welche Würde in der schmalen Gestalt lag, deren Hände keine Sekunde ruhten.

Unvermittelt hob sie eine Hand. Ihre Augen huschten umher. Nicht lange, da läutete ihre Klingel. Was dann passierte, konnte nicht als Wunsch, nicht als Hoffnung, wohl aber in der Kategorie Angst verbucht werden. Solange sie zur Tür ging, eilten meine Gedanken durch den Tag:

Ich erinnerte mich an unser Telefonat. Auf meine Frage hin sagte sie — und es klang in meinen Ohren vorwurfsvoll: »Mir geht es selten um Kritik am gesellschaftlichen Thema. Ich möchte erzählen, welche Wirkung es auf einzelne Menschen, auf deren Schicksale hat. Wenn man dabei Konflikte schafft, ist das allerdings gewollt. «

Wie sich viel später herausstellen sollte, wurde ich nach dem Läuten an der Tür Augen- und Ohrenzeuge eines Konfliktes, den wir vermutlich — wäre das Leben anders verlaufen — aus Isa-Kathrin Bensons Feder erfahren hätten, irgendwann ganz bestimmt.

Nach dem Zwischenfall mit der fremden Frau, der auch mir Angst gemacht hatte, und an zwei weiteren Tagen danach erfuhr ich von Isa-Kathrin Benson jenen Bruchteil ihres Lebens, von dem ich keine Ahnung hatte und dem die Autorin selbst nicht die Bedeutung zugemessen hatte, die sie noch für sie bekommen sollte.

Ich werde im Weiteren also nicht über das literarische Schaffen der Isa-Kathrin Benson schreiben. Ich werde über eine Frau schreiben, die über ihr eigenes Denken und Handeln haderte, vieles unterschätzt hat, die aber mit großem Herzen gegen den Strom schwamm, bis an die Ufer ihres Gewissens. Eine Frau, die sich bemühte, immer Mensch zu sein, notfalls auf eigene Gefahr.