Gefangen auf der Insel vor dem Wind

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Gefangen auf der Insel vor dem Wind
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Maxi Hill

Gefangen auf der Insel vor dem Wind

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PEDERSAND

EINE OSTDEUTSCHE STADT – IM MAI 2008

IN DER BANK

AUF NACH PEDERSAND

AUF DER INSEL VOR DEM WIND

DIE STURMFLUT

STROMAUSFALL

DAS MANUSKRIPT

IN EINER SÄCHSISCHEN KLEINSTADT APRIL 1985

GEDANKEN IM WIND — PERDERSAND 2009

EINE SCHWERWIEGENDE ENTSCHEIDUNG JULI 1985

IN LIEBE VERFÜHRT

AUF OFFENER SEE — JULI 1985

DIE HEIMKEHR – AUGUST 1985

LICHT AM ENDE DES TUNNELS

HIMMEL ODER HÖLLE

DAS LEID DES EINEN

ENDSPURT

VERLORENE ILLUSION

DAS ENTSETZEN

SIE MUSS STERBEN

MAXI HILL

Impressum neobooks

PEDERSAND

Draußen wird es langsam dunkel. Jetzt viel früher als mir lieb ist. Zu dieser Zeit würden die Tiere heimkommen von der Weideinsel. In diesem Jahr kommen sie nicht. Ich müsste Mads beim Überholen helfen, aber er kann nicht riskieren, dass ich einen Fuß von der Insel setze.

Der Wind heult ums Haus und schlägt die Stalltür auf und zu, was Mads völlig kalt lässt. Die letzten Blätter der Kastanie tanzen wie volltrunken vor den Fenstern und wirbeln unter den Dachfirst, wo sie sich im Reet verfangen. Dieses Wetter treibt Mensch wie auch Tier zurück zwischen schützende Wände.

Was für ein Leben? Kein Leben! Nur ein ständiges Warten. Worauf?

Seit Kurzem weiß ich, worauf ich warte. Endlich. Und es lohnt sogar, den richtigen Moment selbst zu zelebrieren. Er wird kommen, dieser passende Moment. Und dann? Dann ist nichts mehr wie es war, all die Jahre hier in der Einsamkeit von Pedersand, dem Eiland, das seit Generationen den Pedersens gehört.

Ich habe mich im letzten Herbst und im Winter jeden Tag aufs Neue auf den Abend gefreut, wenn ich am Tisch sitzen und mir meinen Frust von der Seele schreiben konnte, von dem Mads nichts ahnt, nie geahnt hat. Es gibt solche Menschen, die rein gar nichts verstehen, nichts verstehen wollen von den Dingen, die in uns liegen. Was Mads nicht sieht oder hört, das ist nicht.

Er ist so durchschnittlich. Durchschnittlich schlecht, wie auch durchschnittlich gut. Aber er tut nichts dafür, das Gute zu pflegen. Könnte er seinen Verstand auf die inneren Werte eines anderen Menschen ausrichten, wenigstens auf den einzigen Menschen, den er hat — mich —wäre die Welt eine andere. Er ist der Mann, und der Mann hat seit Generationen das Sagen, da können die Feministinnen Kriege anzetteln, wie sie wollen. Das bleibt so bis in alle Ewigkeit.

Nicht auf Pedersand. Nicht mehr lange, mein lieber Mads. Nicht mehr lange.

Seit ich mein Werk fast vollendet und minutiös durchexerziert habe, weiß ich genau, wie es mit uns weitergehen kann. Und es wird genauso weitergehen, wie es auf dem Papier steht. Das alles hätte längst passieren sollen, aber der Sommer hatte mich abgehalten, mein Werk in die Tat umzusetzen. Zuerst wollte ich noch, dass alles glimpflich ausgeht — für Mads. Ich dachte: Für die Heimkehr der Tiere braucht er mich. Zugleich wusste ich auch: Wenn meine Flucht von hier nicht klappen sollte, sieht es schlecht für mich aus. Die zweite Idee, war: Ich muss ihn überzeugen, das Boot zu Wasser zu lassen, das er bewacht wie den Schatz von Fort Knox. Einen guten Grund dafür zu finden, den er mir auch abnimmt, ist nicht leicht, aber was ist noch leicht für eine wie mich?

Es ist ruhig wie zuletzt immer hier im Haus auf Pedersand. Zu ruhig. Ich schlage die dicht beschriebenen Seiten zu. Ein beachtlicher Stapel, den mein Leben hergab. Das Beste ist, ich konnte bei der Wahrheit bleiben, auch wenn sie hart ist und weh tut. Mads wird das Papier nicht anrühren. Seine Fantasie bewegt sich in exakt den Grenzen der verhassten Insel, auf der er mich gefangen hält. Niemand wird mein Werk anrühren, weil auf diesem öden Eiland keine Menschenseele mehr lebt, die lange Texte liest. Keine, seit Eltje unter der Erde liegt…

Mads sitzt seelenruhig im alten Lehnstuhl, in dem seine Mutter Eltje so gerne gesessen hatte, als sie krank wurde und uns bald verlassen musste. Danach beanspruchte sein Vater Villads den Platz, und jetzt ist es Mads. Sein Kopf lehnt auf dem speckigen Polster, er döst nur noch dahin. Nicht einmal das ebenso öde Fernsehprogramm fesselt seine verkümmerten grauen Zellen. Kann es auch nicht bei dieser miesen Auswahl. Nur noch Krimis und Liebesfilme in allen Schattierungen. Die Höhepunkte: Geld oder Liebe und die ewigen Wiederholungen der holländischen Heiratsshow, die ohnehin gestellt daherkommt.

Wenn die Arbeit getan ist, könnte Mads doch ein Buch lesen. Das habe ich ihm tausendmal vorgekaut. Und ich habe mich tausendmal erregt, wenn er abschätzig wurde und das Bücherlesen als Zeitverschwendung abtat. Bei uns zuhause — meine Heimat gibt es nicht mehr — wurde immerzu gelesen. Jeden Abend kam einer der Eltern in unser Zimmer und las uns eine Geschichte vor. Später prügelten wir drei Geschwister uns um den begehrten Lesestoff, den es in der Ausleihe gab — gratis, wohlgemerkt. In meiner Heimat gab es vieles gratis oder für wenige Groschen.

Mein Fünf-Pfennig-Brötchen-Land, deine Bürger haben nichts geachtet, den größten Vorteil nicht. Dieser Vorteil hat die Heimat kaputtgemacht, genau wie der größte Nachteil sie letztlich zu Fall brachte. Wer wüsste das besser als ich, eine Verführte aus dem untergegangenen Land. Damals, da wusste ich nichts von alldem, aber die Erinnerung ist immer richtig. Die Heimat liegt einem so tief im Herzen, dass man daran krank werden kann, wenn man sie verloren hat. Ich habe sie verloren, und ich trage daran die Schuld. Nur daran. Nicht daran, was in den Jahren hier im fremden Land, hier auf dieser gottverlassenen Insel, hier mit Mads und mit seinem Vater Villads, mit dem ständigen Wind und der latenten Angst vor der Flut aus mir geworden ist.

Das alles und noch viel mehr steht jetzt schwarz auf weiß auf beinahe dreihundert Seiten. Ob es mir hilft, mit mir selbst ins Reine zu kommen, wenn geschehen ist, was geschehen muss, das weiß keiner. Ich kenne ein gutes Versteck für Papier, aber ich werde es nicht brauchen. Mads hat keinen Sinn für Lesestoff. Wenn er etwas kann, dann ist es, den Tieren und mir seinen Willen aufzuzwingen.

Nicht mehr lange mein Freund. Nicht mehr lange…

Ich werde es tun. Bald. Mein Plan ist gut und er verspricht viel. Auf dieses Eiland wird es ohnehin nie wieder einen Menschen verschlagen. Nie wieder. Darin hat Mads — darin hatte schon sein Vater Villads — vermutlich Recht. Das Klima leidet, und die Vadehavsoer, wie man hierzulande sagt, werden verschwinden. Alle. Und Mads‘ Überreste werden mit Pedersand untergehen.

Ich werde mir jetzt einen Cognac genehmigen und dann zu Bett gehen. Wir schlafen getrennt. Nur wenn Mads betrunken ist und nicht mehr weiß, wie es zwischen uns steht, kommt er angekrochen. Bisweilen schlägt er dann mit der Tür und stampft siegessicher auf. Dann macht er nicht lange Federlesen.

Ein Cognac reicht nicht. Gleich wird er mich missbilligend anschauen und ich werde schadenfroh zurückgrinsen. Warte nur ab, du wirst dich noch wundern.

Was also macht es aus, wenn ich seinen Cognac leere. Er braucht ihn bald nicht mehr…

Wenn geschehen sein wird, was geschehen muss, werde ich sein Boot bei Flut hinaus aufs Meer steuern und dort wie herrenlos treiben lassen. Ich werde jammern, wenn jemand kommt und es zurückbringt. Ich werde zetern, er sei ertrunken. Ihn aber werde ich hier auf dieser einsamen Insel, auf der niemals wieder einer leben möchte, in Tiefschlaf bringen, ihn ersticken und anschließend vergraben. Und niemand wird es je erfahren…

Aber was, wenn er das Boot nicht zum Ufer bugsiert, weil er nie mehr etwas zu meinem Gefallen gemacht hat in letzter Zeit. Nie mehr.

 

Ich grabe meine verschüttete Intelligenz heraus, die mit den Jahren soweit gediehen ist, dass sie neue Zweifel gesät hat: Was, wenn jemand Lunte riecht, wenn sie mit Spürhunden kommen…?

Verflucht sei das Boot. Besser wäre gleich die Jauchengrube, in die steckt kein Hund seine Nase, und Spuren hinterlässt eine Leiche auch nicht…

EINE OSTDEUTSCHE STADT – IM MAI 2008

Die Schatten auf der Veranda werden länger. Doktor Benjamin Winter sitzt in die Zeitung vertieft mit dem Rücken zu seiner Frau Ida. Vermutlich war es ihm heute in der UNI nicht geglückt, sein Tagesblatt zu lesen.

Ida läuft in der Küche hin und her, setzt Wasser für den Tee auf und garniert Wurst, Schinken und Käse auf eine Platte. Obwohl sie beide ganz verschiedene Bedürfnisse haben, hält sie verbissen an den alten Ritualen fest. Früher mit den Kindern haben sie stets zur selben Zeit gegessen, und es waren angenehme Minuten zu viert am Tisch mit liebvollen Gesprächen über den Tag eines jeden. Heute erfährt sie kaum noch etwas davon, wie Bens Tag verlaufen ist, und ihn interessiert es nicht, wie ihr Tag war. Vermutlich bringen das Alter und die Gewohnheit mit sich, dass man gleichgültig wird. Womöglich hat er nicht mehr Fantasie, als zu glauben, sie sitzt ohnehin nur stundenlang am Computer und schreibt. Es interessiert ihn nicht, was dazu gehört, einen Roman zu veröffentlichen.

Sie fragt sich seit Langem, wann sich diese Gleichgültigkeit zwischen sie geschoben hat. Sie hat in der Regel eine gute Wahrnehmung, mitunter eine viel zu gute, als dass sie das Leben kaltlassen könnte. Es kann nur so schleichend geschehen sein, dass auch sie es nicht gespürt hat — jedenfalls nicht sofort. Als es ihr dann bewusst geworden ist, beschloss sie, wenigstens die guten alte Rituale nicht zu vernachlässigen, ihrer Ehe zuliebe. Auch wenn daraus keine neue Leidenschaft erwächst, sie wird ihren Teil Verantwortung leben, so deprimierend es auch ist, wenn der Partner nie Anteil am Erfolg wie auch am Misserfolg nimmt. Immerhin gab es einmal die übergroße Liebe. Diesen Teil von sich, von ihrem Leben, will sie nicht verlieren. Man verliert in dieser Zeit schon viel zu viel an Werten, die mal etwas bedeutet haben. Die Zeiten werden immer feindseliger, fast bedrohlich. Vermutlich steht davon wieder allerhand in der Zeitung, weshalb sich Ben nicht losreißen kann, obwohl sie schon lange mit dem Geschirr klappert.

Ihr Blick fällt auf die Zeitung vor Bens Brust. Er hat seinem Stuhl eine leichte Drehung gegeben, vermutlich, um die letzten Sonnenstrahlen noch auszunutzen. Über die Blätter hinweg spürt sie seinen Blick, der sofort verschwindet, sobald ihre Augen ihn finden.

Der Wasserkessel sprudelt über. Sie gießt das heiße Wasser über die Teebeutel in zwei Gläser — sie trinken seit Jahren verschiedene Teesorten, genau wie sie verschiedene Sorten Kaffee bevorzugen. Ben tritt fast lautlos ins Zimmer. Schwungvoll landet die Zeitung auf dem Wohnzimmertisch.

»Der Artikel steht drin«, sagt er und setzt sich auf seinen Essplatz. Fast gelangweilt wandert sein Blick über Teller und Platten. Beinahe mechanisch schiebt er das Schälchen gemischten Salat beiseite. Sie weiß, dass er kein Grünzeug mag, aber sie achtet seit Jahren darauf, dass er genug Vitamine und wichtige Ballaststoffe zu sich nimmt.

»Hat sie ganz gut geschrieben.« Ben räuspert sich umständlich, was bei ihm heißt, er habe es noch vergessen zu erwähnen.

Ida schaut ihn an, fragend, aber sie fragt nicht mehr. Wenn er ihr etwas erzählen will, soll er es tun, ohne dass sie ihn dazu auffordert. Es ist ohnehin besser, wenn sie die große Politik unerwähnt lassen. Sie ändern daran nichts, reiben sich nur auf. Erst recht, seitdem ihr Sohn bisweilen mit ziemlich verqueren Einstellungen bei ihnen aufkreuzt und damit die Familienidylle erheblich stört.

»Woher kanntest du eigentlich die Geschichte um diesen …, der der Euthanasie zum Opfer gefallen ist? «

»Wie? Ich meine, woher weißt du…?«

Ben hat seit Jahren keines ihrer Bücher mehr gelesen. Seine Argumente sind zwiespältig. Zum Teil leuchten sie ein, zum Teil klingen sie wie Ausreden.

»Der Artikel«, sagt er mit einer Spur von Vorwurf und dreht seinen Kopf wie beiläufig zur Zeitung hin.

»Ach«, sagt sie. »Ist er heute drin?«

»Eigentlich kannst du zufrieden sein. Die Dame schreibt doch sehr wohlwollend.«

»Okay. Ich lese ihn nachher. Jetzt essen wir erst einmal in Ruhe. «

Wiedermal gibt sie die Gelassene, die gute Hausfrau, die so tut, als gebe es nichts Wichtigeres für sie als sein Wohl, bestenfalls beider Wohl. In Wahrheit brennt sie darauf, zu lesen, was die Presse schreibt.

Solange sie isst, denkt sie darüber nach, warum sich das Leben immer wiederholt und warum sie nichts dagegen tun kann. …hat sie gut geschrieben…kannst du zufrieden sein.

Diese Worte fliegen durch ihren Kopf und finden keinen Widerhall. Warum kann er alle Menschen richtig einschätzen, nur für sie findet er nie die passenden Worte. Wie schön wäre es gewesen, er hätte nur ein Wort geändert. Hast du gut gemacht.

Dafür hätte er leider das Buch erst einmal lesen müssen.

In den ersten Jahren ihrer Autorenkarriere war sie bisweilen frustriert, weil sie den Eindruck hatte, von ihm alleingelassen zu werden. Unterbewertet. Aber es lag noch der Glaube in ihr, dass sich daran etwas ändern würde, sobald sie erfolgreich sei. Sie hatte sich geirrt. Später wollte sie ihn nichtmehr darum bitten, eines der Bücher mal zu testen, bevor es veröffentlicht wird. Was man erzwungenermaßen tut, wird mit gleicher Münze bezahlt. Das wollte sie sich ersparen. Also legt sie lediglich jedes fertige Buch offen im Arbeitszimmer hin, lässt es zwei Tage liegen und legt es dann, zumeist von ihm unberührt, in den Schrank. Umso berührter ist sie an diesen Tagen in ihrem Gemüt. Bisweilen denkt sie, sie könnte den erfolgreichsten Bestseller landen, ohne ein Wort von ihm zu hören. Kein Wunder, dass ihr dabei selbst die Puste ausgegangen ist und sie sich im Selbstmitleid lange Zeit gut gefiel. Ist es verwunderlich, dass sich eine lange unterdrückte Enttäuschung bei der ersten Lappalie entlädt, was auch mal in einem handfesten Streit endet?

Leider tut es ihr danach nie so gut wie erhofft, wenn sie sich selbst versichert, dass sie es mit Ben schlechter getroffen hat, als alle Welt glaubt. Immerhin gelten sie nach außen als unzertrennliches Paar, liebevoll und umsichtig füreinander. Am deutlichsten hören sie diese Meinung von ihrem Bankberater, einem freundlichen, aber sehr redseligen jungen Mann, der es geschickt versteht, aus seinen Kunden heraus zu kitzeln, wohin sie ihr erspartes Geld zu tragen gedenken. Eine bessere Marktforschungsmaschine kennt Ida Winter kaum. Morgen schon steht bei diesem Jens Wegener ein Termin an.

IN DER BANK

Erst vor wenigen Jahren war das Bankgebäude inmitten der Stadt errichtet worden, schon ist es als Prestigeobjekt zu klein und man muss noch einen Flügel anbauen. Wie günstig, dass der Laden nebenan, der lange Zeit Farben, Lacke und allerlei Sortimente für die Renovierung von Wohnungen verkaufte, schließen musste. Ein nachfolgendes Matratzengeschäft überlebte ebenso nicht und schloss schließlich auch, weil das schäbige Gebäude saniert werde sollte. Im Handumdrehen gehörte es zur Bank. Inzwischen ist das triste Gemäuer mit der bröckelnden Fassade nicht mehr erkennbar hinter dem teuren Marmor zwischen den großen, blau schimmernden Fensterfronten.

»Schön war es ja wirklich nicht«, flüstert Ida Ben zu, als sie in der kleinen Sesselgruppe vor einem riesigen Fernsehbildschirm sitzen und auf Jens Wegener warten, ihren Bankberater. Idas Blick geht zum neuen Innenhof zwischen den Gebäudeflügeln, der mit plätschernden Springbrunnen und edlen Gehölzen ebenso edel anmutet wie alles hier. Der feine Regen glitzert auf dem Marmorbrunnen und den teuren Bodenplatten und lässt alles wie blank poliert erscheinen. Auch Ben schaut in dieselbe Richtung.

»Jeder denkt, die Banken sind für die Rettung der Unternehmen da. Hier rettet man offenbar lieber sein Prestige.«

Sie erwartet von Ben keine Antwort. Eigentlich spricht sie viel zu oft mit sich selbst. In der Nähe von Menschen, die Ben nicht einschätzen kann, spricht er nur selten und wenn, dann sehr leise. Vielleicht ist das ein Erbe aus jener Zeit, als man noch fürchten musste, wegen eines falschen Zungenschlags in Misskredit zu rutschen.

Solange sie still nebeneinander sitzen, geht es ihr durch den Kopf: Sie gehen jedes Jahr hierher. Noch nie hatte sie — auch nicht in ihrem Inneren — den Bau in seiner Vollkommenheit einer Verkommenheit gleichgesetzt, aber die Zeiten wollen nicht, dass man sie gutheißt. Ben muss ähnliches durch den Kopf gehen, wie sie vernimmt.

»Schau es dir nur gut an, damit du weißt, wo dein Geld steckt«, sagt er leise. Vermutlich hatte er ihren Blick verfolgt. »Bei diesen Investitionen werden für uns wohl bald Minuszinsen herauskommen.«

»Wenn er uns das anbietet, lege ich mein Geld in den Safe«, entfährt es Ida ein wenig lauter als gewünscht. Ein kleiner Stich durchfährt sie. Mein Geld, hatte sie gesagt. Mein Geld. Natürlich haben sie ein gemeinsames Konto und das ist der bedeutende Unterschied zu ihrer Art, Tee zu kochen oder Kaffee zu trinken. Die wirklich hochgradigen Dinge verstehen sich noch immer als ihre gemeinsamen. Dazu gehören auch ihre Urlaube. Sie sind sich ja nicht fremd und schon gar nicht feind, aber irgendetwas fehlt seit Jahren in ihrer Ehe, und das sieht Ben totsicher ebenso. Sie hatten beide keine Lust mehr darüber zu reden, den Verlust ihrer Leidenschaft zum Gegenstand von Grundsatzdebatten zu machen, das führte noch nie zu einer Lösung. Seit Langem grübelt sie, warum die Wärme zwischen ihnen verlorengegangen ist. Bisweilen war sie zu dem Schluss gekommen, er kann mit ihrem Erfolg, mit ihrer Popularität, nur schlecht umgehen. Vielleicht wünscht er sich eine Frau, die ihm die Pantoffeln reicht, die ihm alles mundgerecht serviert. Das kann sie nicht mehr. Das will sie auch gar nicht. Nur manchmal, im Urlaub vielleicht, macht sie es aus purem Zeitvertreib.

Der Urlaub. Noch haben sie keine Planung, aber sie weiß es schon im Voraus. Ben zieht es ans Meer. Seit es ihnen uneingeschränkt möglich ist, fahren sie an die Ostsee-Küste und mieten sich eine der vielen modernen Ferienwohnungen, die von Kapital zeugen, über das ein hiesiger kaum verfügt.

Einmal hatten sie es an der Nordsee probiert. Seitdem klingt das Wort aus Bens Mund wie ein Schimpfwort, dem sofort eine Bemerkung folgt: Wenn ich ans Meer fahre, will ich Wasser sehen, keinen Schlamm.

»Hallo Familie Winter. Ich grüße Sie.« Die freundliche Stimme kommt aus dem ebenso freundlichen Gesicht der seriösen Erscheinung von Jens Wegener, ihrem langjährigen Berater. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Tee, oder Saft. Wasser vielleicht? «

Ben verneint und auch Ida weiß, dass sie mit jedem Ja die Zeit ihres Treffens unnötig verlängert, die Jens Wegener ständig und unnötigerweise auf eine Stunde ausdehnt. Das würde auch heute so sein, obwohl Ben noch zur UNI muss und es auch unumwunden erklärt.

Solange der Mann im dunklen Anzug und schmaler Krawatte die Lage der Banken erklärt, was für Ida schier undurchsichtig ist, aber für Ben nicht minder nebulös sein kann, gedulden sich die beiden. Sie kennen die Rituale und fügen sich. Leider läuft die lange Rede darauf hinaus, die lächerlichen Zinsen zu begründen, die man dem Sparer seit dem letzten Bankenskandal zumutet.

Zu guter Letzt reden nur noch die Männer darüber, welches Auto noch seinen Preis verdient und wohin man demnächst in den Urlaub fliegt. Unter den Malediven läuft heutzutage kein Vorschlag mehr ab, den ein Banker macht. Mit ihrem Status — was immer er darunter versteht — müsse man diese einmalige Welt erkunden, solange sie noch bestehe.

Ida schüttelt ohne es zu merken den Kopf. Sie ist beileibe keine Umweltfanatikerin, aber sie glaubt fest daran: Wenn alle Empfehlungen für Urlaubsreisen zu diesen Langzeitflügen tendierten, ist es ja kein Wunder, dass diese Inseln nicht mehr lange Bestand haben werden. Und das sagt sie auch in das erstaunte Gesicht des jungen Mannes. Schiebt aber lächeln nach: »Wir haben uns im vorigen Jahr neue E-Bikes gekauft. Die sind wesentlich gesünder für uns und die Umwelt. «

Ben rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. Ob es daran liegt, dass ihm die Zeit davonläuft, oder ob er mit ihrer Art zu kontern wiedermal ein Problem hat, erkennt sie nicht. Schließlich hat er sich darum auch nicht geschert, als es zwischen den Männern viel zu lange um Autos ging.

 

»Uns genügt die freie Natur«, sagt sie mit kleinem Triumph in der Stimme. »Wir könnten durchaus auf einer einsamen Insel leben, sofern sie keine Weltreise erfordert und genug Bewegung erlaubt. «

Das müde Lächeln von Jens Wegener kränkt sie, aber Ben scheint zufrieden zu sein, dass sein Gegenüber durch Idas Bemerkung seinen Redefluss gestoppt hat und endlich die Papiere zur Vertragsverlängerung zu ordnen beginnt, um sie zur finalen Unterschrift zu übergeben.

Auf ihrem Weg zurück nachhause sind sie sich vermutlich einig: In dieser Welt wird nichts mehr besser. Jeder hängt still seinen Gedanken nach. Sie haben beide keine Lust, über die Methoden der Banken zu lamentieren, über das unüberschaubare Geflecht des Finanz-Schacherns und wie es bis auf jeden einzelnen Angestellten herunter bricht, auch auf den sehr angenehmen Jens Wegener.

Erst zuhause, als Ida die Unterlagen in den Ordner heftet, sagt sie zu Ben: »Ich glaube, man sollte unter diesen Umständen auch den Vertrag zur Sparlotterie rückgängig machen. Ob die Beträge immer einem guten Zweck zugeführt werden, weiß sowieso keiner.«

Ben, der durch den Flur läuft und noch damit beschäftigt ist, seine Tasche für die UNI zu füllen, bleibt abrupt stehen, als muss er überlegen. Dann sagt er, was sie ohnehin erwartet hat: »Mein Gott, was sind die paar Euro? Die machen uns auch nicht reicher. «

Das stimmt, gibt sie unumwunden ihrem Mann Recht, obwohl sie weiß, dass sich Ben damit nur vor der peinliche Konsequenz zu schützen versucht, einmal sagen zu müssen, wir wollen das nicht mehr.

Ida hat indessen ein Problem damit, von ihrem Mann subtil behandelt zu werden, als wäre sie das perfekte Medium für raffinierte Verführungen. Für sie war die Sache mit der Sparlotterie von Anfang an eine Methode zur verkappten Gewinnmaximierung. Freilich werden bisweilen winzige Gewinnsummen ausgeschüttet, um den Sparer bei Laune zu halten, aber wohin das Gros des eingezahlten Geldes fließt, wird nirgends offengelegt. Allein die Tatsache, dass der Sparer am Jahresende einen Teil der eingezahlten Summe rücküberwiesen bekommt, macht manch einen Bankkunden ebenso glücklich, als wäre es ein passabler Gewinn.

Als sie am Tag darauf erwacht, wirft das Licht der Morgensonne die zarten Schatten der Gardine an die Wand. Es hat sie nicht gedrängt, das Bett zu verlassen, und Ben muss erst gegen elf Uhr zur UNI. Jetzt aber zieht sie eine magische Kraft hinauf. Sie schaut nach Ben. Der liegt ruhig atmend neben ihr, ein Bild, das sie bisweilen merkwürdig milde stimmt. In den früheren Jahren hätte sie ihn wachgeküsst. In den früheren Jahren hätten sie sich noch geliebt. Ben liebte es mehr als sie selbst, wenn der Tag damit anfing, dass er ihren Körper besaß, ihre Liebe, die sie ihm schenkte. Sie wendet sich ab von ihren Gedanken und von Ben. Früher ist nicht heute.

Auf leisen Sohlen schleicht sie sich aus dem Zimmer. Ihr Blick aus dem Wohnzimmerfenster bringt ihr das Gefühl von überwältigender Sehnsucht nach Sommer, nach Meer und nach nackten Füßen. Am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen. Nur am Horizont zieht ein schwacher Streifen dunstiger Bläue. Ida mag es lieber, wenn der Himmel mit weißen Wolken übersät ist, aber nach dem verregneten Vortag fühlt sich die gewaltige, wie Kobaltglas schimmernde Kuppel einfach nach Urlaub an, nach Freiheit von allen Zwängen, nach jener tiefen Zufriedenheit, die sie aus unerklärlichen Gründen im Urlaub noch immer gemeinsam empfinden, irgendwo auf Usedom oder Rügen.

Gleich heute wird sie sich dranmachen, ein schönes Apartment zu buchen.

Sie frühstücken gemeinsam, hören dabei die Nachrichten und reden über unbedeutende Dinge. Der Sicherheitsdient im Haus. Der dauernd kränkelnde Aufzug. Der Einzug der vielen Studenten und der Ausländer in den begehrten Wohnkomplex mitten in der Stadt. Nur hin und wieder huscht ihr Blick zu Ben. Sie findet, er ist ein Anderer, seit die Kinder aus dem Haus sind. Immerhin trägt er alles mit, was sie tut, wenn auch ohne die gewünschte Begeisterung.

Er hat davon auch seinen Nutzen. Sie muss schließlich nicht mehr zwingend das Haus verlassen, kann ihre Zeit auf ihn einstellen, was sie zumeist auch bewerkstelligt. Leider hat Ben dafür kein Gespür, glaubt womöglich, ihre Planung für den Tag sehe ohnehin alles genauso vor. Sie trägt es ihrerseits mit Fassung, was die Melancholie, die sie deswegen bisweilen empfindet, nicht mindert.

Als Ben aufbricht, weiß sie nicht einmal, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein soll. Die Rituale in ihrer Ehe sind seit Jahren dieselben. Warum sollte sie also enttäuscht sein.

Weil es nicht stimmt, geht ihr auf. Früher, als sie noch täglich zur Arbeit ging, kam ihr Ben stets wie ihr Beschützer vor, wie ihr Fels in der Brandung. Erst nach und nach änderte sich seine Position zu ihr. Genau genommen, seit sie Bücher schreibt. Nicht sofort. Es änderte sich parallel zu ihrem Erfolg, zu ihrer Anerkennung durch die Öffentlichkeit. Irgendetwas gefällt ihm daran nicht, aber er offenbart sich ihr nie. Manchmal sieht es so aus, als sei er noch immer eifersüchtig, wegen ein paar Komplimenten, die auch mal von Männern kommen. Dann wieder hat sie das Gefühl, er misst sich mit ihr und glaubt, sein Status sei dadurch unterbewertet.

Das Telefon läutet. Auf der Anzeige eine bekannte Nummer. Noch ehe sie abhebt, glaubt sie, Jens Wegener, ihr Bankberater, habe gestern etwas vergessen.

Eine Frauenstimme redet überschwänglich, wie froh sie sei, dass es endlich mal jemanden treffe, dem sie es wirklich gönnt. Es ist Vera Böllmann, die PR-Chefin der Bank.

Wie sich herausstellt, hat die bankeigene Sparlotterie den diesjährigen Hauptgewinn ermittelt, und das sind ausgerechnet sie, Ida und Dr. Benjamin Winter.

»Wohin soll es gehen?«, fragt Ida, noch immer ungläubig.

»Auf eine einsame Insel in Dänemark…«

»In Dänemark!« Es war etwas zu schrill, das merkt sie sofort, aber ihr Erstaunen ist echt. In Anbetracht der bisherigen Minibeträge, die bisweilen ausgeschüttet werden, hätte man, wenn man schon mal das Glück hat, mit einem Kurzurlaub in der näheren Umgebung rechnen können. Niemals aber mit dem Ausland.

»Wir haben uns erkundigt und wissen, dass es unbedingt etwas für Sie ist. Deshalb freue ich mich aufrichtig für Sie.«

Daher also. Erst gestern hatten sie mit Jens Wegener dieses Thema angeschnitten, und ausgerechnet heute… ! Irgendetwas muss faul sein an der Sache. Hatte bisher ein anderer Sieger abgelehnt?

»Erst einmal bin ich natürlich überrascht«, sagt sie ehrlich, »aber ich werden nachher mit meinem Mann reden und rufe zeitnah zurück. «

Verstehen will Vera Böllmann Idas Zögern nicht. Das nötigt ihr eine weitere Erklärung ab: Die einzigen Bewohner der Insel würden zu dieser Zeit nicht zuhause sein. Sie hätten also völlige Freiheiten — ganz ohne Verpflichtung.

Genau so sagt es Ida am späten Nachmittag auch Ben. Wie sie erstaunt sie am Morgen war, ist es Ben momentan. Auch er sieht einen Zusammenhang zu Idas Bemerkung bei Jens Wegener, aber anfreunden kann er sich mit dem Gedanken nicht sofort.

»Wer will schon in die Einöde«, sagt er. »Ich wette, die suchen schon lange nach einem Dummen, dem sie den Gewinn andrehen können. Vielleicht war es ein allzu günstiges Angebot von dort. Wie sagtest du, heißt die?«

»Petersland, oder so. «

»Na, dann wollen wir doch mal sehen…«

Ben setzt sich an den Computer und Ida hört fast eine halbe Stunde nichts von ihm. Als er kommt, trägt er einen verschwommenen Ausdruck mit sich, auf dem ein winziges Pünktchen mit einem Stift eingekreist ist. Vermutlich musste er den Kartenausschnitt bis zu dieser Unkenntlichkeit vergrößern, aber zu erkennen ist die Insel deswegen nicht. Sei Finger tippt auf den Kringel.

»Genau kann ich es nicht sagen, aber das hier könnte sie sein — Pedersand.«

Nach dem Abendbrot reden sie über die Sache mit dem Urlaub. Begeistert sind sie beide nicht, aber Ida hatte zumindest etwas länger Zeit, darüber nachzudenken und war zu dem Schluss gekommen: Ein Abenteuer in der Abgeschiedenheit würde ihrer Ehe neue Impulse verleihen. Alleine dafür lohne es sich, in die Einsamkeit zu ziehen.

Erst nach vielen Worten hin und her und nach reiflicher Bedenkzeit willigt Ben ein.

Viel später — als sie schon auf Pedersand sind — wird ihr klar, warum ihr Mann letztlich eingewilligt hat. Er trägt ein ganzes Bündel Akten mit sich. Hier kann er in Ruhe diverse wissenschaftliche Arbeiten angehen.