Geniales Essen

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Reich an Energie, arm an Nährstoffen

In Anbetracht der regelrechten Adipositas-Epidemie und der Menge an Lebensmitteln, die in Amerika und rund um den Erdball routinemäßig weggeworfen wird (denn selbst leicht verwachsenes Gemüse wird aussortiert, damit unser Einkaufserlebnis im Supermarkt ästhetisch so angenehm wie möglich ist) mag es überraschen, dass unser Körper dennoch irgendwie … verhungert.

Haben Sie sich jemals gefragt, warum so viele abgepackte Lebensmittel mit Vitaminen „angereichert“ sind? Auf der ganzen Welt gibt es mehr als 50000 essbare Pflanzensorten – Pflanzen, die eine Fülle einzigartiger und wohltätiger Nährstoffe bieten, welche Jäger und Sammler noch konsumierten. Heutzutage wird unsere Ernährung jedoch von drei Ernten dominiert: Weizen, Reis und Mais machen zusammen 60 % der weltweiten Kalorienaufnahme aus. Diese Getreidesorten sind eine günstige Energiequelle für unseren Körper, aber vergleichsweise nährstoffarm. Das Zufügen von ein paar billigen (in der Regel synthetischen) Vitaminen ist das diätarische Äquivalent davon, ein Schwein mit Lippenstift zu schminken.

Verschollene Mikronährstoffe


Kalium Unterstützt gesunden Blutdruck und Nervensignale
B-Vitamine Unterstützen Genexpression und Isolierung der Nervenzellen (Myelinscheide)
Vitamin E Schützt fetthaltige Strukturen (z. B. Gehirnzellen) vor Entzündungen
Vitamin K2 Verhindert, dass sich Kalzium in Weichgewebe wie Haut und Arterien absetzt und sorgt dafür, dass es in Knochen und Zähnen bleibt
Magnesium Energiebildung und DNA-Reparatur
Vitamin D Wirkt entzündungshemmend, unterstützt ein gesundes Immunsystem
Selen Bildet Schilddrüsenhormone und beugt Quecksilbervergiftung vor

Die obige Liste deckt nur ein paar der essenziellen Nährstoffe ab, die im Rahmen der modernen Ernährung vernachlässigt werden. Insgesamt wurden etwa vierzig Mineralstoffe, Vitamine und andere chemische Stoffe als essenziell für unsere Physiologie identifiziert. Diese stehen in den vollwertigen Lebensmitteln – die wir nicht essen – ohne Weiteres zur Verfügung.2 Inzwischen sind 90 % der amerikanischen Bevölkerung nicht mit adäquaten Mengen von mindestens einem Vitamin oder Mineralstoff versorgt.3

Um das Ganze noch komplizierter zu machen, sind Richtlinien zur Aufnahme von Nährstoffen nur darauf ausgelegt, einen Mangel in der Bevölkerung abzuwenden. Das heißt, selbst wenn wir all die von den Institutionen empfohlenen Vorgaben erfüllen, kann es trotzdem noch vorkommen, dass wir unseren Körper ernsthaft beschränken. Die empfohlene Tagesmenge für Vitamin D ist zum Beispiel nur darauf ausgerichtet, Knochenweiche zu verhindern. Bei Vitamin D (das entsteht, wenn unsere Haut den UVB-Strahlen der Sonne ausgesetzt ist) handelt es sich um ein Steroidhormon, welches die Funktion von beinahe 1000 Genen in unserem Körper beeinflusst, von denen viele bei Entzündungen, der Alterung und den kognitiven Funktionen eine Rolle spielen. Tatsächlich stellte sich im Rahmen einer aktuellen Analyse der University of Edinburgh heraus, dass eine zu geringe Versorgung mit Vitamin D zu den größten umweltbedingten Risikofaktoren für das Auftreten von Demenz gehört.4 (Einige Forscher haben sich dafür ausgesprochen, dass die für eine bestmögliche Gesundheit optimale Tagesmenge an Vitamin D mindestens 10-mal höher sein müsste als aktuell empfohlen.)5

Wenn unser Körper spürt, dass essenzielle Nährstoffe nur in geringen Mengen verfügbar sind, wird er die verfügbaren Mengen in der Regel für Prozesse anwenden, die kurzfristig unser Überleben garantieren – langfristige Gesundheit muss erst mal auf dem Rücksitz Platz nehmen. Diese Theorie wurde zunächst vom anerkannten Biochemiker und Forscher Bruce Ames formuliert und als „Triage-Theorie“ des Alterns tituliert. Es ist vergleichbar mit einer Regierung, die in Kriegszeiten entscheidet, Lebensmittel und Kraftstoff zu rationieren. In solchen Fällen hätten unmittelbare Bedürfnisse wie Essen und Schutz zunächst Priorität, während das öffentliche Bildungswesen eventuell der Rationierung zum Opfer fallen würde. Im Fall unseres Körpers werden einfache, zum Überleben benötigte Prozesse feingliedrigeren Reparaturprojekten vorgezogen, während entzündungsfördernde Prozesse Amok laufen.

Die nachgelagerten Auswirkungen eines Magnesiummangels sind hervorragend als Beispiel für eine solche Neuordnung der Prioritäten geeignet. Bei Magnesium handelt es sich um einen Mineralstoff, der für mehr als 300 Enzymreaktionen im Körper benötigt wird – von der Energiebildung bis zur DNA-Reparatur. Wird Magnesium ständig nur zum Abdecken kurzfristiger Grundbedürfnisse verwendet, muss die DNA-Reparatur zurückstecken. Dieser Effekt wird sicher verstärkt, wenn man in Betracht zieht, dass fast 50 % der Bevölkerung nicht ausreichend mit Magnesium versorgt sind – ein größeres Defizit herrscht nur an Vitamin D – dabei ist es doch leicht im Zentrum von Chlorophyll zu finden, dem Energie erzeugenden Molekül, das dunkelgrünem Blattgemüse die Farbe verleiht.6

Forschungsergebnisse haben bestätigt, dass durch Nährstoffmangel verursachte Entzündungen eng mit beschleunigter Alterung des Gehirns und einer gestörten kognitiven Funktion in Verbindung stehen.7 Robert Sapolsky, Autor von Why Zebras Don’t Get Ulcers, hat es vermutlich am besten ausgedrückt, als er die ähnlichen Prioritätsverschiebungen beschrieb, die sich bei Stress vollziehen: Der Körper verschiebt langfristige Projekte auf später, bis er sicher ist, dass es ein langfristiges Später geben wird. Schließlich werden einen die Hauptkonsequenzen beschädigter DNA, z. B. ein Tumor oder Demenz, erst in Jahren oder Jahrzehnten behindern … doch Energie brauchen wir heute.

Zucker und Kohlenhydrate – Eine Einführung

Man könnte meinen, dass der hauptsächliche Wandel von der Vorgeschichte zur Moderne darin bestand, die Lieferanten konzentrierter Kohlenhydrate von gelegentlichen Auftritten als Statisten in unserer Ernährung in Hauptrollen zu erheben. Die konzentrierteste Quelle für Kohlenhydrate ist raffinierter Zucker, der heutzutage fast allen Lebensmittelprodukten zugefügt wird – von vermeintlich harmlosen Säften, Crackern und Würzmitteln zu unverhohlenen Schurken wie Softdrinks. Selbst wenn wir im Versuch, diese einfachen Kohlenhydratquellen zu vermeiden, unser Bestes tun – sie sind unter Umständen unheimlich unauffällig versteckt. Der Professor für Neuroendokrinologie Robert Lustig, der Adipositas erforscht und gegen diese Epidemie in den Kreuzzug zieht, hat sechsundfünfzig einzigartige Begriffe identifiziert, die Nahrungsmittelproduzenten verwenden, um Zucker zu verschleiern. Damit macht die Industrie es schwer – wenn nicht sogar unmöglich – zusätzlich zugefügten Zucker in Zutatenlisten zu entdecken, wenn man nicht zu den besonders peniblen Schnüfflern gehört. Hier nur ein paar der vielen Namen von Zucker: Guarapo (Zuckerrohrsaft), Fruktose, Malz, Dextrose, Honig, Ahornsirup, Melasse, Saccharose, Kokosblütenzucker, Reismalz, Fruchtsaft, Laktose, Dattelzucker, Glukosefeststoffe, Agavendicksaft, Gerstenmalz, Maltodextrin und Maissirup.

Doch es sind nicht bloß die offenkundigen Zuckerformen, die es in der modernen Ernährung zu einiger Bedeutung gebracht haben. Die Kultivierung von Getreidesorten wie Weizen, Mais und Reis, Knollengemüse wie Kartoffeln und modernem süßem Obst ist heutzutage darauf ausgerichtet, maximale Zucker- und Stärkeerträge zu erzielen. Obwohl diese Stärke weder so aussieht noch so schmeckt wie Zucker, setzt sie sich doch aus Glukoseketten zusammen, die in dem energiedichten Gewebe von Samen und Pflanzen gespeichert sind. (Zu diesem Zeitpunkt fragen Sie sich vielleicht, ob dieses Buch Ihnen vorschreiben wird, die entsprechenden Nahrungsmittel für immer aus Ihrem Leben zu verbannen … Die Antwort ist „nein“. In späteren Kapiteln zeigen wir, wie man stärkehaltige Lebensmittel mit hoher Energiedichte in einer Art und Weise konsumieren kann, die einem guttut, statt einen dick und krank zu machen.)

Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Menschen vor der landwirtschaftlichen Revolution täglich ungefähr 150 Gramm Ballaststoffe zu sich nahmen. Heute essen wir mehr konzentrierte Kohlenhydrate als jemals zuvor und bekommen magere 15 Gramm Ballaststoffe – an einem guten Tag. Kritiker der Steinzeiternährung (Paleo-Diät) weisen häufig auf den wahrscheinlichen Konsum von Ur-Getreidesorten vor der landwirtschaftlichen Revolution hin, doch unabhängig vom Prozentsatz wurden diese ganz klar von massivem Ballaststoffgehalt begleitet – ein dramatischer Unterschied von kritischer Bedeutung im Vergleich zu den kaloriendichten, industriell verarbeiteten Lebensmittelquellen, die uns heute zur Verfügung stehen.

 

Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, wie leicht unser Körper Stärke in ihre einzelnen Zuckermoleküle abbauen kann. Dieser Umwandlungsprozess wartet noch nicht mal darauf, dass wir geschluckt haben – er beginnt bereits im Mund, dank des im Speichel befindlichen Enzyms Amylase. (Wenn es Ihnen so geht wie mir, dann haben Sie das im Biologieunterricht der 9. Klasse gelernt. Wenn man den Bissen eines stärkehaltigen Lebensmittels länger im Mund lässt, wird man die Süße schmecken, die entsteht, wenn die Stärke auf der Zunge in ihre Zuckerbestandteile abgebaut wird.) Tatsächlich ist es so, dass die Produktion des Speicherhormons Insulins bereits stimuliert wird, bevor wir den ersten Bissen (oder Schluck) eines Lebensmittels nehmen – einfach nur dadurch, dass wir anschauen, was wir essen werden. So bereitet sich der Körper darauf vor, den kommenden Zuckeransturm zu bewältigen.

Die Hauptaufgabe von Insulin ist es, Zuckermoleküle rasch aus der Blutbahn in unser Fett- und Muskelgewebe zu befördern. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Zucker einen kurzen Zwischenstopp in unserem Magen einlegt, um sich dann auf die 10-minütige U-Bahnfahrt in unsere Blutbahnen zu machen, ist das Hormonsystem unseres Körpers bereits in vollem Energiespeicher-Modus. Doch das Speichern von Energie ist nur ein Teil der Geschichte – dieser Prozess ist auch dafür zuständig, die Schäden unter Kontrolle zu halten, die durch zu hohe Zuckerwerte im Blut entstehen.

Der menschliche Körper mag Stabilität. Er tut einiges dafür, dass unsere Körpertemperatur ständig innerhalb eines engen Bereichs bleibt (um die 37 °C) und Ähnliches gilt auch für den Blutzuckerspiegel. Das gesamte Volumen des im erwachsenen menschlichen Körper zirkulierenden Blutplasmas (etwa 5 l Blut) enthält jederzeit nur einen einzigen Teelöffel Zucker. Vielleicht führt diese Information dazu, dass Sie Ihre Nahrung in einem anderen Licht sehen, eventuell zweimal darüber nachdenken, ob Sie nach dem Glas Orangensaft greifen sollten, das etwa 6-mal mehr Zucker enthält, als Blutzucker in Ihrem Körper zirkuliert. Oder dieser köstliche Cranberry-Muffin, der in der Teeküche des Büros lockt und die siebzehnfache Menge Zucker enthält – der beim Verzehr fast sofort in Ihren Blutkreislauf geschüttet werden würde.

Okay, was soll’s? Essen wir den Zucker, das Insulin wird ihn schon wieder aus dem Blutstrom beseitigen – wenn kein Schaden bleibt, war es auch kein Foul, richtig? Falsch.

Die Flut klebriger Süße

Zucker ist klebrig, sobald er in unserem Körper ist – so ähnlich wie Ahornsirup, der einem an den Fingern klebt. Der Unterschied hier ist allerdings, dass Zucker, sobald er einmal in unserem Inneren klebt, nicht abgewaschen werden kann. Auf molekularer Ebene heißt dieser Prozess Glykation und findet statt, wenn sich ein Glukosemolekül an ein nahegelegenes Protein oder die Oberfläche einer Zelle bindet und dabei Schaden anrichtet. Proteine werden für die richtige Struktur und Funktion aller Organe und allen Gewebes im Körper benötigt – von der Leber über die Haut bis zum Gehirn. Alle Lebensmittel, die den Blutzuckerspiegel anheben, steigern potenziell auch die Glykation – und jedes der Glukose ausgesetzte Protein ist gefährdet.8

FAQ: Soll ich besser Vollkornreis oder weißen Reis essen?

A: Wie gesund ein Getreide ist, wurde normalerweise durch ein metrisches Maßsystem bestimmt, genannt Glykämischer Index (GI). Der GI ist das Maß dessen, wie schnell sich ein bestimmtes Lebensmittel auf den Blutzuckerspiegel auswirkt – als Maß für die Qualität eines Lebensmittels ist er aber nur minimal geeignet, da der Index die typischen Portionsgrößen nicht widerspiegelt. Außerdem wird der GI ungenau, sobald Zucker und Stärke mit anderen Lebensmitteln vermischt sind, da Fett, Proteine und Ballaststoffe die Absorption des Zuckers in den Blutstrom verzögern. Eine gemischte Mahlzeit mit Kohlenhydraten, Proteinen und Fett könnte es dem Körper unter Umständen sogar schwerer machen als Zucker in seiner isolierten Form, da die Insulinwerte dadurch über längere Zeit erhöht sind. Mit der Zeit kann das größere Probleme verursachen (mehr dazu im nächsten Kapitel).

Die gesamte glykämische Last, welche die Portionsgröße mit einbezieht, ist unter Umständen ein besseres Maß für die Qualität einer Mahlzeit als der GI der einzelnen Lebensmittel. (Schwerer zu messen, aber vielleicht sogar noch besser wäre die gesamte Insulin-Last, bei der die Potenzierung der Fettspeicherung mit einbezogen wird, die Kohlenhydrate plus Fett in industriell verarbeiteten Lebensmitteln mit sich bringen.) Daraus folgt ganz einfach, dass man sich am besten an die Kohlenhydrate hält, die in natürlich ballaststoffreichen Lebensmitteln wie Gemüse, zuckerarmem Obst (auf den folgenden Seiten werde ich ein paar Sorten auflisten), Knollengemüse, Bohnen und Hülsenfrüchten vorkommen, bei denen sowohl Glykämischer Index als auch Glykämische Last niedrig sind.

Wenn es also um Reis geht, wählen Sie einfach die Sorte, die Sie bevorzugen. Vollkornreis enthält zwar mehr Ballaststoffe und Mikronährstoffe als weißer Reis, ist aber für beides kein großartiger Lieferant und ist für manche Menschen ohnehin nur schwer verdaulich. In Anbetracht der Tatsache, dass Glykämischer Index und Glykämische Last hier beinahe gleich sind, wähle ich, wenn wir nach einer langen Sportsession gelegentlich gemeinsam in eine Sushi-Bar gehen, Vollkornreis, während Dr. Grewal sich für weißen Reis entscheidet (und mir damit noch eine Stunde später in den Ohren liegt).

Jetzt, da Sie wissen, wie einfach Stärke in Zucker umgewandelt werden kann, sollten Sie sich auch dessen bewusst sein, dass – egal, ob Sie ein Glas Saft trinken, was zu einem rapiden Anstieg des Blutzuckerspiegels führt, oder eine Schüssel Vollkornreis essen, in dem Ballaststoffe und Zucker in langen Molekülketten verbunden sind, was zu einer kleineren, aber verlängerten Flut führt – die Menge der Glykation, die bei einer bestimmten Menge an Kohlenhydraten auftritt, ziemlich gleichbleibend ist. Das lässt sich in eine einfache Formel herunterbrechen:

Glykation = Glukosekontakt × Zeit

Ebenso wie im Fall von Oxidation gehört es unvermeidlich zum Leben, dass bis zu einem gewissen Grad Glykation stattfindet. Die gute Nachricht ist jedoch, dass, ebenso wie wir die Geschwindigkeit der Oxidation in unserem Körper verlangsamen können, indem wir oxidierte Öle vermeiden, wir auch die Geschwindigkeit drosseln können, in der sich Glykation vollzieht. Und unsere wirksamste Waffe im Kampf gegen die Glykation könnte eventuell unsere Gabel sein,* mit der wir uns Lebensmittel herauspicken können, die keine übermäßigen Mengen an Zucker enthalten (zusammengekettet oder anders), der sich an unsere Proteine klebt.


HOHER ZUCKERGEHALT GERINGER ZUCKERGEHALT
Weizenprodukte (Vollkorn und weiß) Rindfleisch aus Weidehaltung
Hafer Mandeln
Kartoffeln Avocado
Mais Fetthaltiger Fisch
Reis (Vollkorn und weiß) Geflügel
Softdrinks Grünkohl
Frühstücksflocken Eier
Fruchtsaft Spinat

Einer der schädlichsten Aspekte der Glykation ist die Tatsache, dass sie zur Bildung von sogenannten Advanced Glycation Endproducts (etwa: fortgeschrittene Endprodukte der Glykation) führt, kurz AGEs – ein durchaus passendes Akronym. AGEs sind als „Gerontotoxine“ bekannt, bzw. Alterungstoxine (vom griechischen Geros, was so viel wie „hohes Alter“ bedeutet), und sind hoch-reaktive biologische Bösewichte. Sie werden eng mit Entzündungen und oxidativem Stress im Körper in Verbindung gebracht und werden in der Regel im Körper aller Menschen jeden Alters erzeugt – in unterschiedlichen Mengen und zum Großteil diktiert von der Ernährung.9 Da die Bildung von AGEs sich mehr oder weniger proportional zu den Blutzuckerwerten vollzieht, läuft dieser Prozess bei an Diabetes Typ 2 erkrankten Menschen stark beschleunigt ab, was eine große Rolle dabei spielt, dass die Betroffenen die Tendenz haben, degenerative Erkrankungen wie Atherosklerose und Alzheimer zu entwickeln bzw. dass sich deren Symptome verschlimmern.

Wo wir gerade von Alzheimer sprechen: Ein von dieser Erkrankung betroffenes Gehirn ist mit diesen Alterungstoxinen geradezu durchzogen, enthält dreimal mehr AGEs, als in einem normalen Gehirn zu finden sind.10 (Der niederländische Neurobiologe D. F. Swaab hat die Erkrankung als vorzeitige, beschleunigte und starke Form der Gehirnalterung beschrieben.) Die Glykation spielt ganz klar eine Rolle in diesem Prozess und das erklärt zum Teil, warum ein erhöhter Blutzuckerspiegel das Demenzrisiko verstärkt – selbst bei Nicht-Diabetikern.11 Doch man muss keine Demenz haben, um unter den Auswirkungen von AGEs auf die Kognition zu leiden. Bei nicht von Demenz betroffenen Erwachsenen, die nicht unter Diabetes Typ 2 litten, zeigten sich höhere Werte von AGEs mit der Zeit in einem schnelleren Verlust der kognitiven Funktion, beeinträchtigter Lern- und Erinnerungsfähigkeit und reduzierter Expression von Genen, die neuronale Plastizität und Langlebigkeit fördern.12

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, in welcher Geschwindigkeit AGEs im Körper gebildet werden, können Ärzte einen Test verwenden, der in der Regel zum Diabetes-Management eingesetzt wird, den sogenannten Hämoglobin A1C, der die Menge von Zucker betrachtet, der an den roten Blutkörperchen haftet. Blutkörperchen zirkulieren durchschnittlich vier Monate im Körper und sind dabei ständig den variierenden Zuckerwerten im Blut ausgesetzt, bevor sie zur Pensionierung in die Milz geschickt werden. Daher kann der A1C ein Bild der durchschnittlichen Blutzuckerwerte über etwa 3 Monate vermitteln. Da die an roten Blutkörperchen haftende Zuckermenge in direkter Verbindung zur gebildeten AGE-Menge steht, ist der A1C ein aussagekräftiger Marker für das Risiko kognitiven Abbaus oder sogar reduzierter kognitiver Leistung.

Die Neurowissenschaftlerin Agnes Flöel, deren Labor im Krankenhaus der Charité in Berlin ich besuchte, hat eine Studie durchgeführt, in der 141 Menschen untersucht wurden, deren A1Cs im normalen Bereich lagen. Dabei fand sie heraus, dass die Studienteilnehmer sich bei Gedächtnistests an zwei Wörter weniger erinnern konnten, wenn ihr Hämoglobin A1C (der durchschnittliche Blutzuckerwert über einen Zeitraum von 3 Monaten) um 0,6 % anstieg. Lassen Sie mich wiederholen: Es handelte sich um Nicht- Diabetiker. Sie hatten noch nicht mal Prädiabetes. Darüber hinaus hatten Menschen mit höherem A1C ein geringeres Volumen im Hippocampus, dem Erinnerungen verarbeitenden Zentrum im Gehirn.13 Diese Ergebnisse ähneln den in Neurology (dem offiziellen Magazin des American Academy of Neurology) veröffentlichten Resultaten einer Studie, dass höhere Blutzuckerwerte während des Fastens, die ebenfalls im Normalbereich lagen, mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Volumenverlust in dieser wertvollen Region des Gehirns voraussagten.14

 

ÄRZTLICHER HINWEIS: DIE NACHTEILE DES A1C

Der A1C ist kein perfekter Test, aber er bestätigt, wie schädlich Zucker sein kann. Studienergebnisse zeigen, dass ein erhöhter Blutzuckerspiegel die Lebensdauer von Blutzellen verkürzt. Während die Blutzellen einer Person mit normalen Blutzuckerwerten also eine ungefähre Lebensdauer von 4 Monaten haben, überleben die Blutzellen von jemandem mit chronisch hohen Blutzuckerwerten evtl. nur drei Monate oder kürzer.15 Je länger sie in Umlauf ist, umso mehr Zucker sammelt eine Blutzelle an. Daher kann es vorkommen, dass bei einer Person mit gesunden Blutzuckerwerten der Test fälschlicherweise positiv ausfällt, während ein Diabetiker unter Umständen sogar noch höhere Blutzuckerwerte hat, als der A1C anzeigt.

In meiner Praxis wende ich gelegentlich den sogenannten „Fructosamin-Test“ an, der die Verbindungen kalkuliert, die durch Glykation entstehen, und damit eine Reflektion der Blutzuckerkontrolle über die vergangenen 2 – 3 Wochen darstellt, statt über die letzten 3 Monate. Da dieser Test nicht durch die unterschiedliche Lebensdauer von Blutzellen beeinflusst wird, hilft er dabei, Diskrepanzen mit A1C zu analysieren, z. B. wenn sich die durchschnittlichen Blutzuckerwerte wegen einer Ernährungsumstellung rapide verändern.

Die durch Glykation verursachten Schäden sind nicht nur auf das Gehirn begrenzt. Glykation ist bekannt dafür, die Alterung von Haut, Leber, Nieren, Herz und Knochen voranzutreiben.16 Kein Teil von uns ist dagegen immun. In gewissem Sinne reflektiert unser A1C-Wert (da er sowohl Insulin-Ausschüttung als auch AGE-Bildung widerspiegelt) sogar die Geschwindigkeit, mit der wir altern.

Die Augen sind ein Fenster zu einem weiteren Beispiel von durch Glykation verursachter Alterung, da sie Neuronen und andere Zellarten enthalten, die höchst empfindlich auf Glykation reagieren. Linsentrübungen (Katarakte) gehören weltweit zu den vornehmlichen Ursachen für Erblindung. Wissenschaftler wissen, dass bei Versuchstieren innerhalb von nur 90 Tagen Katarakte entstehen können, indem dafür gesorgt wird, dass ihre Blutzuckerwerte konstant erhöht sind, was die Glykation beschleunigt.17 Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass Diabetiker, die gesteigerte Glykations-Raten haben, im Vergleich zu Menschen mit normalen Blutzuckerwerten ein bis um das Fünffache verstärktes Risiko haben, Katarakte zu entwickeln.18

Doch nicht alle AGEs werden im Körper produziert. Einige stammen aus unserer Umgebung. Zigarettenrauch ist zum Beispiel ein Vehikel, über das diese Alterungsbeschleuniger gut in den Körper gelangen können. Die AGE-Bildung ist außerdem auch eine ziemlich übliche chemische Reaktion bei der Zubereitung von Lebensmitteln, vor allem dann, wenn bei hohen Temperaturen gegart wird. Die AGE-Forschung steckt zwar noch in den Kinderschuhen, Studien haben aber gezeigt, dass eine große Mehrzahl der AGEs endogen im Körper gebildet werden – als Resultat einer kohlenhydratreichen Ernährung. Tatsächlich wurde berichtet, dass Vegetarier eine höhere Menge zirkulierender AGEs haben als Fleischesser, und man geht davon aus, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass sie mehr Kohlenhydrate und Früchte zu sich nehmen.19

IN UNSERER UMWELT

Wenn Sie jemals ein Steak gegrillt und dabei beobachtet haben, wie sich eine braune Kruste entwickelt, dann haben Sie gesehen, wie sich Glykation vollzieht. Das Bräunen weist auf die Bildung exogener (außerhalb des Körpers gebildeter) AGEs hin. Dies ist als Maillard-Reaktion bekannt. Tatsächlich entstehen bei der Verarbeitung jeglicher Lebensmittel AGEs, trockene Zubereitungsmethoden bei hoher Temperatur wie Grillen oder Braten sind besonders förderlich für die Bildung von AGE und industriell verarbeitete Lebensmittel (zum Beispiel Würste und Hot Dogs) enthalten höhere Mengen als die Zutaten in ihrer natürlichen Form. Die sichersten Kochmethoden verwenden feuchte Hitze, z. B. Sautieren oder Dämpfen. (Pflanzen enthalten weniger AGEs als Fleisch, unabhängig von der Zubereitungsmethode.)

Jetzt könnte man sich fragen, ob es besser wäre, Fleisch ganz wegzulassen. Es wäre jedoch ein Fehler, alleine am AGE-Gehalt festzumachen, wie gesund ein Lebensmittel ist. Gegrillter Wildlachs enthält z. B. deutliche Mengen AGEs und doch wurde der Verzehr von wildem Fisch in vielen Studien und Versuchen mit gesunder kognitiver und kardiovaskulärer Alterung in Verbindung gebracht. Außerdem gehen viele Anthropologen davon aus, dass es nicht nur der Konsum von Fleisch, sondern der Vorgang des Kochens an sich war, der es unseren Vorfahren ermöglichte, mehr Kalorien und Nährstoffe aus ihrer Nahrung zu beziehen, was es erst möglich machte, dass unser Gehirn seine robuste, moderne Größe erreichte. Die sicherste Möglichkeit, Fleischprodukte in die Ernährung zu integrieren, ist es, Teilstücke von Tieren aus Bio- oder Freilandhaltung zu verwenden (oder wild gefangenen, wenn es um Fisch geht). So geht man sicher, dass größere Mengen von Antioxidantien im Fleisch enthalten sind. Außerdem sollte man bei möglichst geringer Hitze garen (dabei natürlich aber auch darauf achten, das Fleisch komplett durchzugaren, um Erkrankungen zu vermeiden).

Nicht zu vergessen ist, dass nur zwischen zehn und dreißig Prozent der exogenen AGEs in den Körper absorbiert werden. Antioxidative Nährstoffe wie Polyphenole und Ballaststoffe, die in pflanzlichen Lebensmitteln reichlich vorhanden sind, können diese Alterungstoxine neutralisieren, bevor sie in unser System vordringen können.20 Wenn Sie sich z. B. gerne mal Hähnchenbraten gönnen (eine ziemlich reichhaltige AGE-Quelle), kann eine ordentliche Portion dunkles Blattgemüse als Beilage die Auswirkungen minimieren und außerdem für eine angenehmere Interaktion zwischen den AGEs und den Billionen Bakterien sorgen, die in unserem Darm leben und eine bedeutende Rolle für unsere Gehirnfunktionen spielen, wie Sie sehen werden.