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V. Die Vertretung der Gemeinde gegenüber Dritten

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Auch wenn die Gemeindeordnungen detaillierte Vorgaben hinsichtlich der Aufgabenaufteilung auf die kommunalen Organe im Einzelnen enthalten, so stellt sich doch die Frage, wer – unbeschadet dieser internen Abgrenzungen – nach außen hin, gegenüber Dritten, zu handeln befugt ist. Diese Problemstellung dürfte bereits aus dem Zivilrecht bekannt sein, wo zwischen Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis und Vertretungsmacht nach außen zu unterscheiden ist. Schließlich ist es für Außenstehende, die mit einer juristischen Person in geschäftlichen Kontakt treten, weitgehend unzumutbar, sich etwa vor Vertragsschluss zunächst den oft komplizierten Interna widmen zu müssen, um zu erkennen, ob alle Bindungen eingehalten sind. Daher stellt sich auch im Kommunalrecht die Frage, wer und unter welchen Voraussetzungen im Rechtsverkehr für die Gemeinde vertretungsbefugt ist.

Gemäß Art. 38 I bay.GO, § 38 II m.v.KVerf., § 86 I 2 NKomVG, § 63 I GO NRW ist der Bürgermeister – unbeschadet der dem Rat und seinen Ausschüssen zustehenden Entscheidungsbefugnisse – der gesetzliche Vertreter der Gemeinde in Rechts- und Verwaltungsgeschäften. Erklärungen, durch welche die Gemeinde verpflichtet werden soll, bedürfen – abgesehen von den bereits erörterten Geschäften der laufenden Verwaltung – der Schriftform; sie sind, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, vom Bürgermeister oder (in MV: „und“) seinem Stellvertreter und einem vertretungsberechtigten Beamten oder Angestellten zu unterzeichnen (Art. 38 II bay.GO, § 38 VI m.v.KVerf., § 64 I, II GO NRW). Erklärungen, die nicht diesen Vorgaben entsprechen, sollen die Gemeinde nach § 64 IV GO NRW nicht binden, doch hat der BGH darauf hingewiesen, dass die organschaftliche Vertretungsmacht des Bürgermeisters im Außenverhältnis unbeschränkt ist und die Gemeinde somit auch durch Rechtshandlungen des Bürgermeisters verpflichtet wird, die kommunalverfassungsrechtliche Mitwirkungsrechte oder Zuständigkeiten verletzen[114].

Niedersachsen hat das Prinzip der Doppelzeichnung aufgegeben; gem. § 86 II NKomVG genügt für Verpflichtungserklärungen die handschriftliche Unterzeichnung allein des Bürgermeisters (ebenso § 51 II 2 schl.h.GO).

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Die Regelungen der Länder sind im Detail sehr unterschiedlich: Einige Gemeindeordnungen verlangen die Einhaltung bestimmter Förmlichkeiten wie handschriftliche Unterzeichnung (so § 54 I bd.wtt.GO) sowie Beifügung der Amtsbezeichnung (Art. 38 II 2 bay.GO) oder des Dienstsiegels (so § 38 VI 2 m.v.KVerf.). Auch ihre Nichtbeachtung führt jedenfalls bei privatrechtlichen Rechtsgeschäften zur schwebenden Unwirksamkeit der betreffenden Erklärung. Diese Rechtsfolge soll nicht aus § 125 BGB folgen, sondern aus der Abgabe einer Erklärung ohne Vertretungsmacht (vgl §§ 177 ff BGB) durch Nichteinhaltung der besonderen kommunalrechtlichen Vertretungsvorschriften, was freilich die Möglichkeit der nachträglichen Genehmigung eröffnet[115].

Speziell zum Normzweck dieser Formvorschriften hat der BGH ausgeführt:

„Auch der Zweck, der dahin geht, im Interesse einer klaren Verantwortung des Bürgermeisters gegenüber dem Gemeinderat und einer einwandfreien Rechnungslegung zu vermeiden, dass nachträglich Zweifel am Verpflichtungswillen des Bürgermeisters oder Streit über Inhalt und Zeitpunkt der eingegangenen Verpflichtung entstehen …, fügt sich in die Zwecke privatrechtlicher Formvorschriften ein, indem das Vertretungsorgan von der Eingehung übereilter und unüberlegter Verpflichtungen, die den Gemeindeinteressen zuwiderlaufen, abgehalten … und zugleich der Klarstellungs- und Beweisfunktion Rechnung getragen wird“[116].

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Erklärungen, die ein innerhalb seiner gesetzlich näher umrissenen Befugnisse vertretungsberechtigtes Organ im Namen der Gemeinde abgibt, sind für diese mithin grundsätzlich nur dann bindend, wenn die vorgenannten Bestimmungen eingehalten sind, die als materielle Vorschriften zur dem Schutz der Kommunen dienenden Beschränkung der Vertretungsmacht qualifiziert werden[117]. Nach der Rechtsprechung des BGH kann eine Gemeinde aber uU selbst dann wirksam vertraglich verpflichtet sein, wenn bei der Abgabe der verpflichtenden Erklärung die gesetzlichen Vertretungserfordernisse nicht beachtet worden sind. Zumindest in den Fällen, in denen eine formgerechte Erklärung eines von zwei Gesamtvertretern vorliege, werde das hierin liegende Hindernis durch das materielle Einverständnis des Gemeinderats als des für die Willensbildung der Gemeinde maßgeblichen Beschlussorgans überwunden; dabei komme es nicht entscheidend darauf an, ob diese Zustimmung der betreffenden Verpflichtungserklärung vorangehe oder nachfolge[118].

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Die für die Rechtsfiguren der Duldungs- und Anscheinsvollmacht entwickelten Grundsätze finden zwar auch gegenüber Gemeinden als juristischen Personen des öffentlichen Rechts Anwendung, wenn deren vertretungsberechtigte Organe das Vertreterhandeln eines Dritten geduldet oder nicht verhindert haben. Diese Grundsätze dürfen aber nicht dazu dienen, den vorgenannten, dem Schutz der Gemeinden dienenden Vertretungsregeln – darunter eben auch die Beachtung gewisser Förmlichkeiten – im Einzelfall jede Wirkung zu nehmen[119].

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Soweit es also um die Inanspruchnahme der Gemeinde selbst geht, führen Mängel der kommunalrechtlichen Erfordernisse für die Abgabe von Verpflichtungserklärungen grundsätzlich zur Unverbindlichkeit für die Gemeinde.

Nur in Ausnahmefällen verstößt die Verweigerung einer Vertragserfüllung unter Berufung auf die Unwirksamkeit der Erklärung gegen den auch im öffentlichen Recht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben, nämlich dann, wenn die Nichtigkeitsfolge für den Vertragsgegner zu schlechthin unerträglichen Konsequenzen führen würde[120].

Abgesehen von den Fällen, in denen die Gemeinde aus dem Gesichtspunkt des Verschuldens ihres Vertreters bei Vertragsschluss Ersatz für einen etwa eingetretenen Vertrauensschaden zu leisten hat[121], kommt eine Haftung auf das Erfüllungsinteresse nur ausnahmsweise in Betracht[122].

Ist eine im Privatrechtsverkehr namens der Gemeinde abgegebene Verpflichtungserklärung des Bürgermeisters für die Gemeinde nur deshalb nicht bindend, weil sie der Bürgermeister entgegen der kommunalrechtlichen Bestimmung nicht unterzeichnet hat, kann er nicht als Vertreter ohne Vertretungsmacht nach § 179 I BGB auf Erfüllung oder Schadenersatz in Anspruch genommen werden. Dies hat der BGH in wertender Betrachtung entschieden, und zwar mit der Begründung, dass die Verletzung des Unterschriftserfordernisses in § 54 I 2 bd.wtt.GO „die scharfe, am Erfüllungsinteresse orientierte Vertrauenshaftung des grundsätzlich allein vertretungsberechtigten Organs nach § 179 I BGB nicht rechtfertigt und dass kein Anlass besteht, den Vertragsgegner besser zu stellen, als sei dem rechtsgeschäftlich bevollmächtigten Vertreter einer natürlichen Person oder einer juristischen Person des Privatrechts ein die Wirksamkeit des Geschäfts beeinträchtigender Formfehler unterlaufen“[123].

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Eine deliktische Haftung der Gemeinde für betrügerische Handlungen ihres gesetzlichen Vertreters im Rahmen rechtsgeschäftlicher Betätigung wird auch dann anerkannt, wenn die Täuschung darin bestand, die nach Kommunalrecht fehlende Rechtsverbindlichkeit der allein von ihm abgegebenen Erklärungen vorzuspiegeln[124].

Zu denken ist aber noch an eine persönliche Haftung des Bürgermeisters nach § 839 BGB, die nicht nach Art. 34 S. 1 GG auf die Gemeinde überzuleiten ist, weil es sich nicht um eine hoheitliche Tätigkeit gehandelt hat[125].

Teil I Kommunalrecht › § 4 Die innere Gemeindeverfassung › VI. Exkurs: Die innere Kreisverfassung

VI. Exkurs: Die innere Kreisverfassung

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Stärker noch als auf der gemeindlichen Ebene variierte früher die innere Verfassung der Kreise in den einzelnen Ländern. Aber auch insoweit hat sich – wie bei den Gemeindeverfassungen – seit den neunziger Jahren ein Reformprozess vollzogen, der zu einer deutlichen Annäherung des in der Vergangenheit disparaten Kreisverfassungsrechts geführt hat[126]. Herkömmliche Typisierungsversuche[127] erweisen sich daher nicht mehr als sinnvoll. Daher sollen lediglich einige Grundlinien der inneren Kreisverfassung aufgezeigt werden. Üblicherweise sind zwei oder drei Kreisorgane vorhanden,


durchweg der Kreistag als demokratisch legitimiertes Repräsentativorgan (vgl Art. 28 I 2 GG) mit einem ständigen Vorsitzenden und
der Landrat als hauptberufliches Leitungsorgan der Kreisverwaltung (mit Ausnahme Hessens),
dazu ggf noch der Kreisausschuss als kleineres kollegiales Gremium mit sich aus dem Kreistag rekrutierenden Mitgliedern (in Brandenb., Hess., Nds., NRW und im Saarl.).

1. Der Kreistag

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Dem in allen Ländern einheitlich so bezeichneten Kreistag kommt durchgängig die Entscheidungsbefugnis in allen bedeutsamen Angelegenheiten des Kreises zu, soweit nicht ein anderes Kreisorgan (Landrat, Kreisausschuss) gesetzlich zuständig ist. Überwiegend (vgl § 30 bay.LKrO; § 104 III m.v.KVerf.; § 58 I NKomVG; § 26 I 2 KrO NRW) sehen die Kreisordnungen zudem noch einen Vorbehaltskatalog unübertragbarer Aufgaben vor.

Unterschiedlich geregelt ist der Vorsitz im Kreistag. Während in einigen Ländern der Landrat den Vorsitz ausübt (Baden-Württemberg, Bayern, NRW, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen), wird der Kreistagsvorsitzende in anderen Ländern (Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) aus der Mitte des Kreistages gewählt. Einen Sonderweg geht Thüringen insoweit, als hier der Landrat Vorsitzender des Kreistages ist, die Hauptsatzung aber auch die Wahl eines Kreistagsmitglieds vorsehen kann (vgl § 102 I thür.KO)[128].

2. Der Kreisausschuss

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Nicht einheitlich ist die Stellung des Kreisausschusses in den einzelnen Ländern.

In Baden-Württemberg, Sachsen und Sachsen-Anhalt sind Kreisausschüsse gar nicht vorgesehen; hier können lediglich fakultativ durch die Hauptsatzung beschließende und beratende Ausschüsse gebildet werden. Dies scheint auf den ersten Blick auch für Schleswig-Holstein zu gelten, doch zeigt eine nähere Betrachtung, dass er dort lediglich als „Hauptausschuss“ tituliert wird (vgl § 40b schl.h.KreisO).

In den übrigen Ländern variiert die rechtliche Ausgestaltung der Kreisausschüsse beträchtlich. Einerseits sind sie lediglich Organteil des Kreisorgans Kreistag (Bayern[129] [Art. 26 ff bay. LKrO], Mecklenburg-Vorpommern [§§ 113 ff m.v.KVerf.], Rheinland-Pfalz, Thüringen), andererseits kommt ihnen selbst Organqualität zu (Brandenburg, Hessen, Niedersachsen [§§ 74 ff NKomVG], NRW [§§ 56 ff KrO NRW], Saarland).

Dieser grundlegend unterschiedlichen Ausgangslage entsprechen auch die den Kreisausschüssen zugewiesenen Aufgaben. In Bayern, Rheinland-Pfalz und Thüringen haben sie vornehmlich die Beschlüsse des Kreistages vorzubereiten und stellen damit lediglich eine unselbstständige Hilfseinrichtung dieses Kreisorgans dar. Dagegen eröffnet sich in den übrigen Ländern den Kreisausschüssen ein breites Betätigungsfeld. Neben der auch hier teilweise (Brandenburg, Niedersachsen, NRW, Saarland) vorgesehenen Funktion, die Aufgabenerfüllung des Kreistages vorzubereiten, kommt ihnen – abgesehen von der Eilentscheidungsbefugnis in NRW, im Saarland und in Niedersachsen – zusätzlich noch eine Lückenkompetenz für die Angelegenheiten, die nicht der Entscheidung eines anderen Kreisorgans bedürfen, zu. Vereinzelt (Brandenburg, NRW) obliegt ihnen auch die Planung besonders bedeutsamer Verwaltungsaufgaben im Rahmen der vom Kreistag festgelegten allgemeinen Richtlinien. Ein weites Funktionsspektrum bietet sich den Kreisausschüssen in Hessen, wo sie die gesamte laufende Verwaltung des Kreises nach den vom Kreistag aufgestellten Grundsätzen und im Rahmen der bereitgestellten Mittel besorgen.

In Mecklenburg-Vorpommern besteht die Besonderheit, dass den Kreisausschüssen – obgleich kein Kreisorgan – ein den organschaftlich strukturierten Kreisausschüssen vergleichbarer Kompetenzrahmen zugewiesen ist (vgl § 113 II, III m.v.KVerf).

Den Vorsitz in den Kreisausschüssen führt regelmäßig der Landrat. Details zum Kreisausschuss bei Meyer, in: HKWP3, § 25 Rn 64 ff.

3. Der Landrat

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Ein weiteres Kreisorgan ist der Landrat, der als kommunaler Wahlbeamter hauptberuflich die Kreisverwaltung leitet. In seiner Position kommt die traditionelle Doppelfunktion der Landkreise als Selbstverwaltungskörperschaft und untere staatliche Verwaltungsbehörde besonders anschaulich zum Ausdruck.

Mit Blick auf die Selbstverwaltungsaufgaben obliegt ihm regelmäßig die Repräsentation des Landkreises. Er ist (außer in Hessen, vgl § 45 I 1 hess.LKrO: „Der Kreisausschuss vertritt den Landkreis“) gesetzlicher Vertreter des Kreises und ihm obliegt die Besorgung der Geschäfte der laufenden Verwaltung regelmäßig selbst (in Hessen, vgl § 44 II hess.LKrO). Abgesehen von einigen besonderen Aufgaben – so ergibt sich gemäß Art. 34 I Nr 2 bay.LKrO die Zuständigkeit für solche Angelegenheiten des Landkreises, die im Interesse der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder geheim zu halten sind (ähnliche Regelungen etwa in Niedersachsen [§ 85 I Nr 5 NKomVG], dem Saarland und Sachsen-Anhalt) – ist er daneben insbesondere berechtigt, Eilentscheidungen zu treffen, wenn eine rechtzeitige Einberufung des zuständigen Kreisorgans nicht möglich ist[130].

Soweit er – im Rahmen der Organleihe (so zB traditionell in Baden-Württemberg und Bayern – s. auch u. Rn 212) – auch als untere staatliche Verwaltungsbehörde fungiert (die LKrO Sachsen und Sachsen-Anhalt vermeiden diesen Begriff), nimmt er zugleich originär staatliche Aufgaben wahr, was zu Zuordnungs- und Haftungsproblemen führen kann[131].

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Unterschiedlich geregelt ist die Wahl des Landrats. Traditionell geschieht dies in Baden-Württemberg (§ 39 V bw.LKrO) noch durch den Kreistag, in den anderen Ländern ist eine Direktwahl (§ 126 I BbgKVerfG; § 80 Abs. 1 NKomVG; Art. 40 bay. GLKrWG) durch die Kreisbürger vorgesehen. Schleswig-Holstein hat die Direktwahl allerdings 2009 schon wieder abgeschafft[132]. Dabei variiert die Amtsperiode zwischen fünf (§ 80 III i.V.m. § 47 II 1 NKomVG) und sieben bis neun Jahren (§ 116 II m.v.KVerf.).

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Im Rahmen der Ernennung ist ein staatlicher Mitwirkungsakt grundsätzlich nicht erforderlich. Teilweise ist eine Abstimmung mit der Aufsichtsbehörde in der Bewerbungsphase vorgesehen (Baden-Württemberg, Hessen), teilweise darf der Wahl durch die Rechtsaufsichtsbehörde nicht widersprochen worden sein (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern).

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Die Novellierung des Kommunalrechts Mitte der 90er-Jahre in NRW und Niedersachsen hatte auch im Kreisorganisationsrecht parallele Veränderungen zur Gemeindeebene (vgl oben Rn 124) zur Folge. So wurde in beiden Ländern die sog. Doppelspitze abgeschafft und die Aufgaben des bisherigen hauptamtlichen Oberkreisdirektors (OKD) und des ehrenamtlichen Landrats in einer Person, dem hauptamtlichen Landrat als kommunalem Wahlbeamten, zusammengefasst (vgl § 42 KrO NRW).

Teil I Kommunalrecht › § 4 Die innere Gemeindeverfassung › VII. Der kommunale Organstreit

VII. Der kommunale Organstreit[133]

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Allgemein anerkannt ist inzwischen trotz des prinzipiellen Verbots eines verwaltungsinternen In-Sich-Prozesses die Möglichkeit, verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz auch für Streitigkeiten innerhalb einer kommunalen Körperschaft zu erreichen, da die organisatorische Aufgliederung hier gerade auf eine kontrastierende, mehrpolige Willensbildung abzielt. Dieses Ergebnis wäre am Ende des 19. Jahrhunderts wegen der seinerzeit vertretenen sog. Impermeabilitätstheorie, nach welcher der Staat ein für das Recht undurchdringliches (impermeables) Gebilde darstellt, dessen Organe keine Adressaten von Rechtssätzen sein können, noch undenkbar gewesen[134]. Heutzutage ist ein solcher Rechtsstreit wegen der Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 IV GG nur logisch und stringent[135]. An Stelle der missverständlichen Benennung als „Kommunalverfassungsstreit“ sollte allerdings besser die treffendere Bezeichnung „kommunaler Organstreit“ Verwendung finden. Sie umgreift Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Organen einer kommunalen Körperschaft (sog. Inter-Organ-Streit)

Beispiele:

Widerruf der Betrauung eines Beigeordneten mit der allgemeinen Vertretung des verantwortlichen Hauptverwaltungsbeamten.[136] Klage eines Ratsmitglieds gegen den Hauptverwaltungsbeamten auf Akteneinsicht in die Dienstpostenbewertung der Verwaltungsmitarbeiter[137].

und solche zwischen einem oder mehreren Mitgliedern eines kommunalen Kollegialorgans und diesem selbst (sog. Intra-Organ-Streit).

Beispiele:

Klage eines Ratsmitgliedes gegen seinen Ausschluss durch den Rat[138] oder gegen einen Ordnungsruf[139]; Klage eines Ratsmitgliedes gegen den Ratsvorsitzenden auf Erlass eines Rauchverbotes[140]; Klage gegen einen Ratsbeschluss über Missbilligung der Verletzung der Amtsverschwiegenheit eines Ratsmitgliedes[141]; Klage gegen die Nichtaufnahme eines von einer Fraktion oder Einzelmandatsträgern beantragten Tagesordnungspunktes für die Ratssitzung[142]. Anspruch der Gemeinderatsmitglieder auf angemessene Unterrichtung über die Gegenstände anstehender Ratsentscheidungen[143].

1. Rechtsnatur

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Unklarheiten bestehen beim kommunalen Organstreit bereits hinsichtlich der Rechtsnatur dieses Verfahrens. Während das OVG NRW zunächst durchgehend von einem „Verfahren sui generis“ sprach[144] und nicht auf Klagearten der VwGO zurückgegriffen hatte, gehen Rechtsprechung und Literatur heute fast einhellig davon aus, dass es für einen Organstreit keiner besonderen Klageart bedarf, sondern dass es sich um einen Rechtsstreit handelt, für den die üblichen Rechtsschutzformen der VwGO zur Verfügung stehen[145]. Weil aus dem Kanon der möglichen Rechtsschutzformen die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage beim kommunalen Organstreit regelmäßig ausscheiden, weil Maßnahmen, die Wahrnehmungszuständigkeiten von Organen oder Organteilen betreffen, nicht „auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet“ und somit keine Verwaltungsakte iSd § 42 II iVm § 35 VwVfG sind. Gleiches gilt im Falle der Erledigung innerorganisatorischer Maßnahmen für die Fortsetzungsfeststellungsklage. Damit verbleiben als regelmäßig zu Gebote stehende Klagearten im Organstreit die allgemeine Leistungsklage, die (subsidiäre) Feststellungsklage sowie ggf. auch die Normenkontrolle gem. § 47 I Nr 2 VwGO.[146] Auch ein vorläufiger Rechtschutz nach § 80 V VwGO scheidet wegen der fehlenden Verwaltungsaktsqualität der organschaftlichen Maßnahme aus, doch bleibt die Möglichkeit der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO, wenn es gilt, den Eintritt irreparabler Tatsachen zu hindern[147].

2. Rechtsschutzinteresse/Klagebefugnis

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Fraglich erscheint weiter, wann das spezifische Rechtsschutzinteresse für die Initiierung eines kommunalen Organstreits bejaht werden kann. Immerhin geht das verwaltungsprozessuale Rechtsschutzsystem, wie sich namentlich bei der Bestimmung des § 42 II VwGO über die Klagebefugnis bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen zeigt, die jedenfalls bei allg. Leistungs- und Gestaltungsklagen entsprechend anzuwenden ist[148], grundsätzlich davon aus, dass ein Kläger geltend machen können muss, in seinen Rechten verletzt zu sein. Im Organstreit geht es jedoch nicht um die üblichen subjektiv-öffentlichen Rechte, sondern um organschaftliche Kompetenzen. Es besteht daher Einigkeit dahingehend, dass es im Rahmen eines Organstreits, bei dem die Vereinbarkeit innerorganisatorischer Akte mit den Kompetenzen des jeweiligen Klägers zu klären ist, ausreichend ist, wenn der Kläger geltend machen kann, in gesetzlich begründeten, spezifischen kontrastierenden eigenen Organkompetenzen, Wahrnehmungszuständigkeiten resp. „Mitgliedschaftsrechten“ verletzt zu sein[149].

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Entscheidend ist also, ob das geltend gemachte Recht dem klagenden „Organ oder Organteil als wehrfähiges subjektives Organrecht zur eigenen Wahrnehmung zugewiesen ist“, was durch Auslegung der jeweils einschlägigen Norm zu ermitteln ist[150]. Dies wurde von der Rspr für das Recht, gemeinsame Wahlvorschläge mehrerer Fraktionen bei der Wahl von Ausschussmitgliedern einzureichen, ebenso bejaht wie für die Wahrung des Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit seitens einzelner Ratsmitglieder oder Fraktionen[151].

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Umgekehrt folgt daraus, dass Organteilen wie Ratsmitgliedern oder Fraktionen dementsprechend gerade keine prozessstandschaftliche Wahrnehmung der Rechte der Gemeindevertretung eröffnet ist. Reaktionsrechte aus einer Kompetenzverletzung können grundsätzlich nur von dem in seinen Organrechten verletzten Organ selbst, nicht von dessen Mitgliedern, geltend gemacht werden. Rechte des Rates sind also vom Rat als Ganzem geltend zu machen. An der Klagebefugnis wird es also fehlen, wenn die mögliche Rechtswidrigkeit einer Maßnahme nicht eigene Rechte eines Organteils, sondern nur solche des Gesamtorgans verletzt.

Beispiele: Daher besteht keine Klagebefugnis eines Ratsmitgliedes gegen die Mitwirkung eines anderen, möglicherweise „befangenen“ Mitgliedes[152], keine Klagebefugnis einer Ratsfraktion gegen eine Maßnahme, die Kompetenzen des Gemeinderates verletzt[153], keine Klagebefugnis des vom Rat entsandten Vertreters im Aufsichtsrat einer GmbH mit Blick auf seine Abberufung[154] oder auch keine Klagebefugnis einzelner Ratsmitglieder gegen die mangelhafte Vorbereitung einer Ratssitzung durch den Ratsvorsitzenden[155].

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0+
Umfang:
1469 S. 16 Illustrationen
ISBN:
9783811453593
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