Die Frau am Dienstag

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Aus der Reihe: Transfer Bibliothek #152
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Die Frau am Dienstag
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MASSIMO CARLOTTO

DIE FRAU AM DIENSTAG

ROMAN

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler


Für Franco Mazzetto

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Danksagung

… und wir sind es, die den Mond leuchten lassen,

mit unserem Leben, das unter

Lumpen und Glasscherben verborgen ist.

Dieses Leben, gegen das sich die anderen verwahren,

als wäre es eine Beleidigung,

oder eine lästige Spinne …

Claudio Lolli

1.

Er kam immer als Letzter zu den Probeaufnahmen. Das war er sich schuldig. Ein alter Recke wie er, der sich von ganz unten hochgearbeitet hatte, musste nichts mehr beweisen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er alles dafür getan hatte, als Erster am Set zu sein und die Hosen runterzulassen. So funktionierte das eben im Pornogeschäft: Zuerst zeigte man, was man zu bieten hatte, und dann sah man weiter.

Heute behielt er die Hose an. Inzwischen wusste jeder, wie er bestückt war, doch wie viele Filme er in jungen Jahren schon gedreht hatte, das wusste nicht einmal er selbst, nur dass er meist der Hauptdarsteller gewesen war. Mit der Zeit hatte er begonnen, sich auf weniger akrobatische, komplexere und anspruchsvollere Rollen zu verlegen, in denen der Sprechanteil größer war.

Heute zum Beispiel sprach er für die Rolle eines Priesters vor, der die Intimität des Beichtstuhls dazu nutzte, eine junge, gelangweilte Hausfrau zu verführen, die ihm in ihrer Naivität gerade ihre fleischlichen Sünden gebeichtet hatte. Statt ihr nach ein paar Ave Maria auf den Knien die Absolution zu erteilen, stürzte er sie in die Abgründe der Wollust. Unterstützt wurde er dabei von seiner Haushälterin, einer hochgewachsenen russischen Blondine.

Die Handlung war ein Klassiker, er kannte den Text in- und auswendig.

„Was suchst du am frühen Morgen bereits hier, mein Kind? Noch dazu mit diesem sehnsuchtsvollen und beinahe lüsternen Blick?“

„Ich muss beichten, Vater. Als mein Mann aufstand, um zur Arbeit zu gehen, wurde ich in Gedanken und Taten in Versuchung geführt.“

„Und du hast dieser Versuchung nicht widerstehen können?“

„So ist es, Vater. Ich habe mich unsittlich berührt.“

„Zeig mir, wie.“

Vom Beichtstuhl ging es ins Pfarrhaus, wo kurze Zeit später auch der eifersüchtige Ehemann auftauchte, der wiederum den Reizen der Haushälterin erlag. Eine Geschichte, in der Kirche und Ehe die Hauptrolle spielten, ein Genre, das vor allem in katholischen Ländern wie Italien und Polen gut ankam und in den USA immer beliebter wurde, wo das von der römisch-katholischen Kirche verordnete schlechte Gewissen seit jeher für sündige Fantasien sorgte.

Für bestimmte Konstellationen war er einfach gut, man könnte sogar sagen, er war der Beste und wusste genau, dass er die Rolle bekommen würde. Deshalb ging er es ruhig an, setzte sich in eine Bar und beobachtete den Hauseingang gegenüber, um seine Konkurrenten in Augenschein zu nehmen. Einige von ihnen kannte er, andere nicht. Sie waren jung und neu im Geschäft. Solche Typen nutzten jede Chance, sich zu präsentieren.

Auf die Frage: „Was kannst du?“ antworteten sie meist: „Alles.“

Falsche Antwort. Im Pornogeschäft musste man sehr präzise sein und seine Fähigkeiten und Kompetenzen genau umreißen können.

Er war immer wählerisch gewesen. Von manchen Rollen hatte er sich möglichst ferngehalten, selbst wenn ihm dadurch eine ganze Reihe von Filmangeboten entgangen war.

Allerdings stellte die Sicherheit, die Rolle in der Tasche zu haben, nicht den einzigen Grund für sein spätes Kommen dar. Er wollte in Ruhe mit Martucci, dem Produzenten, sprechen, und zwar allein, ohne neugierige Zuhörer. Im Filmgeschäft waren Klatsch und Tratsch an der Tagesordnung, vor allem wenn es darum ging, einen direkten Konkurrenten schlecht aussehen zu lassen.

Ihm lag daran, etwas zu erklären, was sich bei den Dreharbeiten zu Italian Sex Sunday zugetragen hatte und falsch interpretiert werden könnte.

Der Film war wie viele andere die Wiederauflage eines Klassikers: Fünf Paare, darunter zwei lesbische, feiern am Pool einer Villa eine Orgie. Er hatte die Hände fest um die Arschbacken einer slowenischen Darstellerin gelegt, mit der er schon oft gearbeitet hatte, als ein Sonnenstrahl auf ihre kupferroten Haare gefallen und er Zeuge eines herrlichen Lichtspiels geworden war.

Gerührt hatte er zuerst aufgeschluchzt, war dann in Tränen ausgebrochen und außerstande gewesen, irgendetwas dagegen zu tun. Und das, obwohl er sie weiter gevögelt hatte, ohne den Rhythmus zu verlangsamen. Dank Papaverin hatte sich sein Schwanz nicht weiter um seine Tränen geschert. Nur den Technikern und den anderen Darstellern war es aufgefallen, wie ihm ihre verblüfften Blicke bewiesen. Später hatte er sich bei allen, noch immer von Schluchzern geschüttelt, entschuldigt.

Die unerfahrene junge Regisseurin, die in ihrer Naivität annahm, dass das Drehen von Pornos in ihrer Biografie lediglich ein winziges Detail bleiben würde, hatte einen Nervenzusammenbruch wie aus dem Lehrbuch hingelegt. Er selbst, der in seiner langen Karriere inzwischen alles gesehen hatte und den nichts mehr überraschte, hatte seine Erektion betrachtet und gewusst, dass er noch mindestens eine Viertelstunde durchhalten würde, und den Kameramann angewiesen, die Szene zusätzlich aus einem anderen Blickwinkel zu filmen, der seine Tränen und seine Gefühlsausbrüche verbarg.

In der Pause war er von den anderen neugierig gefragt worden, was mit ihm los gewesen sei. Da er nicht die Wahrheit sagen konnte, hatte er die Geschichte eines an AIDS erkrankten Freundes erfunden, der nach jahrelangem, heroischem Kampf gegen das Virus am Vorabend gestorben sei. Damit war die Sache erledigt. Das Wort AIDS in den Mund zu nehmen hatte gereicht, um alle weiteren Nachfragen im Keim zu ersticken.

Doch jetzt musste er dem Produzenten versichern, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen werde, denn sonst musste er mit Konsequenzen rechnen.

Mit einundvierzig war die Konkurrenz immerhin groß, und er musste sich behaupten. Zum Glück wurden in solchen auf Ehe und Kirche basierenden Geschichten keine Rollen mit Schwarzen besetzt, die ansonsten immer häufiger in den Produktionen auftauchten, nicht zuletzt, weil sie weniger kosteten. Das Rotlichtmilieu war eben das genaue Abbild einer Gesellschaft, die von gleichen Rechten, Gesetzen und Gott faselte, aber ganz anders handelte.

Die weißen Darsteller hingegen, besonders die aus Osteuropa, versuchten ihr Territorium mit den gleichen Argumenten zu verteidigen wie Politiker. Allerdings hielt er sich bewusst von diesen Diskussionen fern, da ihm längst klar geworden war, dass die Schwarzen im Pornobusiness genau wie im Sport bald die Mehrzahl stellen würden. Sie besaßen diese besondere Faszination, die man in der Branche negrame nannte, eine Bezeichnung, die aus dem kubanischen Spanisch stammte und besonders große, attraktive und leistungsfähige Schwänze beschrieb. Eine ursprüngliche, natürliche Manneskraft, die Begehren und Lust versprach. Die Weißen hatten all das verloren.

Vor allem er.

Und ob ihn in Zukunft die Sinnlichkeit einer Brustwarze oder das Lächeln einer Bühnenbildnerin ein weiteres Mal zu Tränen rühren würde, vermochte er weiß Gott nicht zu sagen.

Das ganze Dilemma hatte mit seinem Schlaganfall begonnen. An einem kühlen und grauen Januarmorgen, wie er für die Poebene typisch war, hatte er in der Bar gefrühstückt und war anschließend zum Fitnessstudio aufgebrochen. Unvermittelt hatte er sich irgendwo am Boden liegend wiedergefunden, bis nach neunzehn langen Minuten der Krankenwagen gekommen war, was er eher vom Hörensagen wusste. Seine Erinnerungen jedenfalls waren verworren.

Nach einem Hirnschlag könne plötzliches, völlig unmotiviertes Weinen auftreten, hatten ihm die Ärzte erklärt, als sie ihn über mögliche Folgen aufklärten, gesprochen hatte er mit niemandem darüber, sonst hätte er sich gar nicht mehr für eine Rolle zu bewerben brauchen. In seiner Branche musste man immer gut drauf sein, jede Krankheit war gleichbedeutend mit irgendeinem Übel, mit Ansteckung, mit Gefahr. Und das bedeutete, dass man nicht mehr als verlässlich galt. Aus diesem Grund sagte man lieber nichts.

Trotzdem wusste er genau, dass es bloß eine Frage der Zeit war, bis er den Job an den Nagel hängen musste. Seit die Ärzte ihm gesagt hatten, dass er die Pillen und all die anderen Wundermittelchen für seine Potenz nicht mehr nehmen dürfe, wusste er, dass das Ende in Sicht war.

 

„Ich habe allein dieses Arbeitsgerät, und das muss funktionieren“, hatte er gestammelt.

„Versuchen Sie es mit Eiweißpräparaten“, war der Rat einer gut aussehenden Ärztin gewesen, der vom stellvertretenden Chefarzt sofort entkräftet wurde. „Das hilft höchstens bei einem morgendlichen Quickie.“

Neben dem Wort Krankheit war die Bezeichnung Quickie in seiner Branche tabu. Sofern der Penis in der Größe nicht mit anderen Hengsten konkurrieren konnte, musste zumindest die Dauer der Erektion stimmen. Und die Fähigkeit, selbst bei häufigen Unterbrechungen beim Dreh sofort wieder einsatzbereit zu sein. Als er vor vielen Jahren mit dem Job begonnen hatte, waren chemische Hilfsmittel wenig verbreitet gewesen, doch ganz selten hatte ihm die nötige Standfestigkeit gefehlt, da ihm Sex Spaß machte. Wenn die Auftragslage beim Film schlecht war, hatte er deshalb nebenher als Gigolo gearbeitet.

Am Tag stand er vor der Kamera, nachts ging er auf den Strich.

Als man ihm das erste Mal angeboten hatte, als Gigolo zu arbeiten, war ihm eingefallen, mal gehört zu haben, dass die Bezeichnung für diesen Beruf vom französischen giguer, gigoter kam, was so viel wie tanzen oder strampeln bedeutete. Daraufhin wurde er Experte dafür, auf den Tanzflächen der Diskotheken in den umliegenden Badeorten herumzuwirbeln, während die kurenden Damen zwischen vierzig und fünfzig ihm begehrliche Blicke zuwarfen. Am Ende des Abends gab es immer eine, die für ihn bezahlte. Er wusste, was zu tun war, die Frauen vertrauten sich ihm an, und er tat alles, um ihnen ihre geheimsten Wünsche zu erfüllen. Mit Leidenschaft und Fantasie.

Mittlerweile hatte er gerade mal eine einzige Kundin: die Dienstagsfrau.

Sie war keine Bekanntschaft aus der Diskothek, sondern war zu ihm gekommen, nachdem ihr eine Bekannte, die er Ende Juli in Bellaria getroffen hatte, von ihm erzählt hatte. Und aufgrund der ausgesprochen positiven Beurteilung war sie zu ihm in die Pension Lisbona gekommen, in der er seit einer Ewigkeit wohnte.

„Ich nehme nicht an, dass Sie ein Zimmer mieten wollen“, hatte Signor Alfredo, der Besitzer, sie an der Rezeption begrüßt.

„Um Gottes willen, nein“, hatte sie schockiert geantwortet und ihn überrascht gemustert, weil ihr männliches Gegenüber Frauenkleidung trug. „Ich suche nach einem Herrn namens Bonamente Fanzago.“

„Zimmer drei“, hatte Alfredo gesagt und seine Perücke geradegerückt.

Eine Stunde später war sie sorgfältig gekleidet wieder herausgekommen und hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie wiederkommen werde, immer dienstags zwischen drei und vier.

Seit neun Jahren tat sie das, begrüßte ihn, legte das Geld auf den Tisch, zog sich aus, faltete ordentlich ihre Kleider zusammen und glitt unter die Decke, nachdem sie vorher überprüft hatte, ob das Laken sauber war. Was den Sex betraf, verlangte sie nichts Extravagantes, einen klassischen Akt, bei dem sie den Rhythmus vorgab.

Die ideale Kundin. Vielleicht ein wenig zu penibel. Einmal hatte sie missbilligend den Mülleimer betrachtet und ihm einen Vortrag über Mülltrennung gehalten. Für die Zukunft der Menschheit. Auf der Schwelle war ein weiterer Hinweis gefolgt.

„Und das Präservativ bitte nicht ins Klo werfen!“

„Das mache ich nie“, hatte er geantwortet, was natürlich eine glatte Lüge war.

Im Grunde fand er sie etwas überkorrekt und war überzeugt, das einzige außerplanmäßige Detail in ihrem Leben zu sein. Er und das Treffen jeden Dienstag zwischen drei und vier.

Im vierten Jahr schließlich hatte er sich in sie verliebt und zu Beginn des siebten Jahres den Fehler begangen, ihr seine Gefühle zu offenbaren.

Zum ersten Mal in seinem Leben war er so von seinen Empfindungen übermannt worden, dass er nicht darauf achtete, was er sagte. Vielleicht hatte er sogar genau das Falsche von sich gegeben. Zumindest war sie daraufhin acht Monate lang nicht mehr aufgetaucht. Acht schreckliche Monate. Er wollte nach ihr suchen, bloß kannte er nicht einmal ihren Namen, so war das üblich für die Beziehung zwischen Kundin und Gigolo.

Eines Dienstags dann war sie wieder da gewesen, als ob nichts passiert wäre, und hatte das Geld an die gewohnte Stelle gelegt. Er hatte sie voller Leidenschaft und Wärme geliebt, aber ihr stand der Sinn ausschließlich nach dem körperlichen Akt. Mit Vehemenz hatte sie auf einen zweiten Orgasmus gedrängt, um offenbar für die lange Zeit der Abstinenz entschädigt zu werden.

Und nach dem Sex hatte sie sich außerdem nicht gleich wieder angezogen, sondern aus einer kleinen Ledertasche eine Flasche Whisky und zwei Gläser hervorgezogen, sie beide gefüllt und ihm eines gereicht. Anschließend hatte sie sich in den Sessel gesetzt, während er auf dem Bett sitzen geblieben war und sie anstrahlte. Das Lächeln erstarb jedoch, als sie ihm eröffnete, dass sie sich in den Monaten ihres Fernbleibens alle seine Filme angesehen hatte. Dienstags zwischen drei und vier.

„Und weil du dich so gut mit Priestern und Beichtstühlen auskennst, habe ich diesen Whisky ausgesucht“, hatte sie gesagt und ihr Glas gegen das Licht gehalten. „Er hat die gleiche Farbe wie die Kruzifixe in den düsteren Kirchen auf dem Land. Dieser Malt ist vierzehn Jahre gereift, also alt und weise, und wird dir helfen zu vergessen, dass du dich in mich verliebt hast. Das ist besser so, weil ich dir niemals gehören werde. Ich bin einfach eine treue Kundin, die dich dafür bezahlt, dass du mit ihr ins Bett gehst.“

Bonamente hatte wehmütig gelächelt, dabei brach es ihm in Wirklichkeit das Herz. Noch bevor er etwas erwidern konnte, sprach sie weiter.

„Mach die Augen zu und atme den Duft ein. Denk an Honig, getrocknete Aprikosen, Wiesenblumen. Und dann nimm einen Schluck. Im Mund ist er elegant, weich, zart, mit Aromen von Trockenfrüchten, Rosinen, Zabaione, und sein Duft enthält einen Hauch von Pfeifentabak.“

Anschließend hatte sie eine Weile gedankenverloren geschwiegen, bevor sie mit einem Lächeln im Gesicht einen Song von Marianne Faithfull angestimmt hatte.

And I follow, follow, follow

The gypsy faerie queen

We exist, exist, exist

In the twilight in-between

Anschließend hatte sie die Beine breit gemacht und ihn gebeten, ihr die Möse zu lecken. Cunnilingus war eine seiner Spezialitäten und bei seinen Kundinnen in den Badeorten sehr beliebt gewesen, insbesondere bei den Italienerinnen und Schweizerinnen. Sie hatten erzählt, ihre Ehemänner würden das ablehnen. Als ob sie befürchteten, ihre Leistung im Bett werde für nicht gut genug gehalten.

Die Dienstagsfrau war fast sofort gekommen, sein Angebot, noch mal mit ihr zu schlafen, natürlich ohne Extrakosten, hatte sie hingegen abgelehnt. Sie meinte, drei Orgasmen dürften reichen, zudem war es schon kurz nach vier, die Zeit also um.

Ihr Gigolo, der ihr schweigend beim Anziehen zugeschaut hatte, war bis abends im Bett liegen geblieben und hatte nach den Worten gesucht, die er ihr hätte sagen können. So war es bei ihm ständig, die passenden Sätze fielen ihm erst hinterher ein. In dem Moment, wenn er sie brauchte, kam lediglich das Falsche über seine Lippen. Deshalb zog er in Streitgesprächen grundsätzlich den Kürzeren, sogar wenn es um etwas Irrelevantes oder Dummes ging.

Als es im Vorzimmer still wurde, fiel ihm auf, dass der letzte Anwärter auf seinen Thron mit Probeaufnahmen beschäftigt war. Als Nächster war er dran. Er verzog das Gesicht, weil es in dem Raum durchdringend nach männlichen Ausdünstungen und billigen Cremes roch, die schnelle und lang anhaltende Erektionen versprachen und die es online zu kaufen gab. Um sich abzulenken, ging er noch einmal das Drehbuch durch.

„Zagor, du bist dran“, rief Laura, die Regieassistentin.

Zagor war sein Künstlername. Bei seinem ersten Film war ihm auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Damals hatte der Produzent gemeint, dass es im Pornogeschäft eine eher schlechte Idee sei, Bonamente Fanzago zu heißen. Leider galt das auch im richtigen Leben.

An seinem zehnten Geburtstag hatte sich sein Vater bei ihm für den Namen entschuldigt. Bonamente war der Name irgendeines Urahns der Marchesi gewesen, einer Adelsfamilie, von der die Familie Fanzago seit mehr als zehn Generationen Land gepachtet hatte. Sie waren gezwungen gewesen, den Pächtern das Land zu verkaufen. In diesem Zusammenhang hatte das Ehepaar Fanzago es überdies für recht und billig gehalten, sich gleichfalls des traditionsreichen Namens zu bemächtigen. Angeblich war der erste Bonamente ein bekannter Literat aus dem 15. Jahrhundert gewesen, was der gegenwärtige Namensträger nie überprüft hatte, um sich etwaige Enttäuschungen zu ersparen.

Als er den Raum betreten hatte, begrüßten ihn alle mit dem gebührenden Respekt. Sie saßen zu fünft an einem Tisch voller Papierstapel und Fotografien, und in der Mitte der Produzent Lorenzo Martucci, der die anderen mit einer ungeduldigen Geste nach draußen schickte.

„Ich muss mit Zagor sprechen, allein“, hatte er gesagt und ihn gebeten, sich zu setzen.

„Wie geht es dir? Hast du dich wieder erholt?“, kam er direkt auf seinen Gesundheitszustand zu sprechen. „Oder heulst du immer noch?“

Bonamente erstarrte. Dass Martucci als Erstes sein gesundheitliches Problem ansprach und das Vorsprechen nicht einmal erwähnte, damit hätte er nie gerechnet. Nein, das war ganz und gar kein gutes Zeichen.

„Na ja, genau deswegen wollte ich mit dir reden und dir versprechen, dass so etwas nie wieder vorkommen wird und dass …“

„Die AIDS-Geschichte hast du dir ausgedacht, oder?“, unterbrach ihn der Produzent.

„Nein, wie ich gerade sagen wollte …“

„Schluss jetzt, Zagor. Man sieht dir deutlich an, dass du nicht gut drauf bist. Du wirkst deprimiert.“

Depression. Neben Krankheit und Quickie war dieses Wort das dritte Tabu in der Pornowelt. Immerhin besser indes, als dass er den Schlaganfall zugeben musste.

„Ehrlich gesagt, mache ich gerade eine schwierige Phase durch.“

„Und das seit einer Weile“, ergänzte Martucci unbarmherzig. „Du warst sechs Monate von der Bildfläche verschwunden. Sechs Monate, erklär mir das mal. Wo hast du gesteckt? Vielleicht in irgendeiner Privatklinik? Mir kannst du es ruhig sagen.“

„Das hatte mit familiären Problemen zu tun.“

„Mit welcher Familie? Wir kennen uns ewig, erzähl mir also keinen Scheiß.“

Bonamente schaute verlegen zu Boden, er war noch nie ein guter Lügner gewesen.

„Im Gegensatz zu früher kommt es heute immer häufiger vor, dass Künstler nach ein paar Jahren aus der Spur geraten“, seufzte Martucci.

Zwar wirkte der Produzent auf den ersten Blick eher hart und aufbrausend, doch er hatte ein gutes Herz.

„Die Rolle in Affäre im Pfarrhaus habe ich bereits vergeben. Keine Sorge, in Kürze beginnt der Dreh für einen Porno im Krankenhausmilieu, da gibt es geradezu eine Paraderolle für dich. Ein Patient erwacht mit einer furchterregenden Erektion aus dem Koma und belästigt die Krankenschwestern. Wenn du willst, kriegst du die Rolle. Da kannst du heulen, so viel du willst, das musst du sogar. Es soll die harte Version von Grey’s Anatomy werden, und ich brauche eine Szene, in der du dir einen blasen lässt mit deinem tränenüberströmten Gesicht in Großaufnahme. Das muss echt wirken, wie großes Kino, für so was bist du genau der Richtige.“

Bonamente fiel ein Stein vom Herzen. Bis Martucci ihm noch einen Rat mit auf den Weg gab, der seine Illusionen zerstörte.

„Du solltest ernsthaft darüber nachdenken, dich aus dem Geschäft zurückzuziehen, Zagor. Der Porno entwickelt sich weiter, die neue Generation ist objektiv gesehen wesentlich fotogener als du. Jede Stunde sehen auf der Welt zweieinhalb Millionen Menschen einen Pornofilm, der Markt wächst, und das Genre braucht neue Impulse. Es ist wie in anderen Branchen, beim Fußball zum Beispiel. Ab einem gewissen Alter muss man sich etwas Neues suchen.“

Bonamente „Zagor“ Fanzago murmelte ein paar Worte zum Abschied und verließ das Zimmer. Er hatte das Gefühl, alle Sicherheit in seinem Leben verloren zu haben.

Niedergeschlagen ging er durch Nebenstraßen, in denen weniger Verkehr herrschte. Während seiner Rekonvaleszenz hatte er einen unsichtbaren Feind entdeckt, dem er um jeden Preis aus dem Weg gehen wollte. Eines Tages hatte er gehört, wie die Ärzte darüber diskutierten, dass bei Smog und hoher Feinstaubbelastung die Zahl der Patienten mit akuten Herzproblemen anstieg. Ob das genauso auf Schlaganfallpatienten zutraf, hatte er sich gefragt und Nachforschungen angestellt. Inzwischen glaubte er daran, denn am Tag seines Schlaganfalls waren die Schadstoffbelastungen in der Luft extrem hoch gewesen, die Feinstaubwerte wesentlicher höher als erlaubt. Die Schuld hatte man dem hohen Verkehrsaufkommen gegeben.

 

Die Psychologin auf seiner Station, die von Bett zu Bett ging und die Patienten darüber informierte, dass ihr Leben sich ab jetzt unwiderruflich verändern werde und man dieser Herausforderung mit dem nötigen Verantwortungsbewusstsein begegnen müsse, hatte ihm angekündigt, dass er die Welt von nun an mit anderen Augen sehen werde.

Teilweise hatte sie recht behalten. Anfangs musste er lernen, sich auf den Beinen zu halten, wieder zu laufen. Seine Beziehung zu seinem Körper wurde eine andere. Nie hatte er daran gedacht, dass man auf den Körper hören sollte und musste, um rechtzeitig zu merken, wenn er einem wieder einen Streich spielte. Und es gab noch etwas, mit dem er sich jeden Tag zu befassen hatte: seine Medikamente. Pillen, Tabletten, Pulver. Halbe, ganze, vor dem Essen, zum Essen, nach dem Essen, lange nach dem Essen. Viermal am Tag. Für immer.

„Sie müssen akzeptieren, dass Sie an einer chronischen Krankheit leiden. Nur die Therapie hält Sie am Leben“, hatte der Arzt auf die Frage geantwortet, wie lange er alle diese Medikamente nehmen müsse.

Eigentlich war er optimistisch gewesen, da seine Genesung recht gut verlief, die Logopädin zufrieden war mit seinen Fortschritten und er sich selbst immer besser fühlte. Die ärztlichen Prognosen hatten ihm hingegen einen Schlag versetzt.

Sobald er in sein Zimmer in der Pension zurückgekehrt war, hatte er im Internet recherchiert, was genau chronische Krankheit bedeutete.

Das seien alle Krankheiten, die mit einer langsamen und fortschreitenden Verschlechterung der normalen Körperfunktionen einhergingen, las er dort. Und aus diesem Grund bezeichne man sie als chronisch, als nicht mehr wirklich heilbar.

Er hatte geweint, hatte gar nichts dagegen tun können. Erst jetzt wurde ihm das volle Ausmaß seiner Krankheit bewusst und traf ihn bis ins Mark. Er hatte das Pillendöschen aus der Tasche gezogen, ein Geschenk des Apothekers an seinen neuen Stammkunden, und die Farben und Formen seiner Medikamente betrachtet. Rund, oval, weiß, gelb, orange … Wie schafften sie es überhaupt, seinen Blutdruck und sein Cholesterin unter Kontrolle zu halten, fragte er sich. Vorher hatte er sich nie darüber Gedanken gemacht, wie Papaverin seinen Schwanz hart wie Marmor werden ließ, jetzt wurde es wichtig. Diese Pillen würde er jeden verdammten Tag nehmen müssen bis zu seinem letzten Atemzug.

Bekanntermaßen retteten Medikamente einem das Leben, zumindest in der Theorie, dass sie genauso gefährliche Eindringlinge waren, verdrängte man gerne. Sie waren gleichermaßen gut wie böse. Sie beeinflussten den Organismus, veränderten ihn und heilten Krankheiten, aber manche Inhaltsstoffe konnten einen sogar ganz leicht vergiften.

Bonamente war fest davon überzeugt, dass die Chemie etwas Geheimnisvolles hatte, dass sie Fluch und Segen zugleich war. Daher betrachtete er sie nicht als eindeutig gute und freundliche Macht, fühlte sich vielmehr von ihr belagert, unterdrückt und bedroht. Immer, wenn er etwas aß, ein Glas Wasser trank oder durch die Straßen schlenderte, quälte ihn die Vorstellung, irgendetwas zu sich zu nehmen oder einzuatmen, das mit Chemie zu tun hatte.

Er versuchte dem Problem aus dem Weg zu gehen, indem er sich mit den Medikamenten nicht mehr befasste, sondern sie einfach schluckte. Sie in der Apotheke zu besorgen und die Einnahmezeiten festzulegen, das überließ er Signor Alfredo, der ihn mit der Präzision einer Krankenschwester überwachte. Er selbst sah sich immer mehr als Ergebnis eines falschen Lebenswandels, als Opfer der vielen Chemie, die er jahrelang zu sich genommen und die ihn Tag für Tag schleichend vergiftet hatte.

Und heute hatte Martucci in seiner Hellsicht ihm eine Rolle angeboten, die perfekt zu diesem Dilemma passte. Die des Komapatienten, der nach seinem Aufwachen den Krankenschwestern an die Wäsche geht. Es würde seine letzte sein, das Ende seiner Karriere.

Bislang hatte er sein Leben nicht allzu ernst genommen, hatte keine Angst vor der Zukunft gehabt, jetzt könnte das anders aussehen.

Er war in einer ehrgeizigen Familie aufgewachsen, in der die feste Entschlossenheit herrschte, der sozialen Schicht zu entwachsen, der man über Generationen angehört hatte. Er sollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und alle sich ihm bietenden Möglichkeiten nutzen, doch er war Zagor geworden, weil alles, was mit gesellschaftlichen und familiären Beschränkungen zu tun hatte, eine Horrorvorstellung für ihn war. Was ihm am meisten Angst eingejagt hatte, waren die Dynamik in den Familienbeziehungen, die Last von Gefühlen, die Verpflichtungen, die Abneigungen gewesen. Mit etwa fünfzehn hatte er sich geschworen, nie zu heiraten, mit zweiundzwanzig sich einer Vasektomie unterzogen, um keinen Nachwuchs zu produzieren. Er war weder beim Militär gewesen, noch hatte er ein Studium in Erwägung gezogen. Er wollte nichts hinterlassen, sondern seine Zeit auf Erden möglichst unproblematisch verbringen.

Sorgfältig hatte er seine Spuren verwischt und seit Langem nichts mehr von seiner Familie gehört. Nachdem ein Freund seinem älteren Bruder Fabio eine DVD mit einem Film geschenkt hatte, in dem Zagor einen sadomasochistischen Exorzisten spielte, war es vorbei gewesen mit den Kontakten.

Er hatte viele Beziehungen zu schönen Frauen gehabt. Kein Wunder. Er sah gut aus, besaß einen attraktiven Körper, war zudem sympathisch und durchaus in der Lage, ein halbwegs intelligentes Gespräch zu führen. Und keine der Frauen, mit denen er Affären gehabt hatte, stammte aus dem Pornomilieu, er wollte Job und Privatleben trennen. Dauerbeziehungen allerdings waren für ihn von vornherein ausgeschlossen, und die Affären dauerten nie lange an. Man trennte sich ohne Zorn und Bedauern und auch ohne besondere Erinnerungen.

Jedenfalls bis zu dem Moment, als er sich in die Dienstagsfrau verliebt hatte. Seitdem richtete sich sein Gefühlsleben einzig auf den Dienstag von drei bis vier. Obwohl er es höchst ungern zugab, waren diese Treffen für ihn die perfekte Beziehung. Mehr konnte und durfte er nicht erwarten.

Diese Frau, von der er weder Namen noch Telefonnummer wusste, hatte ihn verhext. So sehr, dass er sich ausschließlich auf sie konzentrierte und unter der Angst litt, sie zu verlieren. Und diese Angst war konkreter geworden, seit er ein behinderter Gigolo geworden war, der aufgrund eines Schlaganfalls keine chemischen Hilfsmittel für seine Potenz mehr nutzen durfte. Im Augenblick war die Leidenschaft zwar so groß, dass das nicht nötig war, dennoch blieb die Angst vor dem Versagen: An dem Tag, an dem er sie nicht mehr würde befriedigen können, würde er sie verlieren.

Eine Überlegung, die seine Angebetete selbst vielleicht schon angestellt hatte, schließlich wusste sie ja von seinem Gesundheitszustand.

Eines Tages hatte er im Krankenhaus die Augen aufgeschlagen und in ihr Gesicht geschaut.

„Wie geht es dir?“, hatte sie besorgt gefragt und ihm über die Wange gestreichelt.

„Wie es aussieht, war es ein Schlaganfall, zum Glück geht es mir bereits besser“, hatte er mit wild klopfendem Herzen geantwortet, denn dass die Dienstagsfrau zu Besuch gekommen war, das vermochte er nicht zu fassen. Tief bewegt hatte er begonnen, sich zu rechtfertigen: „Bei dem Leben, das ich führe, du weißt ja …“

Sie hatte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen gelegt und leise gesagt: „Erhol dich gut.“ Und dann war sie verschwunden.

Der Besuch hatte ihn so aufgeregt, dass die Ärzte ihm Medikamente geben mussten, um seinen Blutdruck wieder in den Griff zu bekommen.

Später erfuhr er, dass der Besitzer der Pension sie über seinen Gesundheitszustand informiert hatte, als sie wie jeden Dienstag dort aufgetaucht war. Und weil er ihr nicht traute, hatte er ihr gewaltig Angst gemacht.

„Signor Fanzago geht es sehr, sehr schlecht, er fragt ständig nach Ihnen. Ich würde an Ihrer Stelle lieber mal ins Krankenhaus gehen und diesen armen Mann ein wenig zu trösten versuchen.“

Er selbst besuchte ihn jeden Tag, in männlicher Ausführung. Er trug Jackett und Krawatte, dazu hoch sitzende Hosen, wie sie alte Männer trugen. Lediglich wenn man ihn genauer anschaute, erkannte man einen Hauch Make-up im Gesicht, den er vergessen hatte wegzuwischen.

„Ist das Ihr Vater?“, fragten die Krankenschwestern, die den komischen Typ mochten, der ihnen sonntags immer Süßigkeiten mitbrachte.