Die Frau am Dienstag

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Aus der Reihe: Transfer Bibliothek #152
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„Um Gottes willen, das ist mein bester Freund“, antwortete Bonamente.

Zu gut erinnerte er sich noch daran, wie er das erste Mal die Pension Lisbona betreten hatte, die ihm von einer Maskenbildnerin empfohlen worden war.

Alfredo hatte eine verführerische Pin-up-Pose eingenommen und gesagt: „Hier nennen mich alle Signor Alfredo, aber wie du siehst, bin ich eine schöne Frau und möchte auch als solche behandelt werden.“

In diesem Moment hatte Bonamente gewusst, dass das der richtige Ort für ihn war.

Der Pensionsbesitzer hasste die Dienstagsfrau abgrundtief. Vor allem konnte er nicht ertragen, dass sie ihn nie eines Blickes würdigte. Dabei zog er extra für sie seine raffiniertesten Looks an. Egal, was er trug, sie tat so, als ob die Rezeption verwaist sei, und marschierte direkt auf Zimmer drei. Signor Alfredo, der sich mit dieser Kränkung nicht abfinden wollte, wurde nicht müde, Bonamente die immer gleiche alberne Behauptung vorzutragen.

„Nach all den Jahren kann sie sich einfach nicht damit abfinden, dass ich eleganter bin als sie.“

Sobald aber Bonamente Signor Alfredo in seine Liebespein mit einbinden wollte, brummte dieser nur:

„Diese Frau ist eine Schlampe. Es macht ihr Spaß, dich leiden zu sehen. Ihr werdet nie ein Paar werden, gib dich damit zufrieden, mit ihr ins Bett zu gehen und dich dafür bezahlen zu lassen.“ Wenn er darauf keine Antwort bekam, legte er nach. „Und da wir beim Thema sind: Sei einmal ein Mann und lass dich nicht so ausnehmen. Erhöhe deinen Tarif, sie zahlt bestimmt seit Jahren das Gleiche.“

Signor Alfredo war ein Original. Mit Nachnamen hieß er Guastini und war vor mehr als dreißig Jahren aus dem Nichts im Viertel aufgetaucht. Niemand kannte ihn.

Seiner eigenen Auskunft nach hatte er lange in Lissabon gelebt, einer Stadt, mit der er ganz besondere Erinnerungen verbinden musste, denn jedes Mal, wenn er über sie sprach, und das kam nicht selten vor, seufzte er sehnsüchtig.

„Ach, Lissabon. Diese Sonnenuntergänge, diese Leidenschaft, diese Liebe, einfach verrückt“, sagte er immer wieder mit träumerischem Gesichtsausdruck.

Innerhalb der Pension zeigte Alfredo sich ausschließlich in Frauenkleidern, und über seine kurzen, schwarz gefärbten Haare stülpte er eine Perücke. Besonders liebte er ein Modell aus aschblonden, mehr als einen halben Meter langen Locken, das wie ein Wasserfall aussah und zu einem Vamp gepasst hätte.

Haare waren seine Leidenschaft. Er wechselte an einem einzigen Morgen dreimal die Perücke und war Stammkunde bei einer Modistin, die sich beruflich seit Längerem zurückgezogen hatte, aber immer noch mit goldenen Händen punktete.

Bonamente mochte ihn, warum, wusste er nicht so genau. Er erinnerte ihn an eine Tante, die er als Kind sehr gerngehabt hatte. Wie auch immer. Sein Vermieter war in seinen Augen wunderbar, sensibel und ausgesprochen freundlich. Die Pension Lisbona war sein Reich, das er höchst ungern verließ, weil er außerhalb der schützenden Mauern Männerkleider tragen musste.

„Ich habe Angst, einer Wahrheit ins Auge zu sehen, die ich seit jeher in mir trage. Nur kann ich mich heute nicht mehr wehren, nicht mal mit Worten.“

Bonamente verstand ihn. Toleriert wurde ein Transvestit höchstens dann, wenn er jung genug war, für eine Frau gehalten zu werden, mit der man erotische Fantasien verband. Unmöglich bei einem alten Mann in Rock und High Heels. Früher, als Alfredo noch „die Schöne“ genannt worden war, waren die Zimmer immer belegt gewesen. Da waren die Zimmer ausgebucht gewesen, vor allem mit Handlungsreisenden. Und er selbst hatte sich hingebungsvoll um seine Gäste gekümmert und sogar hin und wieder eine Nacht mit dem einen oder anderen verbracht. Nicht gegen Bezahlung, sondern aus echter Leidenschaft, versteht sich.

Seit mehr als fünfzehn Jahren wohnte der ehemalige Pornostar in Zimmer drei. Er hatte das langsame, stetige Ausbleiben der Gäste hautnah miterlebt. Allein Professor Federico Bassi aus Neapel, ein kluger Mann mit Sinn für Ironie, hielt der Pension die Treue. Er hatte Spanisch an der Universität unterrichtet und war häufig wegen beruflicher Verpflichtungen in die Stadt gekommen. Seit er allerdings in den Ruhestand getreten war, kam er bedeutend seltener in den Norden. Angeblich, weil seine Kinder keine Notwendigkeit darin sahen.

Dennoch bestand zwischen Bassi und Alfredo weiterhin eine tiefe Verbindung. Bonamente sah es an den leuchtenden Augen, wenn sich die beiden im Salon der Pension gegenübersaßen und sich leise unterhielten, und beneidete sie um diese Vertrautheit, die er sich mit der Dienstagsfrau selbst so sehr wünschte.

Erstaunlicherweise beschwerte sich Signor Alfredo nie über die leeren Zimmer. Ganz offensichtlich hatte er keine finanziellen Sorgen, wobei Bonamente absolut nicht wusste, woher das Geld kam, das immer wieder in die Räume investiert wurde.

Es handelte sich um sechs Zimmer, die auf zwei große Wohnungen in einem eleganten Palazzo auf der Piazza Risorgimento verteilt waren. Groß und geschmackvoll eingerichtet, verfügte jedes über ein King-Size-Bett. Am häufigsten war das Zimmer seines Dauergastes Bonamente renoviert worden, und zwar ganz nach dessen eigenen Vorstellungen und Wünschen.

„Wichtig ist, dass du bei mir bleibst, sonst findet dich deine Signora nicht wieder“, hielt er ihm immer wieder vor, als würde er fürchten, der jüngere Mann könnte sich etwas Eigenes suchen.

Dabei wäre Bonamente nicht im Traum auf die Idee gekommen, Alfredo zu verlassen. Nachdem er aus dem Elternhaus ausgezogen war, hatte er immer in Pensionen gelebt. Für ihn waren das Umgebungen, in denen er keinerlei Verpflichtungen hatte, außer dass er die Rechnung bezahlen musste.

Keine Mahlzeiten im Kreis der Familie, keine Familienfeiern, keine Geburtstage, keine Gedenktage. Die Idee, allein unter Unbekannten zu leben, gefiel ihm. Mit Menschen, die womöglich interessant waren, aber keinerlei Spuren in seiner Existenz hinterlassen würden. Wirklich wichtig waren für ihn einzig und allein Signor Alfredo und die Dienstagsfrau. Ohne sie konnte er nicht leben.

Die Nächte waren manchmal schlimm. Da suchten ihn nach wie vor die Schatten der Vergangenheit aus seiner frühen Jugend heim, zuerst die Gesichter, dann zusätzlich die Möbel und Gegenstände aus dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Der Streit um das Erbe sowie die Abtreibungen zahlreicher, unschuldiger Zimmermädchen hatten die Familie gespalten. Selbst ein Lächeln oder eine unschuldige Umarmung hatten zu Schwierigkeiten führen und Bestrafungen nach sich ziehen können. Da hatte keine Rolle gespielt, dass er noch ein Kind gewesen war.

Als Bonamente in der Pension ankam, traf er an der Tür Signora Erminia. Sie hielt die Zimmer in Ordnung, ihr Mann Rolando war der Hausmeister.

„Beeil dich, Guastini hat gerade das Risotto fertig“, sagte sie lächelnd. Sie nannte Signor Alfredo immer beim Nachnamen.

Als noch mehr Gäste die Pension besuchten, hatte es zusätzlich eine Köchin gegeben. Jetzt, wo sie zu zweit am Tisch waren, mit dem Professor hin und wieder zu dritt, war das nicht mehr nötig, und Alfredo kümmerte sich selbst darum. Er war ein guter Koch, immer elegant gekleidet mit der auf Maß gearbeiteten Lederschürze eines berühmten Schuhmachers und Lederdesigners. Seit dem Schlaganfall seines Dauermieters achtete er darauf, dass die Mahlzeiten leicht und gesund waren.

Bonamente seufzte, als er ins Bad ging, um sich die Hände zu waschen. Heute würde sich das Gespräch bei Tisch hundertprozentig um sein Treffen mit dem Produzenten drehen, das Signor Alfredo schon im Vorfeld kritisch betrachtet hatte.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte er prompt, während er einen Löffel Parmesan über den Teller seines Schützlings rieseln ließ.

Bonamente nahm eine Gabel Risotto und ließ sich Zeit. Durch die fehlende Butter war das Gericht lange nicht so gut wie üblich, es schmeckte eher nach Krankenhaus.

„Noch ein letzter Film, dann höre ich auf.“

„Ein Film zu viel.“

„Signor Alfredo, wir haben bereits darüber gesprochen, oder etwa nicht? Ich kann der Branche nicht mit einem Film Adieu sagen, in dem man mich nur von hinten sieht, weil ich geheult habe. Immerhin habe ich eine respektable Karriere zu verteidigen, und aus diesem Grund muss mein Abgang meiner würdig sein.“

„Und wenn du erneut zu Tränen gerührt bist? Wenn dein Schwanz nicht steht, wie er soll? Auf deine Pillen kannst du nicht mehr zurückgreifen, damit ist ein für alle Mal Schluss.“

„Dieses Mal ist Weinen kein Problem, sondern sogar erwünscht. Natürlich hast du recht, dass es mit meinem Stehvermögen schwierig werden könnte. Zwei, drei Tage lang werde ich vermutlich Papaverin oder Ähnliches nehmen müssen.“

Signor Alfredo schüttelte den Kopf. „Es ist absurd, so ein Risiko einzugehen. Du könntest am Set krepieren oder körperliche Schäden davontragen. Und ich sage dir gleich, Gäste im Rollstuhl möchte ich hier keine haben.“

Der ausrangierte Pornodarsteller schwieg. Er verspürte keine Lust auf weitere Diskussionen und beschloss, ernsthaft darüber nachzudenken, sogar auf diese letzte Rolle zu verzichten. Eine Alternative wäre höchstens, auf die ganzen Rücksichtsnahmen, die sein Gesundheitszustand ihm abverlangte, zu scheißen und wieder in Saus und Braus zu leben wie früher einmal.

Allein dieses fade Essen. Fünfzig Gramm Risotto, ein Salat, ein gekochter Apfel mit kaum mehr als einem Hauch Rohrzucker und ein Getreidekaffee mit einem halben Päckchen Süßstoff, das war schließlich zum Abgewöhnen. Mit dem unangenehmen Gefühl, noch immer Hunger zu haben, stand er verstimmt auf und ging in sein Zimmer. Er hatte es satt.

Signor Alfredo mochte ja recht haben, dass es verrückt war, unbedingt diese letzte Rolle noch spielen zu wollen, doch er fühlte sich irgendwie verpflichtet, mit Stil vom Pornogeschäft Abschied zu nehmen. Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass ihn niemand vermissen würde. Okay, er war kein schlechter Darsteller und hatte sogar ganz nette Kritiken bekommen, ein Star allerdings war er nie gewesen. Ein von den Kollegen geschätzter Profi, das ja. Vor allem seine weiblichen Kollegen, denen er immer aufmerksam und freundlich begegnet war, hatten ihn gemocht. Das Publikum hingegen hatte ihn nicht gerade umschwärmt, was Bände sprach.

 

Ganz davon abgesehen, hatte Martucci recht, dass inzwischen eine neue Generation in den Startlöchern stand. Die Jungen, die im Pornobereich Karriere machen wollten, brachten dieses gewisse Etwas mit, diese Verzweiflung, diesen Zorn, der einen Film undurchsichtig und faszinierend machte. Einmal hatte ein selbstbewusster Nachwuchsdarsteller mit langen Locken und einem gut gebauten Körper, der sein Studium geschmissen hatte, zu ihm gesagt, die Zeit der alten Böcke sei vorbei. Und damit war er gemeint gewesen.

Das Bild dieses aalglatten jungen Mannes, das vor seinem inneren Auge aufstieg, unterbrach den Fluss seiner Gedanken. Er war froh, dass er noch Zeit hatte, das Ganze ein weiteres Mal zu durchdenken und sich erst dann zu entscheiden. Um sich abzulenken, griff er nach einem Buch, das er zufällig aus dem Regal im Salon gezogen hatte. Signor Alfredo war Mitglied eines Buchclubs und bekam regelmäßig verschiedene Neuerscheinungen zugeschickt. Er hatte den Vertrag eher aus Zufall abgeschlossen und ihn dann nie gekündigt. Das, was er wirklich las, kaufte er am Kiosk, verschlang jede Woche einen Band einer Liebesromanreihe, in der es immer um das Gleiche ging: er, sie und die andere.

Seufzend warf Bonamente einen Blick auf den Kalender. Erst Freitag. Noch vier Tage, bis er die Frau seiner Träume in seinem Bett empfangen durfte. Allein der Gedanke daran führte zu einer respektablen Erektion. Sein Schwanz war durchaus empfänglich für die Liebe.

Er schloss die Augen und nutzte die Gunst der Stunde.

2.

Am folgenden Tag, dem Samstag, wirkte Signor Alfredo besonders zufrieden und servierte das Frühstück mit einem Lied auf den Lippen, einem alten Hit von Gianni Morandi:

Non se ne va questo spirito libero

Questo ragazzo che porto dentro

È una vita che ti guardo

E non se ne va questa luce dagli occhi …

La voglia di rivivere tutto da capo e ogni momento

La voglia di chiamarti amore come non te l’avessi mai detto

In diesem Moment wusste Bonamente, dass sich Professor Bassi angesagt haben musste.

„Er bleibt das ganze Wochenende“, raunte ihm sein Vermieter zu.

„Sein Zimmer wird soeben hergerichtet.“

Dabei war das eigentlich gar nicht nötig, weil der Raum immer bezugsfertig war. Neidisch beobachtete sein Mieter, der beruflich wie privat im luftleeren Raum schwebte, den aufgeregt herumlaufenden Mann und wünschte sich das Gleiche, doch ein Wochenende mit seiner Dienstagsfrau war und blieb für ihn ein unerreichbarer Traum.

Um sich abzulenken, brach er zu einem Spaziergang auf und strebte auf ein Einkaufszentrum zu. Früher war er lieber ins Grüne gegangen, heute aber fühlte er sich in diesem riesigen Kasten, in dem die Luft von gigantischen Maschinen gewärmt und gefiltert wurde, sicherer.

Auf einer künstlichen Piazza setzte er sich unter einen Sonnenschirm, der niemals weder einen Sonnenstrahl noch einen Regentropfen abbekommen würde, und bestellte eine große Tasse Getreidekaffee, in den er Süßstoff schüttete, was ihm sofort in Erinnerung brachte, dass sein Körper vor der Zeit gealtert war und er nicht mehr als dynamischer, vitaler Vierzigjähriger durchging.

Die Ärzte hatten ihn zwar beruhigt, dass er ein ganz normales Leben führen könne, die Psychologin dagegen war kritischer gewesen und hatte ihm nicht gerade Mut gemacht. Dabei hätte er wenigstens dieses Mal eine kleine Aufmunterung gebrauchen können, selbst wenn sie nicht ganz ernst gemeint war.

Um nicht weiter in trübe Gedanken zu verfallen, betrat er ein Wäschegeschäft, um sich Unterhosen zu kaufen. Er wusste nach wie vor nicht, ob die Dienstagsfrau ihn lieber in Boxershorts oder Slips sah, und hatte sie nie zu fragen gewagt. Mal trug er das eine, mal das andere und achtete genau auf ihre Reaktion, ohne eindeutige Hinweise erhalten zu haben. Er ging an den Sonderangeboten vorbei und beschloss, dass sie blau-weiß gestreifte Boxershorts verdient hatte.

Sie wollte stets vollständig bekleidet empfangen werden, sogar mit Jackett, erst dann zogen sie sich aus, ohne sich dabei anzusehen. Bonamente schummelte immer ein bisschen, weil er sie ansehen, umarmen und küssen wollte. Er hätte alles dafür gegeben, ihr beim Ausziehen helfen zu dürfen.

Als der Professor kurz vor dem Mittagessen eintraf, saß er im Salon und las Zeitung. Bassi begrüßte ihn mit seiner üblichen Freundlichkeit.

„Was macht die Gesundheit, Bonamente? Sie sehen blendend aus.“

Er selbst wirkte älter als beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, von den immer noch lebendigen und strahlenden Augen einmal abgesehen.

„Und Sie, Federico, werden immer jünger“, erwiderte er ganz ernst.

Der Professor nickte ihm lächelnd zu, war dankbar für die charmante Lüge.

Während des Mittagessens redete Federico ununterbrochen, wie ein Getriebener. Aber es machte Spaß, ihm zuzuhören, und Bonamente hing an seinen Lippen, während Signor Alfredo still und geschäftig zwischen Küche und Tisch hin und her lief.

Den Nachmittag verbrachte der Schauspieler auf seinem Zimmer, erst gegen Abend verließ er es wieder und bestellte sich ein Taxi.

Als er dem Fahrer die Adresse nannte, drehte der sich um und grinste ihm verschwörerisch zu.

„Es gibt ja nichts mehr außer dem Eden“, meinte er und bezog sich damit auf das letzte Pornokino der Stadt. „Mittlerweile schaut man sich Pornos zu Hause an, wo man gleich zur Sache kommen kann“, fügte er hinzu.

Im Kino lief ein Krankenhausporno, ein Genre, in dem Bonamente wenig Erfahrung hatte und mit dem er sich näher beschäftigen musste, wenn er die Rolle wirklich übernehmen wollte, die Martucci ihm angeboten hatte.

Niedergeschlagen verließ er am Ende das Kino. Nicht allein deshalb, weil es sich um eine slowenische Produktion und ein Remake gehandelt hatte, sondern weil es nicht einen einzigen Darsteller seines Alters gegeben hatte. Die Älteste war die Oberschwester mit höchstens fünfunddreißig gewesen.

Zu Hause wartete Alfredo auf ihn. Er hatte ihm das Abendessen warm gestellt und wollte sichergehen, dass er seine Medikamente einnahm. Kurz darauf, pünktlich wie immer, klopfte er an Bonamentes Tür, um ihm seinen Tee zu bringen.

Die Nacht verbrachte Signor Alfredo nicht in seinem eigenen Zimmer, sondern ging weiter zu Zimmer eins und drückte vorsichtig die Klinke herunter.

Federico stand am Fenster, als er das Zimmer betrat. Gekleidet in einen eleganten dunkelblauen Morgenmantel mit roten Borten, deklamierte er, ohne sich umzudrehen, mit tiefer, rauer Stimme das Gedicht von Pablo Neruda, mit dem er Alfredo jedes Mal seit vielen Jahren begrüßte, wenn er mitten in der Nacht zu ihm kam.

Ich habe dich zur Königin ernannt.

Größere gibt es, größer als du.

Reinere gibt es, reiner als du.

Schönere gibt es, schöner als du.

Aber du bist die Königin.

Alfredo ging auf ihn zu und zog ihm den Morgenmantel aus, küsste ihn auf den nackten Rücken, kniete nieder und begann mit der Zunge das Hinterteil des Professors zu liebkosen, griff gleichzeitig mit der linken Hand nach seinem Penis und streichelte ihn. Als er eine ganz zaghafte Erektion spürte, stand er auf und steckte ihm den Zeigefinger in den Hintern, suchte nach der Prostata. Verdammtes Alter, dachte er und fuhr fort, beides zu reizen, bis er ein wenig Sperma in der Hand spürte. Danach nahm er Federico zärtlich in den Arm.

„Du bist mein König“, flüsterte er.

Am Sonntag stand der Hausherr früh auf und backte Federicos Lieblingskuchen. Er war überglücklich und fest entschlossen, jeden Moment ihrer gemeinsamen Zeit auszukosten. Gerne hätte er sein ganzes restliches Leben mit ihm verbracht, bloß ließen das die Umstände und ihre unterschiedlichen Lebensverhältnisse nicht zu. Ihre Liebe war einfach zu verrückt, gänzlich unmöglich.

Ganz anders erlebte Bonamente den Sonntagmorgen. Gleich beim Aufwachen fühlte er sich so verloren wie immer an diesem Tag. Was sollte er mit seiner Einsamkeit anfangen? Während Paare und Familien Ausflüge machten, Parks und Restaurants bevölkerten, konnte er es kaum erwarten, bis die langweiligen Stunden vorbei waren. Bis der Montag und endlich, endlich der Dienstag kam.

Als er ins Frühstückszimmer kam, bemerkte er als Erstes den Kuchen.

„Für dich nicht mehr als ein halbes Stück“, warnte ihn Signor Alfredo, „in dieser Köstlichkeit ist einiges an Zucker und Butter.“

Als er für einen Moment den Raum verließ, zwinkerte Bassi ihm zu und reichte ihm ein weiteres Stück. „Beeil dich, sonst schimpft er mit mir.“

In Windeseile verschlang Bonamente den Kuchen und überlegte gerade, was er heute unternehmen sollte, um den beiden nicht lästig zu fallen, als der Professor zu seiner Überraschung den Wunsch äußerte, in ein Restaurant zu gehen, wo er früher Stammgast gewesen war, und ihn ebenfalls dazu einlud. Seine Ausrede ließ er nicht gelten.

„Ich erlaube mir, darauf zu bestehen. Es würde mich wirklich glücklich machen. Es ist zu lange her, dass ich mit Freunden auswärts gegessen habe. Jeden Sonntag nehme ich mit meinen Söhnen, meinen Schwiegertöchtern und den Enkeln das Mittagessen ein, die mich wie einen uralten Großvater behandeln. Dementsprechend benehme ich mich leider auch. Es ist eine echte Tragödie, wenn man zur Banalität gezwungen wird.“

„Vielleicht kannst du deine Verabredung ja verschieben“, schlug Signor Alfredo vor, der sehr wohl verstanden hatte, dass sein junger Freund abgelehnt hatte, um nicht aufdringlich zu wirken.

Nachdem alles einvernehmlich geregelt war, fuhren sie gemeinsam zu einem Restaurant am Stadtrand, von wo aus man in die Ebene und auf die Sojafelder blickte, die den Anbau traditioneller Getreidesorten verdrängt hatten.

Bei dem Fahrzeug, in dem sie saßen, handelte es sich um ein neues Elektroauto, das Alfredo Guastini gekauft hatte, als er von den Gefahren des Feinstaubs gehört hatte. Den Mercedes mit dem Dieselmotor hatte er verkauft und sich stattdessen für ein teures japanisches Modell mit allen Schikanen entschieden, dessen Hersteller zusätzlich damit werben durfte, dass der Wagen die Luft nicht verschmutze und dem Klima und der Gesundheit diene.

Bonamente saß still auf dem Rücksitz und beobachtete die vorbeiziehenden Häuser. Ein offenes Fenster, ein zugezogener Vorhang, aufgehängte Wäsche. Wie damals als Kind stellte er sich immer noch gerne vor, wer die Bewohner hinter den Fenstern wohl sein mochten.

Dann erreichten sie das Restaurant.

Bassi lächelte zufrieden, als er feststellte, dass es genau so war, wie er es in Erinnerung hatte, selbst die Karte schien sich nicht geändert zu haben.

Während sie ein hervorragendes Paprikahühnchen aßen und dazu einen Rotwein aus den Abruzzen tranken, fragte Signor Alfredo den Professor, wie er gerade auf dieses Restaurant so weit außerhalb gekommen sei.

„Weil hier keine Kollegen aus der Uni herkamen“, erklärte er lächelnd. „Ich kam immer mit einem Kollegen hierher, er hat mir übrigens die Pension empfohlen, wofür ich ihm auf ewig dankbar bin.“

Guastini seufzte und legte seine Hand auf die von Bassi.

„Ich habe geheiratet, weil ich meine Frau wirklich geliebt habe“, stellte der Professor klar. „Sie war eine schöne, starke und intelligente Frau, und ich leide sehr unter ihrem Verlust. Trotzdem habe ich sie immer mit Männern betrogen, aber ich hätte sie nie verlassen. Nicht wegen der Kinder, sondern weil ich sie vergötterte. Ich weiß nicht, ob sie wusste, dass ich nicht ausschließlich auf Frauen stand, das kann ich sie erst in unserem nächsten Leben fragen. In diesem jedenfalls haben wir darüber nicht gesprochen. Mit meinem ältesten Sohn Luigi wollte ich eigentlich darüber reden, doch er war schockiert und bat mich, das Thema nicht mehr zu erwähnen. Deshalb erzähle ich es Ihnen, Sie haben ja keinerlei Vorbehalte, sonst hätten Sie es nie so lange in der Pension Lisbona ausgehalten.“

 

Einmal mehr fühlte sich Bonamente in seiner Überzeugung bestätigt, dass Familienbande eine teuflische Falle waren. Sie verboten es den Menschen, sich frei auszuleben, zwangen sie sogar zur Lüge, zu Ausflüchten und Betrug. So wie der Professor sein Leben verbracht hatte, wollte er seines nicht verbringen.

Bassi riss ihn aus seinen Gedanken, indem er ihm auf den Arm tippte, damit er ihm weiter zuhörte.

„Mein ganzes Leben lang haben meine Freunde und die Experten, die ich dafür bezahlte, Ordnung in mein Sexualleben zu bringen versucht, mir gesagt, ich sei verwirrt wegen meiner Bisexualität. Vielleicht hatten sie damit nicht unrecht, nur bin ich inzwischen davon überzeugt, dass man das Recht hat, in sexueller Hinsicht verwirrt zu sein. Niemand sollte etwas dagegen sagen oder es ändern wollen. Meinen Sie nicht?“

Bonamente zuckte mit den Schultern. Er hatte zu diesem Thema keine feste Meinung. Zwar gab er dem Professor instinktiv recht, fürchtete allerdings, dass er in komplizierte Diskussionen verwickelt würde, darum stand er auf und ging unter dem Protest Bassis zur Kassa und beglich die Rechnung.

Am Montagmorgen erschien der Professor elegant gekleidet zum Frühstück und begrüßte Bonamente flüchtig, der gerade Getreideflocken in eine Tasse Mandelmilch schüttete.

Signor Alfredo strich ihm über die Schulter: „Alles gut, Frederico?“

„Ich muss mit dir reden“, sagte Bassi und starrte betreten zu Boden, während Alfredo ahnungsvoll zusammenzuckte, als hätte ihm jemand in die Rippen geboxt.

Auch der Mieter begriff, dass Ungemach bevorstand, und erhob sich schnell, um in der nächsten Bar ein angenehmeres Frühstück zu sich zu nehmen.

„Ich werde nicht mehr kommen“, flüsterte der Professor mit brüchiger Stimme, nachdem sie allein waren.

„Wegen der Kinder?“

Bassi nickte. „Wenn sie klein sind, sind sie von dir abhängig, sobald sie dann erwachsen sind, übernehmen sie die Kontrolle über dein Leben. Und wenn du alt geworden bist, liegt dein Schicksal ganz in ihrer Hand. Sie lassen dich für alles bezahlen, was du in der Jugend bei ihnen falsch gemacht hast, und im Namen der Gesundheit und des angeblichen Wohlbefindens nehmen sie dir noch die letzten Freuden. Auf diese Weise lebst du länger, bist dafür unglücklicher.“

„Du hättest dich deinem Sohn vielleicht nicht anvertrauen sollen.“

„Ich habe gehofft, dass er mich versteht und mich dabei unterstützt, hierher zu dir zu ziehen. Jetzt hat er nichts als Angst, dass ich mich und damit ihn lächerlich mache.“

Als sein langjähriger Liebhaber in sein Zimmer zurückgekehrt war, um zu packen, ließ Signor Alfredo seinen Tränen freien Lauf und folgte Federico nach einer Weile. Lange hielten sie sich im Arm, küssten sich und flüsterten letzte Worte der Liebe.

„Ich muss gehen, meine Königin“, verabschiedete sich der Professor, während Alfredo in sein Zimmer zurückkehrte, sich einschloss und es Erminia überließ, Bassi zur Tür zu begleiten. Es war nicht der erste Abschied, den sie in der Pension Lisbona erlebte, sie war sich indes ziemlich sicher, dass es der letzte sein würde.

Als Bonamente zurückkehrte, lag eine drückende Stille über der Pension. Als wäre jemand gestorben. Fluchtartig verließ er den traurigen Ort, streifte unschlüssig durch die Straßen und landete schließlich in der Bingohalle, in die er öfter ging. Selbst am Morgen war sie bereits gut gefüllt. Wie immer setzte er sich an den Tisch mit den Chinesen, die seiner Meinung nach Glück brachten.

Er nahm sich vor, besonders auf die Spieler zu achten, die „Bingo“ riefen, ihre Freude rührte ihn. Einmal hatte ihn ihr Erfolg so sehr bewegt, dass er eine halbe Stunde weinend auf der Toilette gesessen hatte, bevor er sich wieder beruhigt hatte.

Signor Alfredo hatte sich in seinem Zimmer verbarrikadiert. Er blieb dort, bis es Nacht wurde und sein einziger Gast schlief. Er wollte nicht in seiner Verzweiflung gesehen werden. Im Nachthemd begab er sich schließlich in die Küche, machte sich etwas Milch warm und aß den restlichen Kuchen, den er für seinen König gebacken hatte.

In den vergangenen Jahren hatte er so sehr darauf gehofft, dass sein König eines Tages zu ihm in die Pension ziehen würde. Alles allerdings einfach gottergeben hinzunehmen, dazu war er nicht bereit. Zu sehr haderte er mit dem Schicksal, das zwei alte Männer trennen wollte, die sich liebten. Ihm fehlten die Zeit und die Energie, sich die Zukunft neu zu erfinden. Der Einzige, an den er sich klammern konnte, war Bonamente. Resigniert betrachtete er seinen alten Körper im Spiegel. Egal, um ihn würde er mit dem Schicksal kämpfen.

Am Dienstag kam die Dienstagsfrau pünktlich um drei. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, an dem Besitzer der Pension vorbeizugehen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und direkt auf Bonamentes Zimmer zuzusteuern.

An diesem Nachmittag hingegen packte Signor Alfredo, der einen grünen Hut mit einem Schleier in gleicher Farbe trug, um seine rot geweinten Augen zu verbergen, die hochnäsige Dame am Arm.

„Sorgen Sie dafür, dass er nicht in diesem Film mitspielt“, forderte er sie entschlossen auf.

Sie verdrehte die Augen. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Es interessiert mich nicht und geht mich zudem nichts an.“

„Ach nein? Dann sollten Sie sich langsam fragen, ob Sie an den Trauerfeierlichkeiten für Ihren Lieblingsgigolo teilnehmen wollen oder nicht. Es dürfte eine interessante Erfahrung werden, die Sie Ihren neugierigen Freundinnen erzählen können.“

Die Dame war empört. Eine Stunde Vergnügen in der Woche, und selbst das nicht mal regelmäßig, wenn man die Feiertage, den Urlaub und unvorhergesehene Ereignisse abzog, und diese alte Transe vergeudete ihre kostbare Zeit. Ganz davon abgesehen, dass er ihre erotischen Fantasien störte.

„In Ordnung, ich werde darüber nachdenken, ob ich an der Trauerfeier teilnehmen werde.“

Alfredo verstand die Welt nicht mehr. Da richtete er das Wort an sie, weil er sich ernsthafte Sorgen machte, und dann eine solche Antwort.

„Der arme Bonamente kann es sich nicht erlauben, irgendwelche Medikamente zu nehmen, damit er eine fürs Kino passende Erektion hat, und ich fürchte, dass er bei Ihnen auch diesen Unsinn treibt, damit er Sie als Kundin nicht verliert.“

„Schluss, er ist ein erwachsener Mann und kann jederzeit auf mein Geld verzichten, wenn ihm danach ist“, sagte die Dienstagsfrau in noch eisigerem Ton und entfernte sich raschen Schrittes.

Alfredo schaute ihr hinterher und überlegte, ob er es falsch angepackt hatte. Nein, diese Frau war einfach eine blöde Kuh, und mit ihrem Verhalten würde sie die Situation noch schlimmer machen.

Der Junge hatte etwas Besseres verdient. Dem Transvestiten war seit Langem klar, dass er von Frauen überhaupt nichts verstand. Und von Männern desgleichen nicht, wenn man mal ehrlich war. Er war ein wunderbarer Mensch, dem man auf die Sprünge helfen musste, weil er sich mit den praktischen Dingen des Lebens einfach nicht auskannte oder sie nicht beherrschte. Für ihn war er wie ein eigener Sohn und er war ihm ein verlässlicher Partner, darum verstand er nicht, was diese Frau im Leben eines Gigolos bedeuten konnte.

Obwohl Alfredo Guastini sich nicht gerne an seine portugiesische Vergangenheit erinnerte, dachte er jetzt an ein Sprichwort, das er sich immer dann vor Augen führte, wenn bestimmte Situationen geradezurücken waren, und das besagte, dass man den Feind manchmal mit seinen eigenen Waffen schlagen müsse. Seufzend öffnete er den Schrank mit seinen Männerkleidern.

Zur selben Zeit bemerkte Bonamente, dass etwas nicht stimmte. Seine Dienstagsfrau war ins Zimmer gekommen, ohne sich auszuziehen.

„Was ist los?“

„Die angebliche Dame an der Rezeption hat mich aus dem Konzept gebracht“, erklärte sie vorwurfsvoll. „Was ist das für eine Geschichte mit einem Film, den du drehen und bei dem du Pillen nehmen musst, damit es mit deiner Erektion passt?“

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