Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 9

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Omas Spritzgebackenes

„Das darf doch nicht wahr sein! Wer war das?“ Großmutter Susanna war sich ganz sicher gewesen, ein gutes Versteck für ihre Weihnachtsplätzchen ausgewählt zu haben. Der große Wohnzimmerschrank war doch wirklich ein Ort, wo man Plätzchen verstecken konnte, ohne dass sie gefunden wurden. Außerdem hatte die Großmutter, nachdem sie tagelang Butterplätzchen und Spritzgebackenes hergestellt hatte, genau darauf geachtet, dass niemand, wirklich niemand, Zeuge des diesjährigen Plätzchenverstecks werden konnte.

Jedes Jahr musste sie sich neu überlegen, wo sie die Leckereien verstecken konnte, damit sie nicht schon vor dem Fest aufgefuttert wurden. In einem Jahr hatte sie ein paar Plätzchendosen so gut versteckt, dass sie erst zufällig nach Ostern gefunden wurden.

Es war immer wieder das gleiche Ritual. In dem großen Haushalt mit Gastwirtschaft und Metzgerei hatte die Großmutter die Aufgabe übernommen, für Opa, sich und die beiden Familien ihrer Kinder die Weihnachtsvorbereitungen zu treffen. Außerdem konnte sie die besten Plätzchen der Welt backen! Aber leider gab es auch viele Naschkatzen in der großen Familie, die sich immer wieder auf die Suche nach dem Versteck machten.

Opa gehörte auch dazu.

Nun war der 24. Dezember gekommen und Oma Susanna wollte noch schnell vor der Bescherung die Weihnachtsteller für die drei Enkelkinder herrichten. Leider gab es nicht mehr allzu viel auf den Tellern zu dekorieren, denn irgendjemand aus der Familie hatte das Versteck ausfindig gemacht und die Hälfte des Spritzgebäcks aufgefuttert.

Der Schrank mit den doppelten Türen und den Schubladen darüber war Oma als sicheres Versteck erschienen, zumal sie den Schlüssel immer bei sich in der Schürzentasche aufbewahrt hatte. Die beiden Schubladen über den Schranktüren wurden auch nur von Oma selbst benutzt, denn hier hatte sie ihre über alles geliebte Bitterschokolade deponiert und die Lakritzstangen, die sowieso alle scheußlich fanden. Es gab also wirklich keinen Grund anzunehmen, dass jemand zufällig auf das Versteck gestoßen wäre ...

Zu den Enkelkindern gehörte auch die zehnjährige Christine. Das Kind war eine große Naschkatze und hatte es bei den Plätzchen immer besonders auf Omas Spritzgebäck abgesehen. Es war ihr aufgefallen, dass der Schlüssel zu dem Schrank fehlte. Das war für sie wie ein Halali, der Aufbruch zur Jagd.

Wenn Omas Schrank verschlossen und der Schlüssel zudem auch noch abgezogen worden war, konnte das nur eines bedeuten: Hier war das Plätzchenversteck!

Die beiden Schranktüren ließen sich ohne einen Schlüssel nicht öffnen, denn die eine Seite war von innen verriegelt worden. Christine zog eine der oberen Schubladen heraus und stellte dabei fest, dass sie sich ganz leicht komplett herausnehmen ließ. Nachdem sie die Schublade herausgezogen hatte, erhaschte sie einen Blick ins Innere des Schranks – auf die große Blechdose!

„Wenn ich nur wüsste, wie ich da dran komme“, murmelte sie vor sich hin und tastete durch den Schlitz in das Innere des Schranks. Plötzlich hatte sie den Riegel in der Hand und drückte ihn nach unten. Die Tür öffnete sich sofort einen kleinen Spalt breit wie von Geisterhand.

Jetzt galt es, schnell zu handeln. Christine öffnete die Schranktüren und dann blitzschnell die große Plätzchendose und stopfte sich ihre Taschen mit der Beute voll. Noch schnell zwei Plätzchen in den Mund und dann die Dose zumachen!

Danach gelang es ihr tatsächlich, die Schranktür zu schließen und erneut von innen zu verriegeln. Als sie die Schublade wieder ordnungsgemäß eingesetzt hatte, konnte sie sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Omas Gebäck schmeckte wieder traumhaft …

Leider blieb es nicht bei dem einmaligen Mundraub, denn Christine war geradezu süchtig nach Oma Susannas Plätzchen – und die schmeckten ja bekanntlich in der Adventszeit viel besser als an Weihnachten! Alle Familienmitglieder wurden schließlich von der ahnungslosen Großmutter verdächtigt, die Plätzchen gestohlen zu haben ... aber den wahren Täter kannte nur Christine.

Christine Leitl wurde 1948 in der Barbarossastadt Gelnhausen in Hessen geboren. Sie ist gelernte Handelsfachwirtin und absolvierte später ein Fernstudium zur Tourismusreferentin. Heute lebt sie in Mittelfranken, hat zwei erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder. Neben dem Schreiben gehören Tennis spielen, Rad fahren, Wandern und Reisen zu ihren Hobbys. Früher hatte sie zwei Pferde und ist als selbständige Reiseveranstalterin mit Gruppen durch Europa gereist. In Erinnerung an sorglose Ferien auf einem Pferdehof schrieb sie das Buch Turbulente Ferien, das in Papierfresserchens MTM-Verlag erschienen ist. Sie ist Mitglied im Roßtaler Schreibkreis, der im Herzsprung-Verlag die Anthologie Literarische Päckchen herausgegeben hat.

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Der Mann im Mond

Chantal war ein kleines Mädchen, das von seinen Eltern immer bekam, was es sich wünschte. Ganz egal, ob es eine Puppe war oder ein Smartphone, vielleicht auch eine Digitalkamera. Sie bekam immer alles. Trotzdem war sie sehr unzufrieden, sie hatte einen Wunsch, den ihr auch ihre Eltern nicht erfüllen konnten. Sie wollte, dass der Mann im Mond sie besuchte. Jeden Tag sagte sie ihrer Mutter und ihrem Vater diesen Wunsch. Chantal verstand nicht, warum ihre Eltern ihr alle Wünsche erfüllten, diesen einen aber nicht. Ihre Eltern erzählten ihr immer, dass es den Mann im Mond gar nicht gäbe und er deshalb sie nicht besuchen könnte.

Chantal hielt das für eine Ausrede. Sie sah den Mann im Mond jede Nacht, wenn der Mond schien und sie durch ihr Dachfenster blickte. Manches Mal zwinkerte er ihr sogar zu. Da war sie sich sicher.

So ging das einige Jahre. Auch als Chantal bereits zehn Jahre alt war, hatte sie den Wunsch nicht aufgegeben. Mittlerweile hatte sie so viele Spielsachen und andere Dinge, dass sie außer dem Besuch vom Mann im Mond keinen anderen Wunsch mehr hatte. Mittlerweile war sie auf ihre Eltern nicht mehr gut zu sprechen, sie wurde jeden Tag wütender. Was fiel ihren Eltern ein? Jahrelang hatten sie ihr jeden Wunsch erfüllt, und jetzt sollte sie nicht einmal Besuch von Mann im Mond bekommen?

Obwohl Chantal erst 10 war, entschloss sie sich, dass sie bei solchen Eltern nicht mehr leben wollte. Sie wollte sich alleine auf den Weg machen. Irgendwie musste es ja möglich sein, zum Mann im Mond zu kommen, wenn dieser schon nicht zu ihr kam. Vielleicht konnte sie ja bei einer Hexe auf dem Besen mitfliegen? Oder vielleicht konnte sie irgendein Zauberer auf den Mond zaubern? Sie packte ein paar der Dinge zusammen, die ihr wichtig waren, und lief los. Immer geradeaus. Sie hatte selbst keine Ahnung, wohin sie wollte. Als sie einige Zeit gelaufen war, kam sie in einen Wald. Ein bisschen Angst hatte sie ja schon, immerhin wusste sie aus den Märchen, die ihr ihre Mutter immer vorgelesen hatte, dass es im Wald Wölfe, Hexen, Trolle und allerlei andere gefährliche Gestalten gab.

Es dauerte auch nicht lange, da kam ein Troll vorbei. Als Chantal diesen Troll sah, musste sie sich fast übergeben. Ein so schreckliches Wesen, das noch dazu so fürchterlich stank, hatte sie noch nie gesehen. Der Troll versuchte, immer näher zu Chantal zu kommen. Chantal wich zurück. Trotzdem kam der Troll näher und näher.

Im allerletzten Moment wurde Chantal von irgendjemandem weggezogen. Dieser Jemand griff sie am Kragen ihrer Jacke und zog sie weg vom Troll. Chantal schrie, weil das so unerwartet geschah.

Als sich ihr Schreck gelegt hatte, sah sie, dass sie in einem Schlitten saß, der von einigen Rentieren gezogen wurde, von denen eines eine süße rote Nase hatte. Im Schlitten selbst saß, direkt neben ihr, ein alter Mann mit rotem Mantel und einem langen weißen Bart.

Chantal war erstaunt und fragte: „Bist du ...bist du ... bist du wirklich, also ganz in echt der Weihnachtsmann?“

Der alte Mann lachte: „Hohoho, ja, Chantal, der bin ich und ich möchte dir etwas zeigen.“

Chantal war sehr erstaunt, denn damit hatte sie nicht gerechnet, und da gab der Weihnachtsmann seinen Rentieren auch schon das Zeichen, sich in die Lüfte zu erheben.

Chantal hatte ein bisschen Angst, fliegen mochte sie nicht. Wenn sie daran dachte, mit wem sie durch die Lüfte flog, dann waren ihre Ängste jedoch sogleich verflogen.

Bald schon landeten sie am Nordpol, direkt vor der Werkstatt des Weihnachtsmanns. Überall liefen die Elfen geschäftig hin und her, und eine Elfe mit einer besonderen Mütze rief, als sie den Schlitten sah, durch ein Megafon: „Der Chef kommt, Achtung bitte, der Chef kommt.“

Der Weihnachtsmann und Chantal stiegen vom Schlitten ab und der Weihnachtsmann zeigte Chantal alles. Überall hingen Schilder mit den Ländern der Welt und darunter waren die Wunschzettel der Kinder aus den jeweiligen Ländern angebracht.

Chantal sah sich alles an und war erstaunt. Da standen ganz unterschiedliche Wünsche auf den Zetteln. Bei den afrikanischen Ländern stand auf manchen Zetteln

Ich möchte nie mehr Hunger haben und bei vielen europäischen Ländern standen auf dem Wunschzettel eher Smartphone, Playstation oder auch mal viel Geld.

Chantal fragte den Weihnachtsmann, wieso da so verschiedene Sachen auf den Zetteln stehen würden. Der Weihnachtsmann erklärte ihr, dass es nicht jedem Kind in jedem Land gleich gut gehen würde und deswegen wünschen sich manche Kinder eben, nicht mehr hungern zu müssen, während andere gar nicht wussten, was Hunger überhaupt ist.

Chantal fand das alles andere als gerecht, aber so war es wohl nun einmal. Sie fragte den Weihnachtsmann: „Und warum hast du mich vor dem Troll gerettet und zeigst mir deine Werkstatt?“

 

Der Weihnachtsmann antwortete: „Weil ich dir zeigen möchte, dass die Wünsche der Kinder sehr unterschiedlich sind und auch ich nicht alle erfüllen kann. Du hast deinen Wunsch nach dem Besuch vom Mann im Mond, den werde ich dir leider auch nie erfüllen können. Dafür werde ich dir und vielen anderen Kindern aber auch dieses Jahr viel Freude bringen indem ich genau das liefere, was sie gerade am meisten brauchen. Jetzt wird es aber Zeit für dich zu gehen, frohe Weihnachten.“ Mit diesem letzten Satz strich er über Chantals Augen, die sofort einschlief.

Als sie die Augen wieder öffnete und aus der Dachluke sah, sah sie wieder den Mann im Mond und hoffte immer noch, dass er sie eines Tages besuchen würde. Wenn nicht, wäre das aber auch nicht schlimm.

Und hatte sie heute Nacht wirklich den Weihnachtsmann getroffen? Gab es ihn etwa wirklich? Sie wusste nicht so recht, ob sie nur geträumt hatte oder ob das alles tatsächlich so passiert war. Allerdings lag neben ihr eine Elfenmütze, und sie grübelte die ganzen Weihnachtsfeiertage, wie diese Elfenmütze nur auf ihren Nachttisch gekommen sein konnte.

Susanne Weinsanto wurde 1966 in Karlsruhe geboren, lebt heute dort in der Umgebung und hat schon immer gerne Geschichten geschrieben.

*

Jacks erster Flug

„Heute Abend geht es wieder los“, sagte die Rentierdame Betty, die das Rudel vor dem Schlitten anführte. „Wir werden zehnmal fliegen, um die Geschenke zu verteilen. Wer wann fliegt, steht auf der Liste, die vor der großen Halle ausgehängt wurde.“

Die kleinen Rentiere rannten sofort los, auch Jack. Denn jeder wünschte sich, endlich mitfliegen zu dürfen. Es war der erste Schritt, dass man nicht mehr zu den Kleinsten gezählt wurde. Aber die Aussicht, einen der begehrten Plätze zu ergattern, war gering. Denn pro Schlitten war nur ein junges Rentier erlaubt.

Als Jack am Aushang angekommen war, liefen einige Rentiere, mit denen er das Ziehen eines Schlittens zusammen gelernt hatte, mit traurigen Gesichtern wieder weg. Jack drängelte sich nach vorne und überflog die Liste: Pico, Dalia, Amigo, Jack, Luna, Elliot ... Jack? Er starrte auf seinen Namen, und als er realisierte, was das bedeutete, bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen.

Als er kurz vor Mitternacht in die große Halle kam, war der Schlitten bereits fertig beladen. Ein paar Rentiere waren schon da, und als alle vollzählig waren, legten die Engel den Rentieren die Zügel an. Jack trat von einem Bein aufs andere und beobachtete die anderen Rentiere, die sich konzentrierten. Als Betty die Zügel umhatte, liefen sie langsam los.

Der Schlitten war schwerer als bei den Übungen und Jack musste seine ganze Kraft einsetzen, um vorwärtszukommen. Als sie ins Freie traten, leuchtete die Startbahn und über ihnen die Sterne. Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Wie oft hatte er den Start in den letzten Jahren geübt? Und so sehr er sich auch freute, genauso viel Angst hatte er. Denn sein Lehrer hatte sie immer wieder daran erinnert, dass der Fehler eines Einzelnen gefährlich und teuer werden kann. Im Rudel muss sich jeder auf den anderen verlassen können.

„Mein Rudel, ich wünsche uns einen guten Flug“, ertönte die Stimme des Nikolaus. „Und Jack, zeig uns, was du in den letzten Jahren gelernt hast.“

Jack versteifte sich augenblicklich. Er war sich seiner Aufgabe zwar bewusst. Aber der Nikolaus persönlich hatte ihn für sein Rudel ausgewählt. Das bedeutete, der Nikolaus war davon überzeugt, dass Jack seine Aufgabe gut machen würde. Aber wenn er versagte, würden nicht nur die Kinder keine Geschenke bekommen und das Vertrauen in den Nikolaus verlieren, sondern Jack würde auch das Vertrauen des Nikolaus verlieren. Er würde nie wieder einen Schlitten ziehen dürfen.

„Los geht’s!“, rief Betty an der Spitze des Rudels. Alle rannten los und je schneller sie wurden, umso leichter wurde der Schlitten. Kurz vor Ende der Startbahn erhoben sie sich in die Lüfte und sofort zog die Last des Schlittens wieder an seinem Körper. Doch Jack nahm seine ganze Kraft zusammen und zog den Schlitten hinauf. Als sie die Flughöhe erreicht hatten, atmete er erleichtert auf.

„Gar nicht so einfach, was?“, fragte das Rentier neben ihm und Jack schüttelte den Kopf.

Als er sein Gleichgewicht gefunden hatte, wagte er einen Blick nach unten. Gerade flogen sie noch über einen Wald, aber sie näherten sich dem Leuchten der Stadt. Und Jack konnte seinen Blick nicht mehr davon wenden. In den Übungsstunden waren sie meistens bei Tag geflogen und dann auch immer nur über Felder und Wälder.

„Jack, konzentriere dich aufs Fliegen“, ermahnte ihn das Rentier neben ihm.

Jack zuckte zusammen, als sein Name fiel, nickte aber.

Mittlerweile hatten sie den Wald hinter sich gelassen und Jack spitzte immer wieder kurz nach unten. Wenn man den Laternen folgte, konnte man genau sehen, wo die Straßen verliefen. Kurz darauf flogen sie eine Kurve und Jack erblickte ein noch helleres Licht als die Straßenlaternen.

Ein Tannenbaum, über und über behangen mit Lichtern, die die Nacht erhellten. Auf der Spitze blinkte ein Stern in verschiedenen Farben ...

„JACK!“

Jack versuchte sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen und sah wieder nach vorne, wo Betty gerade das Kommando für eine Rechtskurve gab. Die Rentiere legten sich in die Kurve und für einen Moment verschwanden die Lichter vollkommen aus seinem Blickfeld. Als sie wieder geradeaus flogen, fiel Jacks Blick sofort auf den Stern. Doch im nächsten Moment stieß er mit zwei Rentieren zusammen, und als er begriff, dass sie bereits die nächste Kurve flogen, war es schon zu spät: Er spürte einen Ruck an seinem Geschirr und versuchte verzweifelt nach links zu ziehen, aber die anderen Rentiere hatten bereits das Gleichgewicht verloren. Der Schlitten schwankte von links nach rechts und die Last des Schlittens zog ihn nach unten. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, aber aus dem Augenwinkel sah er, dass einige Geschenke aus dem Schlitten fielen.

Was hatte er nur getan?

Wieso hatte er sich nicht auf seine Aufgabe konzentriert?

„Geradeaus!“, rief der Nikolaus und augenblicklich zogen die Rentiere die Zügel stramm.

Jacks Herz raste, aber er spürte, dass der Schlitten wieder ins Gleichgewicht gekommen war. Doch er traute sich nicht, irgendjemanden anzusehen. Er wusste, dass er riesen Ärger bekommen würde. Und dass sein erster Flug auch sein letzter sein würde. Wieso hatte er sich nur so ablenken lassen?

„Wir landen auf dem Markt“, erklärte der Nikolaus nüchtern. „Wir müssen dort ein paar Geschenke einsammeln.“

Jack entging nicht, wie die anderen Rentiere ihn ansahen. Aber er reagierte nicht, sondern folgte Bettys Anweisungen, die das Rudel in mehreren Kurven hinunter lotste, bis sie schließlich auf dem Markt landeten.

Der Nikolaus stieg aus dem Schlitten und sammelte die Geschenke ein.

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fragte das Rentier neben ihm.

„Es tut mir leid“, nuschelte Jack und sah zu Boden.

„Weiter geht’s“, sagte der Nikolaus energisch und Jack war irritiert.

Wieso schimpfte der Nikolaus nicht mit ihm? Oder wartete er nur, bis die Arbeit erledigt war?

Für den Rest des Fluges konzentrierte er sich voll und ganz auf das Fliegen und die Anweisungen von Betty und dem Nikolaus. Sie landeten auf mehreren Dächern und der Nikolaus verschwand immer wieder in den Schornsteinen.

Als sie alle Geschenke verteilt hatten, flogen sie zurück zum Nikolausdorf. Jack hätte sich am liebsten davongeschlichen, aber der Nikolaus hielt ihn zurück.

„Es tut mir leid, Nikolaus“, versicherte Jack sofort.

„Das glaube ich dir. Aber vielleicht verstehst du nun, wieso ich so lange zögere, euch vor den Schlitten zu lassen. Ich habe dich ausgewählt, weil du kräftig und schlau bist. Aber wie es scheint, bist du noch nicht erwachsen genug, um Vergnügen von Arbeit zu trennen. Und auch wenn ich verstehe, dass der Anblick der Stadt ein wunderbarer ist, darf das nicht dazu führen, dass du deine Aufgabe vergisst.“

„Das heißt, ich darf nie wieder fliegen?“, fragte Jack traurig.

„Das kann ich heute nicht entscheiden. Aber ich hoffe, dass dir dieser Flug und deine Unachtsamkeit eine Lehre sind. Zur Strafe verordne ich dir erneute Übungsstunden. Außerdem bist du für die nächsten zwei Jahre gesperrt. Aber wenn du fleißig und artig bist, hast du im dritten Jahr die Chance, wieder dabei zu sein.“

Jack lächelte. Zwar hatte er sich gefreut, als er die Übungsstunden endlich abgeschlossen hatte. Aber er hatte mit diesem Flug Erfahrungen sammeln können, die ihm keiner mehr nehmen konnte. Und er würde alles dafür tun, um vom Nikolaus eine zweite Chance zu erhalten – auch weitere Übungsstunden. Und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass es keine richtige Strafe war – sondern nur eine Chance, sich zu verbessern.

Christina Emmerling wurde 1992 in Würzburg geboren, wo sie auch heute noch lebt. Bereits während der Schulzeit und später neben der Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten begeisterte sie das Schreiben. Neben Kurzgeschichten schreibt sie Fantasyromane und arbeitet derzeit an einer Trilogie. Ihre erste Kurzgeschichte wurde 2013 in einer Anthologie veröffentlicht.

*

Zu Besuch im Weihnachtswunderland

„Och, das ist echt doof, dass noch kein Schnee liegt“, mault Pia, „wie soll denn da der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten die Geschenke zu mir bringen?“ Trotzig stampft sie mit ihrem Fuß auf.

„Meinst du etwa, dass nur du Geschenke kriegst? Ich möchte auch welche haben!“, ruft wütend ihr älterer Bruder aus dem Kinderzimmer.

In der Küche steht unterdessen Jutta und backt einen Stollen. Sie hat das Wortgefecht ihrer Kinder gehört. „Kinder, an eurer Stelle würde ich mir um Weihnachten und eure Geschenke keine Gedanken machen. Es gibt für euch beide sicherlich kein einziges.“

Wie von Blitz getroffen, kommt Maik in die Küche gesaust. „Wie? Was? Keine Geschenke? Du machst Witze, oder?“

Schnell fügt Pia hinzu. „Genau, du verkohlst uns. Willst uns nur ärgern!“

„Warum sollte ich euch verkohlen oder ärgern wollen? Wie kommt ihr denn nur darauf? Nein, es wird wohl so kommen, dass ihr beide Heiligabend auf einen leeren Gabentisch guckt.“

Die viereinhalbjährige Pia und ihr fast zwei Jahre ältere Bruder sehen sich entsetzt an.

„Wieso denn?“, will Maik wissen.

„Na, ganz einfach! Weil ihr noch keinen Wunschzettel geschrieben habt!“, klärt die Mutter ihre Kinder auf, die mit weit aufgerissenen Augen vor ihr stehen. „Könnt ihr mir mal verraten, wie der Weihnachtsmann wissen kann, was ihr euch wünscht? Was soll er denn seinem Christkind sagen, was es für euch besorgen muss? Und wenn es kein Geschenk besorgt, dann brauchen die fleißigen Engelchen für euch auch nichts einpacken. Also wird der Schlitten mit Rudolf dem Rentier, dem Weihnachtsmann samt der vielen Geschenken an unserem Haus vorbeifahren und nicht anhalten.“

Pia ist aufgeregt und zuppelt nervös an ihrem Pulli. „Menno, ich kann ja gar nicht schreiben!“

„Stimmt, das kannst du noch nicht, Pia. Aber du könntest dem Weihnachtsmann ein Bild malen. Oder des Abends, wenn du dein Nachtgebet spricht, ihm sagen, was du dir zu Weihnachten wünschst.“

„Mama, und was soll ich machen?“, möchte Maik wissen.

„Ganz einfach. Du sagst mir, was du dir wünschst. Ich schreibe es vor und du schreibst es ab. Das machst du doch sonst auch. Aber gar keinen Wunschzettel für den Weihnachtsmann fertig zu machen, das ist nicht schön.“

Inzwischen haben sich Maik und Pia auf ihre Stühle gesetzt. In der Küche kann man eine Stecknadel fallen hören, so ruhig ist es. Die Kinder überlegen und sagen kein einziges Wort mehr. Jutta hat den Stollen fertig und will ihn gerade aufs Backblech legen, als Maik freudestrahlend ruft: „Komm mit, Pia, ich habe eine Idee!“

Beide springen von ihren Stühlen hoch und verschwinden in Maiks Kinderzimmer. Jutta hört nur noch, dass die Tür laut zuknallt und dann herrscht Stille. Es ist so mucksmäuschenleise im Zimmer, dass es schon fast unheimlich ist. So kennt sie ihre Kinder gar nicht. Meistens geht es nie lange gut, wenn sie zusammenhocken. Oft geht nach kurzer Zeit das Gezanke los. Aber jetzt – nichts ist zu hören!

 

Jutta wirft einen Blick in den Backofen. Sie freut sich, der Stollen nimmt so langsam Form an. Nachdem sie in der Küche alles auf- und weggeräumt hat, was zum Backen benötigt war, und der Geschirrspüler läuft, lässt sie sich auf den Küchenstuhl sinken. In Gedanken ist sie bei dem Gespräch, welches sie vorhin mit ihren Kindern geführt hat.

Den Kopf in die Hände gestützt, stellt sie sich die Frage: „War ich etwa doch zu streng?“ Je länger sie darüber nachdenkt, je mehr kommt sie zu dem Entschluss, dass ihre Kinder noch klein sind und dass sie unbedingt mit ihnen sprechen muss. Jutta springt auf und will gerade die Küche verlassen, da geht die Haustür auf und ihr Mann kommt rein.

„Tag, Schatz, alles klar? Ich bin echt geschafft, war heute verdammt anstrengend bei der Arbeit. Du warst auch fleißig, ich rieche Kuchen.“ Schon ist er in der Küche verschwunden. Er guckt in den Backofen und will wissen: „Lecker, Stollen! Mit Marzipan?“

Jutta muss lachen. „Na klar! Ich weiß doch, dass die Kinder und du gern Marzipan mögt. Apropos Kinder …“ Sie schluckt. „Ich muss dir was sagen. Bestimmt ist mir ein Fehler unterlaufen und ich habe mit meinen Äußerungen Pia und Maik unglücklich gemacht.“

„Was ist denn vorgefallen? Setz dich, erzähle, was passiert ist.“

Nun sprudelt aus Jutta heraus, was sie ihren Kindern gesagt hat und dass beide seitdem in Maiks Kinderzimmer verschwunden sind.

„Du hörst es ja selbst! Ach nee, das ist es ja gerade, man hört keinen einzigen Mucks. Ich mache mir wirklich Vorwürfe!“

Klaus steht auf, geht zu seiner Frau, nimmt sie in den Arm und versucht sie zu trösten. „Mensch, Jutta, mach dir nicht solche Gedanken. Komm, wir gehen jetzt zu den beiden und reden mit den Lütten. Ganz in Ruhe. Auf geht’s!“ Er zieht sie vom Küchenstuhl hoch, dann gehen beide zu Maiks Kinderzimmer. Sie lauschen an der Tür. Es ist nur ein leises Flüstern zu hören. Kein Zanken, kein Toben …

Lautlos drückt Klaus die Türklinke runter. Im Kinderzimmer ist es fast dunkel. Der Fensterrollladen ist runtergezogen. So weit, dass nur die oberen Schlitze etwas Licht ins Zimmer dringen lassen. Sprachlos und irritiert sehen sich Jutta und Klaus an. Doch was sie dann hören und in der Dämmerung schemenhaft sehen können, treibt ihnen Tränen in die Augen und Jutta bekommt vor Rührung eine Gänsehaut.

Eng aneinandergekuschelt sitzen Maik und Pia auf der Bettkante und Maik hat seinen Arm um die Schultern seiner kleinen Schwester gelegt. „Maiki, was meinst du, wenn ich jetzt ganz fest meine Augen zumache, bete und mir wünsche, dass der Weihnachtsmann zu uns kommt, ob der das hört? Ich kann doch nicht schreiben und malen kann ich nicht gut. Und Mama hat gesagt, man kann auch beten! Soll ich das mal machen?“

„Können wir ja versuchen. Wir machen unsere Augen zu und dann wünschen wir uns ins Weihnachtswunderland. Vielleicht treffen wir da den Weihnachtsmann und das Christkind. Und wenn wir die sehen, dann sagen wir ihnen einfach, was wir uns zu Weihnachten wünschen. Pass auf, Pia, bei drei geht’s los, dann machen wir die Augen zu. Du wünschst dir zuerst was, wenn du den Weihnachtsmann siehst. Okay?“, will Maik wissen.

„Hmm, okay, aber ich habe Angst, Maiki.“

„Brauchste nicht, bin doch bei dir. Also: eins, zwei, zweieinhalb, zweidreiviertel, drei! Augen zu!“

Ruhe.

Weder Maik noch Pia sagen ein Wort. Jutta klopft das Herz bis zum Hals. Sie kann kaum glauben, was dort passiert, denn auf einmal hört sie Pia sagen: „Ja, ich bin Pia Krüger, Weihnachtsmann. Ich habe vergessen, einen Wunschzettel abzugeben. Mama hat gesagt, dann kriege ich kein Geschenk von dir. Aber ich möchte doch so gerne was haben. Eine neue Puppe wünsche ich mir. Eine Barbie mit einem Pferdchen und einem Stall. Und wenn du noch Geld hast, möchte ich auch was zu naschen. Lieber Weihnachtsmann, bitte bring mir doch Geschenke, ich wünsche mir so sehr welche von dir! Ich will auch lieb sein, versprochen. Soll ich dir mal was sagen, Weihnachtsmann? Schön sieht es hier im Weihnachtswunderland aus, richtig gut!“

Die Eltern von Maik und Pia stehen wie angewurzelt da und können nicht fassen, was im Kinderzimmer vor sich geht. Pia kullern Tränen übers Gesicht und sie merkt, dass ihr Mann ebenfalls schlucken muss.

„Biste fertig, Pia?“

„Ja, bin ich!“

„Hallo Weihnachtsmann, ich heiße Maik Krüger und bin der große Bruder von Pia Krüger. Ich habe auch vergessen, einen Wunschzettel zu schreiben. Aber richtig schreiben kann ich sowieso nicht. Was sagst du? Malen? Also, wenn ich was male, sieht das doof aus. Mutti ist sauer, weil ich keinen Wunschzettel gemacht habe. Du auch? Wenn du nicht böse bist, wäre es richtig toll. Weihnachtsmann, ich wünsche mir von dir einen richtigen Weck-Wecker! Weißt du, so einen, der mich weckt, damit ich immer pünktlich aufstehe. Komme doch bald in die Schule. Und dann wünsche ich mir einen großen Legokasten, und wenn’s geht noch einen Schulranzen. Einen blauen – mit Ab- und Anmachklebesticker. So einer wäre echt geil. Kommst du nun zu uns, lieber Weihnachtsmann? Bitte, bitte! Oh, Christkind, du siehst aber schön aus. Huch, wo seid ihr denn? Ich kann euch ja gar nicht mehr sehen …“

„Maiki, ist der Weihnachtsmann weg? Hast du das Christkind gesehen?“

Jutta und Klaus halten es nicht mehr aus. Sie öffnen die Tür. Nun scheint das helle Tageslicht vom Flur aus ins Kinderzimmer. Klaus geht zum Fenster und zieht den Rollladen hoch, während sich Jutta zu ihren Kindern aufs Bett setzt.

Die Kinder gucken ihre Mutter mit großen Augen an, bevor es aus Maik heraussprudelt: „Mutti, Papa, wir waren im Weihnachtswunderland! Da war der Weihnachtsmann. Und ich habe das Christkind gesehen. Wir haben dem Weihnachtsmann erzählt, was wir uns zu Weihnachten wünschen. Der war ganz lieb und böse ist er auch nicht.“

„Stimmt“, ruft Pia, „der war ganz doll nett! Und er hat gesagt, dass er Heiligabend Geschenke zu uns bringt. Siehste, Vati, unser Gebet hat geholfen.“

Überglücklich schließen Jutta und Klaus ihre Kinder in die Arme. Es bedarf keiner Erklärungen mehr. Ein Besuch im Reich der Träume – im Weihnachtswunderland – hat Pia und Maik wieder glücklich gemacht.

Barbara Acksteiner, Jahrgang 1946, wohnt in Bad Harzburg und schreibt für ihr Leben gerne Kurzgeschichten und verfasst Gedichte. Ein weiteres Hobby ist das Fotografieren. Auch hier ist sie sehr kreativ. Einige ihrer Texte wurden in verschiedenen Anthologien veröffentlicht. Ferner beteiligt sie sich gerne an den privat durchgeführten Ausschreibungen der InEsAnthologien.