Das Lachen des Schmetterlings

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Das Lachen des Schmetterlings
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Das Lachen des Schmetterlings

Martina Meier (Hrsg.)


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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

© 2020 Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM

Titelbild: © Oleksandr Dibrova - Adobe Stock lizenziert

ISBN: 978-3-86196-610-4 Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-291-3 E-Book

Besuchen Sie uns im Internet.

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Inhalt

Vorwort

Spuk in der Scheune

Herbststurm

Das Geheimnis des Bergmonsters

Kathi und die Königin

Beste Freundin

Blaue Augen

Nur eine Minute

Schatzfieber

Auch Mädchen

Das Schäfchen auf der Alm

Das Lachen des Schmetterlings

Omas neues Kaugestell

Endlich Freitag

Zeit

Grenzen überwinden

Das Monster im Mülleimer

Im Wald

Fridolin –

Ella feiert Hochzeit

Wie es zu den Noten kam

Bundesjugendspiele, hurra!

Ein Spaziergang

Als Tom seinen Schwestern

Friedas Heimkehr

James

Wo ist Mia?

Die Schneeflocke

Als Paul zu den Eulen ging

Die Wahrheit

Mr Morris

Knollerich auf Reisen

Anna und Gesa

Wie mutig sind die Tiere?

Peter kriegt Besuch

Wackelpeter

Ihre Ideen für ein Buchprojekt

Nachwort

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Vorwort

Seit mehr als zehn Jahren schreibt Papierfresserchens MTM-Verlag Anthologieprojekte für erwachsene Autorinnen und Autoren aus. Hunderte Geschichten haben wir so zusammengetragen, die im Laufe der Jahre die Herzen von Kindern und Erwachsenen erobert haben.

Besondere Meilensteine dabei waren sicherlich unsere Wünsch-dich-ins-Wunder-Weihnachtsland-Anthologien, in dieser Reihe sind bereits zehn Bücher erschienen, sowie unsere Osterbücher, von denen es immerhin bereits vier Ausgaben gibt.

Mein persönliches Lieblingsbuch aus dem Reigen unserer Anthologie-Veröffentlichungen aber ist das Buch Nassbert, der Wannenwichtel – Geschichten in und aus der Badewanne. Und auch das Werk Auf den Kern gebracht – Erzählungen und Gedichte rund um der Deutschen liebstes Obst, den Apfel, hat auch Jahre nach seiner Veröffentlichung für mich noch immer einen ganz besonderen Reiz.

Unsere Anthologiebände aber sind seit Jahren mehr als nur unterhaltsame Lektüre. Erst vor wenigen Tagen wurde eine Studie veröffentlicht, in der die mangelnde Lesekompetenz von Viertklässlern angesprochen wurde. Viele unserer Kurzgeschichten-Bände richten sich genau an diese Zielgruppe – Kinder im Vorschul- und Grundschulalter – und werden oft genug von den beteiligten Autorinnen und Autoren auch in Schulen und Kindergärten vorgelesen, sind somit stets ein aktiver Beitrag zum Thema Leseförderung.

Wir haben so viele positive Reaktionen auf unsere Ausschreibungen erhalten, dass wir sie auch in Zukunft anbieten werden. Informationen über aktuelle Ausschreibungen gibt es auf unserer Internetseite papierfresserchen. de. Dort ist gerade ein neues Buchprojekt hinterlegt worden, das sich mit dem Tod eines geliebten Tieres beschäftigen wird. Sie sehen, wir gehen immer wieder auch „schwierige“ Themen an – Themen, die weit weg vom Mainstream und den Glitzer- und Prinzessinnen-Büchern anderer Verlage sind, Themen, die oft genug bei anderen Verlagen kein Gehör finden.

Nicht zuletzt sind aus unseren Anthologieprojekten im Laufe der Jahre aber auch echte Talente hervorgegangen – Autorinnen und Autoren jedes Alters, die später selbst ein eigenes Buch geschrieben und mit diesen Büchern wiederum junge Leser in ihren Bann gezogen haben. Autorinnen und Autoren, die mit uns ihre ersten Schritte in der literarischen Welt gewagt haben.

Nicht zuletzt wurde das Papierfresserchen bereits 2009 für seine Arbeit mit jungen Autoren von der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft im Rahmen der Initiative Land der Ideen ausgezeichnet. Die Urkunde, unterzeichnet vom ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, ziert noch heute die Verlagsredaktion. Darauf sind wir mächtig stolz.

An dieser Stelle möchten wir vom Verlag uns bei allen bedanken, die über die vielen Jahre zum Gelingen der Anthologieprojekte beigetragen haben. Wir freuen uns auch in Zukunft auf tolle Märchen, Kurzgeschichten, Gedichte und Bilder aus der Feder begabter und mutiger Autorinnen und Autoren.

In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern dieses Bandes viel Freude mit einzigartigen und ganz besonderen Geschichten, die uns jeden Tag vor Augen führen, wie viele talentierte Menschen darauf warten, ihre kreative Chance zu erhalten.

Martina Meier

Verlegerin

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Spuk in der Scheune

Die beiden Freunde Ben und Sam verbringen ihre Ferien auf einem Bauernhof. An einem Wochenende wollen sie unbedingt in der Scheune des Bauernhofes übernachten. Der Bauer weist den beiden Jungen einen Schlafplatz auf dem Heuboden zu. Über Nacht lässt er für sie eine kleine, alte, verdreckte Stall-lampe schwach brennen. Ermüdet von den Highlights des Tages (dem anstrengenden Stallmisten, aufregenden Ponyreiten sowie urigen Grillabend) schlafen Benny und Sammy bald ein.

Mitten in der unheimlichen Dunkelheit und Stille der Nacht wird Sam plötzlich von seinem Freund wachgerüttelt. Ben deutet lautlos mit seinem rechten ausgestreckten Arm und seinem Zeigefinger auf die große Scheunentür, die sich bewegt. Die Jungen starren gespannt dorthin. Langsam geht die Tür auf. Sie spüren einen Luftzug und Ben beginnt, am ganzen Körper zu zittern.

Sam bekommt einen Schweißausbruch. „Was ist das?“, fragt er erschrocken und erschaudert.

Ben flüstert ängstlich: „Wir dürfen nicht laut sprechen.“

Auf einmal heult und pfeift es. Dann knallt die schwere Tür zu. Bens und Sams Herzen schlagen immer schneller.

„Hier spukt es!“, ruft Ben entsetzt.

Die beiden Jungen verkriechen und verstecken sich verängstigt in ihren Schlafsäcken. Doch dann wird Sam klar, dass es der Wind gewesen sein muss. Er überredet Ben, aus dem Schlafsack herauszukommen. Sie wollen nun die große und schwere Scheunentür fest zumachen.

 

Als sie vom Heuboden über die Leiter hinabsteigen wollen, bewegt sich unten in der Scheune plötzlich der Überrest eines alten Heuballens. Es raschelt und klappert etwas.

Ben schreit auf: „Lass uns wegrennen! Ich halte das nicht mehr aus! Das ist ein Gespenst!“

Voller Angst vor dem Gespenst klettern die beiden Buben die Holzleiter zum Heuboden wieder hoch. Sam ist vor Ben oben. Als Ben die drittletzte Sprosse erreicht, bricht sie. Sam schafft es gerade noch so, seinen Freund festzuhalten. Als auch Ben endlich oben ist, fällt die Leiter um.

„Das ist ja wirklich ein Gespenst. Irgendein Fluch muss über dieser Scheune liegen“, spricht Sam.

„Jetzt können wir gar nicht mehr weg von hier“, entgegnet der stark verängstigte und zitternde Ben mit gebrochener Stimme.

Die Jungs schlüpfen wieder in ihre Schlafsäcke und verkriechen sich darin. Ihnen läuft ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. „Hoffentlich entdeckt uns das Gespenst nicht“, denkt Ben.

Auf einmal läuft etwas über Sam hinweg. Eigentlich ist es nur eine harmlose schwarze Spinne. Aber Sam ist vollends außer sich. „Hilfe! Hilfe!“, schreit er. „Etwas ist über mich gelaufen!“

Vor lauter Panik springen Benny und Sammy mit einem Satz aus ihren Schlafsäcken heraus und beginnen loszurennen. Dann fällt ihnen jedoch ein, dass die Leiter umgefallen ist ... Vor Schreck wären sie fast vom Heuboden gefallen. Benny und Sammy schreien, so laut sie nur können.

Plötzlich geht die Scheunentür zum wiederholten Mal auf. Diesmal bekommen die beiden Buben solch eine Angst, dass ihnen beinah ihre Herzen aus der Brust springen. Als das Licht einer großen, alten Lampe angeht, sehen sie, dass der Bauer in der Tür steht. Erleichtert atmen Benny und Sammy auf. Auf einen Schlag weicht ihre ganze Angst. Der vermeintliche Spuk in der Scheune scheint endlich vorbei zu sein.

Aber als der Bauer gerade die Leiter wieder aufstellen will, bewegt sich auf einmal unten in der Gerümpelecke der Scheune wieder der alte Heuballen. Sofort geht der Bauer dorthin und hebt den Ballen hoch. Siehe da! Es sind drei kleine Mäuschen, die unter dem Heuballen spielen. Nun wissen alle, wer das Gespenst gewesen ist ... und fangen an zu lachen.

Juliane Barth, Pseudonym: Sacrydecs, Jg. 1982, lebt im Südwesten Deutschlands. Schreibt als Hobby seit jeher sehr gerne, insbesondere Sachtexte und Lyrik. Widmet sich bevorzugt gesellschaftskritischen Themen. Veröffentlichungen in Anthologien.

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Herbststurm

Es weht ein kräftiger Wind. Emma, erhitzt vom Kuchenbacken, steht mit geröteten Wangen auf der Veranda des Hauses und betrachtet den Garten. Im letzten Licht des Tages wiegen sich die Bäume am Ende der Rasenfläche wie tanzende Wesen. Ihre harmonischen Bewegungen werden immer wieder durchbrochen von Böen, die den Blätterwald nach allen Seiten auseinanderstieben lassen. Die Luft schmeckt nach Frühling, kein bisschen nach der Jahreszeit, die vor der Tür steht. Den Kopf in den Nacken gelegt, verfolgt Emma die dunklen Wolken, die über sie hinwegjagen, zwischendurch den Blick auf den kugelrunden Mond und den noch hellen Himmel freigeben. Ein bisschen weniger Wind, denkt sie, wäre besser für ihr Unterfangen.

Selbst die Scharen von Krähen, die sonst den benachbarten Kirchturm umkreisen, haben sich bei dem Wetter versteckt. Ihr kleiner Bruder Max ängstigt sich vor den schwarzen Vögeln. Leider hat er vor vielen Dingen Angst. Aber seit sie vor einem halben Jahr aus Berlin aufs Land gezogen sind, haben sich seine Angstgefühle extrem verstärkt.

Ein schönes Haus mit einem riesigen Grundstück haben sie hier. Ziergarten, Gemüsebeete, eine Streuobstwiese, alte Bäume, ein richtiger kleiner Wald gehören dazu. Und die Wildnis. Das ist der Teil hinter dem Wäldchen: Hier wächst das Gras hüft-hoch, im Sommer schmuggeln sich Mohn, Kornblumen und andere Feldblumen hinein. Holunder, dessen Blüten im Juni ihren süßen Duft verströmten und sich mittlerweile zu Fliederbeeren verwandelt haben, hat eine ganze Ecke des Gartens erobert.

In den Augen der Erwachsenen ein Paradies für Kinder. Emma hat dort im Frühjahr in einer Pfütze Kaulquappen gefunden, gestern ist ihr eine Igelfamilie über den Weg gelaufen, manchmal sieht sie den Fuchs.

Aber in der Wildnis gibt es auch den anderen Streifen, der an die Mauer grenzt. Dahinter liegt der Kirchhof, genau genommen ist es der Friedhof mit seinen alten, windschiefen Grabsteinen. Vielleicht ist das der Grund, weswegen einer der Vorbesitzer ihres Hauses dort, in unmittelbarer Nähe zu den toten Menschen, seine Hunde beerdigt hat. Zwölf kleine Grabsteine erinnern an Rex, Lilli und die anderen. Diese Tatsache hat ihrem Haus den Beinamen Gräberhaus eingebracht.

Kugelrunde Augen, aus denen pure Angst sprach, bekam Max, als er zum ersten Mal davon hörte. Da die Kinder in der Schule schnell begriffen, dass der Neue, der Außenseiter, ein Angsthase ist, liefern sie ihm tagtäglich Gruselgeschichten über die Gräber. Max lässt sich von seinen Ängsten gefangen nehmen, geht nicht mehr alleine in den Garten und ist häufig bedrückt.

In jeder Vollmondnacht erwachen die toten Hunde zum Leben und spuken, haben die Kinder Max eingebläut. Heute will Emma Max etwas klarmachen – sie will es ihm zeigen: Die Erzählungen sind nichts als blanker Unsinn.

Sie schreckt zusammen. Über ihr ist ein Fensterladen gegen die Hauswand geknallt. Er hat sich aus seiner Befestigung gerissen, sieht Emma. Der Sturm wird stärker, in der Luft liegt ein gewaltiges Rauschen. Im Haus fällt eine Tür mit lautem Krachen ins Schloss, der Wind heult, der Fensterladen schlägt unrhythmisch gegen die Wand. Emma eilt ins Haus zur Treppe, nimmt zwei Stufen auf einmal. Im elterlichen Schlafzimmer öffnet sie das Fenster, um den Fensterladen zu befestigen. Wie eine Flutwelle stemmt der Sturm sich ihr entgegen.

Seelenruhig liegt Max in seinem Zimmer auf dem Bett, die großen Kopfhörer über die Ohren gezogen, die Welt ausgesperrt. Mit den schwarzen Kopfhörern erinnert er Emma an Micky Maus. Micky Maus im Batman-Schlafanzug.

Maxʼ entspannter Gesichtsausdruck verschwindet, als er Emma bemerkt. Schlagartig beginnt seine Unterlippe zu zittern, als bräche er jeden Moment in Tränen aus. Aber auf seinen Gefühlszustand kann Emma jetzt keine Rücksicht nehmen. Heute Abend bietet sich die einmalige Gelegenheit: Es ist Vollmond und ihre Eltern, die von Emmas Mutproben für Max nichts halten, sind nicht zu Hause.

Äußerst widerwillig steigt Max vom Bett, zieht die Kopfhörer ab. „Müssen wir das wirklich machen?“, fragt er sogleich wieder wie schon unzählige Male zuvor. Emma nickt energisch.

Max beginnt sich im Schneckentempo anzuziehen. Als nur noch die Socken fehlen, läuft Emma in ihr Zimmer. Alles ist vorbereitet. Sie holt zwei Taschenlampen und ihre Jacke mit dem Pfefferspray. Sie ist für alles gerüstet.

Fünf Minuten später stehen sie im Freien auf der Terrasse. Inzwischen ist es nahezu dunkel. „Dann los!“, gibt Emma den Startschuss und knipst die Taschenlampe an. Max tut es ihr nach.

Langsam gehen sie über den kurz geschorenen Rasen. Max lässt den Lichtstrahl seiner Lampe wie ein Leuchtturmsignal um sie herumkreisen. Emma erzählt ihm von seiner Belohnung, dem warmen Apfelkuchen, der in der Küche wartet. Sie erinnert sich mit ihm an die warmen Frühsommertage, als sie zusammen eine Höhle im hinteren Teil des Gartens gebaut und mit einer Piratenflagge geschmückt haben. Das war, bevor diese Erzählungen anfingen, als Max noch alleine durch den Garten stromerte, über dem Spiel die Zeit vergaß.

Am Ende des Ziergartens halten sie einen Moment inne. Bis zu den Gräbern sind es achtzig Schritte, hat Emma mehrere Male gezählt, erst unter den Bäumen hindurch, danach durch die Wildnis. Sie macht den ersten Schritt. Einen Atemzug lang zögert Max, dann stapft er hinter ihr her. Emma hört ihn im Laub rascheln. Der Sturm hat die ersten Blätter von den Bäumen gezerrt. Buntes Laub tanzt um ihre Beine, wirbelt von allen Seiten – Emma fühlt sich wie in einer Schneekugel aus Laub.

Noch achtundsechzig Schritte.

An windstillen Tagen bietet das dichte Blätterdach die Geborgenheit einer Höhle. Heute fahren die Böen wie heranrollende Wellen durch die Bäume, verwandeln das sonst anheimelnde Rauschen der Blätter in ein wildes Toben. Eicheln, Bucheckern, Kastanien klackern wie Geschosse herab.

Max packt Emmas Hand. Noch einundfünfzig Schritte.

Überall bewegt sich etwas, die Nacht ist lebendig wie nie. Sind es Tiere, die durch die aufgewühlte Natur huschen?

Im Schein der Taschenlampen tasten Emma und Max sich vorwärts, die Lichtkegel fangen die ersten Grabsteine ein. Einer der Steine ist umgestürzt. Aufgeregt deutet Max darauf. Emmas Hand umschließt seine fester. In Max kocht das Adrenalin bis unter die Haarwurzeln hoch. Zusammen nähern sie sich dem Stein. Max fuhrwerkt mit der Taschenlampe herum, als trüge er ein unsichtbares Gefecht aus.

Sehr genau leuchtet Emma die Umgebung des Grabsteins ab, Max schaut ihr zu. Nichts, kein Wesen, nicht der kleinste Wurm, geschweige denn ein Hund lässt sich blicken. Aber sie sehen, wer hier war. Ein Maulwurf. Das erkennt auch Max, dessen Finger sich jetzt nicht mehr um ihre Hand verkrampfen. Einen Steinwurf von ihnen entfernt knattert die verwaiste Piratenfahne im Wind. Sie haben genug gesehen, beschließt Emma und will den Rückzug antreten.

Urplötzlich registriert sie ein Geräusch, das sich von dem Rauschen des Sturmes abhebt. Ein leises Winseln, fast ein Jammern. Sehr schnell steigt es zu einem Geheul an, das sich nicht einordnen lässt. Irgendwie nach gequälter Kreatur klingt.

Oder wie nicht von dieser Welt.

Emma merkt, wie es ihr kalt den Rücken hinabläuft.

Mit schreckgeweiteten Augen starrt Max Emma an, seine Hände liegen wie Schraubstöcke um ihre Handgelenke. Beide stehen sie zu Salzsäulen erstarrt da, lauschen diesem gräulichen Ton, der jetzt in wechselnder Lautstärke zu ihnen dringt.

Sekunden später gewinnt Emmas Verstand wieder die Oberhand. Sie schleift Max in die Richtung, aus der das Jaulen kommt. Nur auf Zehenspitzen kann sie über die Friedhofsmauer spähen. Sie leuchtet mit der Taschenlampe. Mit einem Schreckensschrei stürzt eine Handvoll Kinder davon, zwischen sich die schwanzwedelnde Dogge von Familie Schmidt, direkt in die Arme einer Gestalt, die sich nun aus der Dunkelheit löst.

Emma schwenkt mit der Taschenlampe dorthin. Die Person wehrt den Lichtstrahl mit der Hand ab, trotzdem kann Emma erkennen, wer es ist: Der Junge, der ab und zu in der Bäckerei arbeitet. Einer der wenigen aus dem Dorf, der sie freundlich grüßt und anlächelt.

Als Nächstes bekommt sie mit, wie er mit den Kindern schimpft. Mit hängenden Köpfen lassen sie die Standpauke über sich ergehen. Offenbar genießt der Ältere Respekt.

Das muss sie Max zeigen. Emma hebt ihren Bruder hoch, damit er über die Mauer sehen kann. Dessen Augen weiten sich, dieses Mal ist es die Überraschung, die ihm ins Gesicht geschrieben steht. Erleichterung gesellt sich hinzu, ein Funken Mut, denn Max traut sich, die versammelte kleine Gruppe mit der Taschenlampe anzuleuchten.

Als Emma ihn wieder herunterlässt und er fest auf dem Boden steht, schlingt er die Arme um ihre Taille und schmiegt sich an sie. Emma hält ihren kleinen Bruder einfach nur fest.

„Gut, dass wir das gemacht haben“, hört sie ihn in ihre Jacke murmeln.

„Emma!“ Ein Ruf dringt von der anderen Seite der Mauer zu ihr. Sie lässt die Taschenlampe einmal aufblitzen, nur um sich zu vergewissern, die Stimme gehört zu dem Jungen aus der Bäckerei. „Es tut mir leid. Die Jungs haben nichts als Dummheiten im Kopf. Sie wollten Max erschrecken, aber sie werden sich morgen bei ihm entschuldigen.“

Unzählige Gedanken schießen Emma gleichzeitig durch den Kopf: Sie weiß nicht, wie er heißt. Vielleicht kann er Max eine Brücke bauen. Er ist nett. Woher kennt er ihre Namen? Und der nächste Gedanke plumpst in ihr Hirn: „Das ist die Gelegenheit!“

„Ich habe Kuchen gebacken. Wollt ihr zu uns kommen?“, sprudelt es aus Emma heraus, ehe sie der Mut verlässt. Mit klopfendem Herzen blickt sie über die Mauer, ohne etwas in der Dunkelheit erkennen zu können.

„Gute Idee“, hört sie nach einer gefühlten Ewigkeit. Das Lächeln, das seine Mundwinkel umspielt und das sich ihr von seinen Begrüßungen eingeprägt hat, kann sie spüren. „Ich heiße übrigens Philipp.“ Philipp!

 

Emma nimmt Max an die Hand. Während sie zurück zum Haus spazieren, hüpft er neben ihr her, lässt bald ihre Hand los und rennt mit weit ausgebreiteten Armen durch den Herbststurm.

Bettina Schneider, 1968 in Berlin geboren, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit. Sie schreibt Kurzgeschichten und Erzählungen, einige davon sind veröffentlicht. Hobbys: Lesen, Schreiben, Tagebuchschreiben, Spaziergänge und Joggen.