Schwein gehabt

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Schwein gehabt

Geschichten vom Glück für kleine und große Leute

Martina Meier (Hrsg.)


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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchausgabe erschienen 2020.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM

Coverbild © Walburga Wedig

ISBN: 978-3-96074-312-5 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-337-8 - E-Book

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Inhalt

Vom kleinen und vom großen Glück

War das Glück?

In der Kathedrale

Ein himmlisches Happy-End

Klick!

Der Igel Igor

Der Teddybär

Das Märchen vom Ferkel und der Maus

Glas

Maggi und Marlena

Die Reise ins ewige Glück

Jan kommt neu in die Schule

Vor Leichtigkeit springen

Das Ungeheuer im Wald

Glückliche Kindheit

Sechs Richtige

Käferchen, flieg!

Schwein gehabt

Das Märchen vom schwarzen Schaf

Die Suche des Glücks

Das Schnüffelschwein

Echt Schwein gehabt

Gerds Alter

Unglückstag und etwas Positives

Spaghetti mit Sauce

Unverhofftes Glück

Eberhardt

Barfuß durch den Regen

Turmfalke Fridolin hat keine Angst vorm Fliegen

Unverschämt schön

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Vom kleinen und vom großen Glück

Ein ohrenbetäubend großer Knall erschütterte die Welt, so laut, dass die Menschen das Luftholen vergaßen. Und jeder befürchtete, seine letzte Stunde hätte geschlagen. „Ist das jetzt der Weltuntergang?“, hörte man die Menschen tuscheln, den Schock in allen Gliedern und mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Denn etwas Unglaubliches war geschehen: Die Welt stand plötzlich still! Nichts rührte sich mehr. Und das kam so:

Schon seit geraumer Zeit war die Welt in ein großes Ungleichgewicht geraten. Anfangs war es für die Bewohner des Erdballs noch gar nicht zu spüren. Nur der weise Beobachter aus dem All war durch seine besondere Perspektive imstande, zu bemerken, dass sich alles, was sich auf der Erde befand, ganz leicht um eine winzige Nuance in eine Richtung bog, als wollte es seine Form verlassen. Noch hatte es keine Auswirkungen. Doch jedermann wusste, dass ein Ungleichgewicht, und sei es noch so geringfügig, Schlimmes nach sich ziehen konnte.

Wer sich mit der Menschheit beschäftigte, hatte längst erkannt, dass der Größenwahnsinn von Tag zu Tag mehr Verbreitung fand. Die Menschen waren ständig auf der Suche nach dem großen Glück, der großen Liebe, dem großen Abenteuer und dem großen Geld. Nur das Großartige war erstrebenswert. Und wenn sie es mit viel Anstrengung erreicht hatten, verlor es schon in der nächsten Sekunde seinen Wert. Es sickerte blitzschnell durch sie hindurch und fand keine Erde, in der es Wurzeln schlagen konnte.

Es gab nur noch Großstädte auf der großen weiten Welt. Man lebte in großen Häusern, fuhr große Autos, aß mit großen Löffeln von großen Tellern, trug großmaschige Pullover und viel zu große Hosen. Man starrte in große Fernseher, lebte großspurig auf großem Fuß, wollte sich um jeden Preis großmäulig über seine Mitmenschen erheben und unternahm eine große Reise nach der anderen. Jeder hatte Großes mit seinem Leben vor. Nur seine Kinder wollte niemand mehr selbst großziehen.

Unter dieser misslichen Lage hatte das kleine Glück wohl am meisten zu leiden. Die hagere, zerrupfte Erscheinung, die längst ihr kraftvolles Grün verloren hatte, hockte zusammengekauert in der hintersten Ecke ihres Unterschlupfes in Glückesgenug. Der Pilgerstätte für Glücksuchende auf dem höchsten Gipfel der größten Gebirgskette der Welt.

Mit schütterem Haar und welker Haut war es mächtig ins Grübeln geraten. Gepeinigt von existenziellen Sorgen, die von Tag zu Tag größer und unerträglicher wurden.

„Niemand beachtet mich“, klagte das kleine Glück. Sein Schluchzen war bis ins Weltall zu hören. Die permanente Missachtung ließ es schon seit einiger Zeit mehr und mehr schrumpfen, sodass es nun in der Gefahr schwebte, sich ganz und gar aufzulösen.

Die Lage war bitterernst. Denn aus wissenschaftlichen Berechnungen wusste man, dass die komplette Zerstörung des kleinen Glückes zum Untergang der Menschheit führen würde. Auch wenn es – dem Himmel sei Dank – noch nie so weit gekommen war.

Somit stand fest: Das kleine Glück musste auf irgendeine Weise sich selbst und damit die Welt retten. Nur wie?

„Vielleicht könnte ich das große Glück um Hilfe bitten!“, überlegte das kleine Glück. Bisher hatte es ein Zusammentreffen, wenn es sich nur irgendwie einrichten ließ, vermieden. Schließlich war es sein größter Konkurrent. Doch es ging um Leben und Tod. Deshalb sprang es über seinen Schatten und machte sich mit letzter Kraft auf den Weg zum großen Glück.

Schon von ferne konnte es die Menschenmassen riechen, die sich vor der Behausung des großen Glückes versammelt hatten. Nicht ohne Neid gestand es sich ein, dass es seines Wissens niemanden sonst gab, dem ein derartiges Begehren entgegengebracht wurde. Stechend roch es nach Gier und Angst, nach Oberflächlichkeit und Traurigkeit.

Das große Glück war eine stattliche Person mit vollem krausem Haar und einem Bart bis zu den Knien. Sein kräftiges Grün leuchtete bis ans Ende der Welt und seine Haut war beneidenswert glatt. Es strotzte vor Gesundheit und guter Laune. Doch sosehr es nach außen hin strahlte, sein Inneres war dunkel und leer. Die Menschen hatten es in einen goldenen Käfig gesperrt, da sie es für immer festhalten wollten. Sie fütterten es mit Köstlichkeiten, um es bei Laune zu halten, hegten und pflegten es. Jedermann wollte es um jeden Preis besitzen und nie wieder verlieren.

Für einen kurzen Moment konnte das kleine Glück in seine tieftraurigen grünen Augen sehen. „Tauschen möchte ich nicht mit ihm“, dachte es fast ein wenig mitleidig. Denn es bekam eine Ahnung von der großen Einsamkeit, die in seinem Herzen wohnte.

Das große Glück litt wie ein Hund darunter, dass die Menschen nie genug von ihm bekamen, es ausnutzten und aussaugten.

„Wie lange soll es derartig hohen Erwartungen noch standhalten?“, sprach das kleine Glück nachdenklich zu sich selbst, nichts Gutes ahnend.

Umso wichtiger wurde es, blitzschnell zu handeln. So stellte sich die Frage, was es anstellen müsste, um die riesige Menschenmenge von dem großen Glück im goldenen Käfig wegzulocken, damit sie auf ihn, das kleine Glück, aufmerksam wurde.

„Vielleicht sollte ich die Luft aus ihren Luftmatratzen lassen!“, grübelte es. „Oder ihre großen Autos mit Wüstensand betanken.“ Es überlegte angestrengt hin und her, machte Faxen, einen Kopfstand, sang aus voller Kehle schräge Melodien, warf mit Kokosnüssen, tobte und polterte. Und als es fast schon ein wenig verärgert und mit meisterlich großem Kraftaufwand begann, die Wolkenkratzer vor die Sonne zu schieben, um sie alle in den Schatten zu stellen, da geschah es: Das große Glück hielt sein unerträglich großes Leid nicht mehr aus und platzte.

 

Und damit wären wir wieder am Anfang der Geschichte. Denn genau dieser unvorstellbar große Knall war es, der die Welt zum Stillstand brachte.

Das kleine Glück war bestürzt und machte vor Schreck einen Sprung in die Luft. Dass eine Katastrophe nahte, ahnte es ja seit Langem. Aber dass sie ein solches Ausmaß annehmen würde, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Nachdem es eine Weile scharf nachgedacht hatte, schoss ihm plötzlich eine Lösung in den Kopf.

Entschlossen rannte es los. „Die Glücksritter!“, keuchte es. „Jetzt können nur noch die Glücksritter helfen.“ Sie lebten im Niemandsland am Fuße des Berges, abgeschottet vom Rest der Welt, waren etwas verrückt und selbstverliebt. Man sagte ihnen übermenschliche Kräfte nach, was den Menschen ein wenig Unbehagen bereitete, und sie gaben sich nicht sonderlich gerne mit ihnen ab.

In dieser besonderen Not war es jedoch vertretbar, sie in ihrer überirdischen Idylle zu stören, fand das kleine Glück. Schließlich waren sie ebenfalls vom Stillstand der Welt betroffen. Auch wenn es ihnen noch gar nicht aufgefallen war, da sie ohne Unterlass mit sich selbst beschäftigt waren.

Die Glücksritter sattelten ihre stolzen Pferde und machten sich sofort auf den Weg zur mittigsten Mitte der Erde. Nur sie wussten, dass sich dort in der Tiefe ein goldener Hebel befand. Mit sehr viel Kraft, über die sie ja verfügten, konnte man ihn betätigen, und im Nu fing die Welt wieder an, sich zu drehen.

Alle Erdbewohner atmeten erleichtert auf und waren zutiefst dankbar. Das Unheil war abgewendet, und das Leben konnte wieder von vorne beginnen. Die Glücksritter kehrten heim ins Niemandsland mit einem sonderbar verschmitzten Lächeln im Gesicht. Und nur das kleine Glück bemerkte die kleine, aber weittragende Veränderung. Fast kam es ihm vor, als würde sich die Welt ein kleines bisschen langsamer drehen als zuvor. Denn die Menschen, die sich in Zeitlupe bewegten, hatten plötzlich viel mehr Zeit, das kleine Glück zu beachten. Das war ganz wunderbar! Es konnte wachsen und gedeihen. Und da die Menschen dem kleinen Glück von nun an nahezu täglich begegneten, kamen sie auch mal eine Weile ohne es aus. Und das war gut, denn in dieser Zeit machte es Urlaub bei den Glücksrittern, um einmal so richtig durchzuschnaufen.

Claudia Lüer, 1970 im niedersächsischen Braunschweig geboren, brachte als Förderschullehrerin schon vielen Kindern das Lesen und Schreiben bei. Sie liebt schöne Musik, das Meer, Sommerabende und den Duft nach frisch Gebackenem.

*

War das Glück?

Lieschen Müller ist ziemlich empört,

Anna hat sie während der Mittagsruhe gestört,

dass ihren Hardy starke Schmerzen quälen

und dass das Auto dahin ist, will sie erzählen.

„Wir waren ja auf dem Weg nach Tirol,

nach hundert Kilometern ein Stau – ganz toll“,

berichtet sie, „Hardy hat geschimpft und geflucht

und die Weiterfahrt auf der Landstraße versucht.

Aber so richtig vorwärts sind wir nicht gekommen,

dann hat uns jemand die Vorfahrt genommen,

Hardy trat voller Wut voll auf das Gaspedal,

überholte den Kerl und landete im Hühnerstall.

Das Auto kaputt, Hardys Bein war gebrochen,

und alles hat nach Hühnerscheiße gerochen,

die Rückfahrt erfolgte im Krankenwagen,

trotzdem – wir hatten Glück – muss ich sagen.“

Lieschen lehnt sich sinnierend im Sessel zurück.

Leichtsinn und Beinbruch ist das Glück

und geht dem Glück ein Unglück voraus?

Diese Gedanken sind für Lieschen ein Graus.

Margret Küllmar, geb. 20.06.1950, aufgewachsen auf einem Bauernhof in Nordhessen, nach der Schule Ausbildung in der Hauswirtschaft, dann Lehrerin an einer Berufsschule, jetzt im Ruhestand, schreibt Kurzgeschichten und Gedichte. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und von drei eigenen Lyrikbänden.

*

In der Kathedrale

Der weiß-braun gefleckte Hund schläft. Gleichmäßig hebt und senkt sich sein Brustkorb. Im Schatten auf den Pflastersteinen liegt der entspannte Vierbeiner neben der in Blau eingefassten Tür des Souvenir-Geschäfts, das Korbwaren aller Art anbietet. Er bemerkt nicht die Katze, die die Gasse entlang schleicht, zu einem Sprung ansetzt, um durch ein offenes Fenster in ein Haus zu verschwinden. Der Hund hat es gut, er macht es goldrichtig und verschläft die heiße Zeit des Tages. Verlockend gemütlich sieht es aus, wie er dort hinter dem bunten Sammelsurium an Körben, Taschen, Teppichklopfern und Kinderstühlen friedlich schlummert.

Ich wünschte, ich könnte es ihm gleichtun. Irgendwo im Schatten verweilen, ein kaltes Getränk in Reichweite, Löcher in den blauen Himmel starren oder sogar ein Nickerchen machen … Und was tue ich stattdessen? Ich absolviere einen Sightseeing-Marathon. Seit acht Stunden bin ich wach, seit sechs Stunden auf den Beinen. „Es ist Urlaub“, rufe ich mir wiederholt ins Gedächtnis, trotzdem habe ich ein durchorganisiertes Programm wie im Arbeitsalltag. Nein, straffer strukturiert ist es. Natürlich sehe ich unglaublich viel in kurzer Zeit. Bei der Wärme fällt es mir allerdings schwer, die zahllosen Eindrücke aufzunehmen. Eine Sehenswürdigkeit jagt die nächste, eine Aneinanderreihung von kulturellen Highlights ist es – und gleichzeitig prasselt ein Stakkato an Informationen auf mich ein.

Warum nicht einen Moment länger verharren, schauen, sich am Anblick erfreuen? Versuchen, eine lateinische Inschrift zu entziffern? Oder einen schönen Innenhof, der in keinem Reiseführer als sehenswert erwähnt wird, bestaunen, weil er in meinen Augen paradiesisch ist und in ihm ein Orangenbaum blüht, der einen herrlichen Duft verströmt und Bienen im blassblau blühenden Rosmarin summen?

Innehalten … Verlockend erscheint es mir gerade in diesem Moment.

Die Entspannung kommt auf dieser Reise entschieden zu kurz, finde ich, auch wenn es jeden Abend Zeit zur freien Verfügung gibt. Aber dann sind wir in einem Hotel. Lieber hätte ich Freizeit an den Sehenswürdigkeiten, würde dort zu gerne ein wenig länger bleiben. Oder wie wäre es mit einer kleinen Siesta, wie es dieser Hund macht?

Genug geträumt, diese Zeit habe ich nicht. Wo ist der pinke Regenschirm, das Erkennungsmerkmal unserer Reiseleitung, der immer wie ein gigantischer Pilz aus der Menge ragt? Bestimmt fünfzig Meter weiter entdecke ich ihn in der Gasse, die seicht den Berg hinaufführt. Also nichts wie hinterher, jetzt muss ich rennen. Nie wieder eine Gruppenreise, schwöre ich mir nicht zum ersten Mal in letzter Zeit. Schnell ein Foto von dem Hund, dessen idyllisches Bild sich in mein Gedächtnis brennt … Und auf zur letzten großen Sehenswürdigkeit des Tages, der Kathedrale. Geplante Besichtigungsdauer: eineinhalb Stunden.

„Vielleicht kann ich mich absetzen“, geht mir durch den Kopf, als ich durch die Gasse haste. Ich möchte nicht die Kirche, den Kreuzgang, das Museum darin und die Sakristei besichtigen, um mich dann im Anschluss die vielen Stufen hoch in den Glockenturm zu schleppen.

Im Schatten der mächtigen Platanen, die vor dem Gotteshaus wachsen, japse ich nach Luft und zücke mein Taschentuch, um mir die Schweißperlen von der Stirn zu tupfen. Die Fakten zur Geschichte dieser Kirche, die die Dame unter dem pinken Schirm herunterbetet, schwirren wie die Schwalben am Himmelsblau durch die Luft und ich mache mir nicht die Mühe, aufmerksam zuzuhören. Mein Blick schweift ziellos umher und bleibt letztendlich wieder an der Kathedrale hängen. Ich sehe die beiden ungleichen Türme der Kirche, beeindruckende Wasserspeier, das hübsche Portal, flankiert von den steinernen Figuren der Apostel. Imposant ist sie, die Kathedrale. Ohne Zweifel.

Wir verlassen den Schatten, queren den Vorhof, der im gleißenden mittäglichen Sonnenschein schläft. Die Mittagshitze ist dazu geeignet, den letzten Funken an Elan wegzubrennen. Kein Einheimischer ist jetzt freiwillig unterwegs, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann höchstens in einem gemächlichen Spazierschritt, keineswegs forsch wie wir.

Wir betreten die heilige Stätte. Überwältigend ist die Größe, die sich hier drinnen erst wirklich offenbart. Nie zuvor bin ich in einer Kirche dieses Ausmaßes gewesen. Sanfte milde Wärme, angenehme Temperaturen herrschen, die grelle Helligkeit ist ausgesperrt, gedämpftes Licht umgibt uns.

Es ist still. Der mir mittlerweile von unzähligen Kirchenbesuchen vertraute Duft von Weihrauch schwebt in der Luft, gemischt mit Bohnerwachs und Möbelpolitur.

Wir setzen uns in eine der vielen leeren Holzbankreihen, weil wir diesen Bau auf uns wirken lassen sollen. Nanu, zieht unsere Reiseleiterin neue Saiten auf?

Dankbar lasse ich mich auf meinen Sitzplatz plumpsen. Herrlich – eine Pause. Das riesige Mittelschiff ist auffällig schmucklos, wohltuend schlicht. Mächtige Stützpfeiler streben zu dem hohen Gewölbe, als wären sie die direkte Verbindung zwischen Erde und Himmel.

„Vielleicht sollen sie genau das symbolisieren“, geht mir durch den Kopf. Der prachtvolle Hauptaltar erhebt sich am Ende eines roten Teppichs und des Mittelschiffes. Ein Strauß Wildblumen schmückt ihn. Dieses kunstvolle, von Menschenhand geschaffene Werk zusammen mit der farbenfrohen Pracht der Natur: ein starker Kontrast, der mich irgendwie rührt. Mein Blick zu unserer Reiseleiterin offenbart, auch sie ist erschöpft. Ihr Kopf ist nach vorne gesunken, sie gibt dem Müdigkeitsgefühl nach, das mich den Vormittag über in den Klammergriff genommen hat. Ein Schläfchen. Wie sehr ich ihr das gönne.

In Schwarz gekleidete Menschen knien vor dem Hauptaltar nieder, bekreuzigen sich, beten oder halten für einen Moment im Leben inne, indem sie sich ebenfalls auf den Bänken niederlassen. Andere Menschen entzünden Kerzen, stellen sie vor einem der Seitenaltäre ab, bevor sie Zwiesprache mit wem auch immer halten. Der ideale Ort, um zur Ruhe zu kommen und sich der Banalität des Alltages zu entziehen.

Höre ich entferntes Plätschern von Wasser? Vielleicht von einem Brunnen im Kreuzgang? Oder spielen mir meine Sinne einen Streich? Ein Gefühl der Ruhe, der tiefen Zufriedenheit kehrt in mir ein. Durchatmen. Schauen. Nichtstun. Entspannen. Wunderbar fühlt es sich an.

Es rumpelt, einmal, zweimal, etwas lauter, hallt durch die Kirche. Kurz darauf ertönt ein Fiepen, das sich als durchdringender Ton der Orgel entpuppt, der auch unsere Reiseleitung im Handumdrehen aus ihren Träumen weckt. Aber das ist nur ein Test.

Jetzt setzt die Orgel ein: großartig, klar und wunderschön. Mit ihrem vollen Ton füllt sie den letzten Winkel des Kirchenschiffes. Touristen, eben noch vertieft in ihre Reiseführer, schauen auf, lauschen. Ein Kirchendiener betrachtet ehrfürchtig die Orgel. Man kann nicht anders, als sich dem Genuss hinzugeben, die Herrlichkeit zu genießen.

Ergriffen bin ich, das merke ich. Der Moment ist von einer Feierlichkeit erfüllt wie Weihnachten. Wunderschön ist es. Und ein weiteres Gefühl keimt in mir auf.

Glück.

Zunächst ist es wie ein kleines Ziehen, als müsste meine Seele testen, ob sie es zulassen kann. Aber ja, natürlich kann sie es. Und jetzt ist das Glück eine Welle, die mich hochhebt. Die Orgel klingt, als spiele sie für die Ewigkeit. Und ich?

Ich fühle mich dem Himmel so nahe.

Bettina Schneider: 1968 in Berlin geboren, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit. Sie schreibt mit Begeisterung Kurzgeschichten und Erzählungen, einige davon sind veröffentlicht. Hobbys: Lesen, Schreiben, Tagebuch schreiben, Spaziergänge mit dem Hund und Fotografieren.

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