Das Buch der Schurken

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Das Buch der Schurken
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Die 100 genialsten

Bösewichte der Weltliteratur

ausgewählt, entlarvt und vorgestellt

von Martin Thomas Pesl

illustriert von Kristof Kepler


VORWORT

Von 2008 bis 2015 hatte ich den Auftrag des Magazins WIENER, in jeder Ausgabe einen Klassiker der Weltliteratur in einem unterhaltsamen Kurztext für Menschen zu behandeln, die das Werk nicht gelesen, wahrscheinlich aber davon gehört haben. Ich – ein leidenschaftlicher Leser, der nicht versteht, warum manche Leute sich nicht für Bücher interessieren, und umgekehrt keine Begründung braucht, wenn jemand Bücher mag – war also jahraus, jahrein mit der Frage beschäftigt, was einen Romanklassiker ausmacht und warum man ihn auch eine signifikante Zeit nach seinem Erscheinen noch genießen kann.

Sarah Legler und Jorghi Poll vom Verlag Edition Atelier luden mich daraufhin ein, dieser Frage auch in Buchform nachzugehen, und zwar mit Blick auf ein ganz bestimmtes Detail: der Figur des Schurken in der Weltliteratur. Was das ist, fanden wir in weiterer Folge für uns heraus. Die Definition von Schurke umfasst natürlich Schurken und Schurkinnen, Bösewichte, Unsympathen, Antagonistinnen, Fieslinge, Gauner, Egomanen, üble Hunde und sonstige widrige Mächte. Sie wollen jemandem Böses oder sich selbst – und nur sich selbst – Gutes. Sie richten Schaden an und entschuldigen sich nicht sofort ehrlich dafür. Sie begehen Verbrechen und wissen dabei genau, was sie tun. Viele wünschen sich einfach, sie wären nicht da – bis auf die Leserinnen und Leser, die diese Figuren meistens am spannendsten finden und daher zum Kult erhoben haben.

Meine Vorgehensweise war ähnlich wie bei der WIENER-Klassikerrubrik: Lektüre von und zu den entsprechenden Werken (wir beschränkten uns auf Romane, weil die Schurkenflut sonst allein schon dank Shakespeare nicht zu bewältigen gewesen wäre) und Verfassen eines Textes – so entstanden genau 100 Lexikoneinträge zu den nicht so netten Figuren aus Büchern.

Wer schafft es auf die Liste?

Bis es so weit war, machte unsere Liste mehrere Fassungen durch: Manche Schurken disqualifizierten sich nach erfolgter Lektüre; auf andere stieß man erst durch zwanglose Plaudereien (danke, Crowd!). Das finale Verzeichnis ist natürlich nicht vollständig und kann es niemals sein, und doch erhebt die Liste Anspruch auf 1.) absolute Subjektivität und 2.) den Versuch einer Ausgewogenheit zwischen bekannten und unbekannten Figuren, männlichen und weiblichen, den Regionen und Sprachen der Welt und den Epochen. Vor allem aber: 1.) absolute Subjektivität, die beispielsweise zuließ, dass aus dem Harry-Potter-Universum nicht der Dunkle Lord selbst unter die Lupe genommen wurde, sondern die kitschige Mitläuferin Dolores Umbridge. Eine weitere selbst auferlegte Regel im Sinne der Diversität: nur ein Schurke / eine Schurkin bzw. nur ein Artikel pro Autor bzw. Autorin.

Schurke ist nicht gleich Schurke

Die 100 Schurken fallen in zwölf Kategorien. Diese Kategorien wurden der Liste im Nachhinein auferlegt; denn die Gründe, die jemanden oder etwas schurkisch sein lassen, sind natürlich noch mannigfaltiger. Bücher, die wir verschlingen und die zu Klassikern werden, leben von Handlungen. Handlungen leben von Konflikten. Konflikte kann es auch geben, wenn alle es gut meinen. Konflikte können innere Konflikte sein. Und doch kommt es oft genug vor – im anglophonen mehr noch als im deutschsprachigen Raum –, dass uns Schreibende mit Figuren locken, die dagegen sind, die es zu bekämpfen gilt, mit denen wir uns nicht identifizieren können oder wollen. Oder mit denen wir uns durchaus identifizieren, obwohl sie gegen das Gesetz, die Moral oder die nervige Hauptfigur agieren.

Zivilisation als Gradmesser

Der älteste Schurke aus unserem Pool stammt aus einer Zeit, als die Bewertungsmechanismen der Menschen für lebende Wesen noch in den Kinderschuhen steckten – ganz zu schweigen von der Abstraktion in fiktive Sphären. Enkidu aus dem 4000 Jahre alten Gilgamesch-Epos wird erst allmählich zum Menschen, sein impliziertes Schurkentum ist das der noch fehlenden Zivilisation. Auf der anderen Seite des Zeitstrahls tobt Adam Stensen aus T. C. Boyles 2015 erschienenem Roman Hart auf Hart. Er läuft nackt durch die Wohnung seiner Freundin und barfuß durch den Wald, voller Sehnsucht nach einem pureren, raueren Leben mit weniger sinnloser, verderbter Zivilisation.

Auf den ersten Blick scheint sich also nicht viel verändert zu haben in Tausenden von Jahren der Menschheits- und Kulturgeschichte. Der Bogen ist aber denkbar weit gespannt. Auf wütende Wilde wie Enkidu oder auch Grendel aus der Beowulf-Saga folgten in den Epen und Sagen von mythologischen Götterwelten die Trickster (englisch für »Gauner, Betrüger«, aber irgendwie liebevoller), die mit kindischen Scherzen die bestehende Ordnung durcheinanderbringen – Loki aus der Edda ist das perfekte Beispiel. Je menschlicher die Helden wurden, desto mehr galt das auch für ihre Gegner. Die Trennlinien zwischen Gut und Böse wurden dabei besonders durch christliche Moralvorstellungen geprägt.

Der Moralapostel als Schurke

Das tun sie auch heute noch, wenn auch gelegentlich unter umgekehrten Vorzeichen. Nicht selten stehen seit der Aufklärung die Klerikalen und Moralapostel am literarischen Pranger: der Baron von Innstetten etwa mit seiner letztlich tödlichen Überreaktion auf das Affärchen seiner Effi Briest oder der mörderische Mönch aus Der Name der Rose auf seinem Kreuzzug gegen das Lachen.

Und es müssen nicht gleich Mord und Totschlag sein (dass die nicht grundsätzlich wünschenswert sind, diese Haltung hält sich übrigens recht konstant in der Weltliteratur). Die negative Energie kann mit zunehmender Schärfung des möglichen Autorenweltblicks auch einfach von den Erwachsengewordenen, den Angepassten, eben den übermäßig Zivilisierten ausgehen. Das Fräulein Rottenmeier zum Beispiel meint es gewiss nicht böse mit der strengen Frisur und dem Unverständnis für Menschen, deren Welt nun einmal die Berge sind.

Die Industrialisierung

Die Schurken des 19. Jahrhunderts sind oft solche, die entweder im Kleinen gesellschaftliche Idyllen stören (etwa der Holländer Michel in Das kalte Herz) oder eben gesellschaftliche Zwänge etablieren (neben Heidis Fräulein Rottenmeier auch Paule Rezeau, die Viper im Würgegriff) oder in einer Ära, als die Industrialisierung bei vielen ohnehin schon Paranoia und Existenzängste weckt, »wahnsinnige« Ideen zu Fortschritt und Technik propagieren (nicht zuletzt Frankenstein mit seiner monströsen Schöpfung). Im 20. Jahrhundert war in Europa zuerst eher Schluss mit schurkisch – beziehungsweise lenkten die Weltkriege den Fokus der geschockten Menschheit eine Zeit lang auf das allzu reale Schurkentum, dem sie ausgesetzt war. Umgekehrt haben sich die Fiktionen der Nazis darüber, was ein Schurke ist, zum Glück nicht auf breiter Basis gehalten.

Weltherrschaft & Psychopathen

Zwischen den Kriegen hatte Freuds frischer, tiefer Blick in die menschliche Seele die literarischen Figuren zudem so nachvollziehbar gemacht, dass man ihnen nicht recht böse sein durfte. Erst als die Psychoanalyse schon längst Standard war, kam ein neuer Lieblingsschurke hinzu, bis heute einer der Stars auf dem fiktionalen Antagonistenparkett: der fasziniert wie ein Held begutachtete Psychopath im Spannungsverhältnis zur zivilisierten westlichen Gesellschaft. Ab dem Kalten Krieg spannen die Schurken auch noch Weltherrschaftsfantasien (siehe so ungefähr alle James-Bond-Romane von Ian Fleming). Auch die, die schon an der Macht sind, kriegen in den Büchern ihr meist grotesk überhöhtes Schurkenfett weg: Herrschende von Lateinamerika (Der Herbst des Patriarchen) über die britische Countryside (Farm der Tiere) bis Afrika (Der Herr der Krähen).

Reiche Schnösel & arme Schlucker

Womit wir bei einem neueren Feindbild wären, das mit dem Weltherrschaftsebenso eng verknüpft ist wie mit dem Psychopathenfaktor: der Schurke Kapitalismus. Ob reicher Schnösel (Der große Gatsby) oder armer Gauner (Die Elenden): Wer zu viel Geld und / oder Macht hat und / oder will, wird vom eigenen Autor zumindest kritisch beäugt (Ayn Rand bildet da die monströse Ausnahme) und gerät schnell auf die Schurkenbahn. Patrick Bateman tickt in American Psycho sicherlich auch deshalb aus, um die ihm durch Anzug und Visitenkarten geebnete Wall Street zum gemainstreamten Reichtum zu verlassen.

Weltliteratur & Ausnahmen

Die Genreliteratur im Detail habe ich außen vor gelassen – ich würde gerne behaupten: nur aus Platzgründen, aber die Wahrheit ist, dass ich nicht das Geringste von den beeindruckenden Fantasy-, Rollenspiel- und Vampirbisswelten verstehe, die sich vor mir aufgetürmt hätten, hätte ich mich darauf eingelassen. Einige der Paradeschurken, die – oft stark überzeichnet und von Grund auf böse – in erster Linie dem Unterhaltungsprinzip unterliegen, sind jedoch so legendär, dass man nicht über sie hinwegsehen konnte: Sauron etwa oder der Baron Harkonnen.

Andere haben schlichtweg Morde begangen und sind ihrer zu überführen. Obwohl mir das Genre des Whodunits deutlich näher liegt als jene von Game of Thrones und Fifty Shades of Grey, habe ich auch hier nur Mordende ausgewählt, die sich durch Besonderheiten auszeichnen – Raffinesse, Grausamkeit oder philosophische Unterfütterung: Glavinics Kameramörder zum Beispiel, oder den bei Agatha Christie, der es schafft, alle zehn Personen auf einer Insel zu töten.

Bösewichte kommen gerne auch in Büchern für junge Leser vor; je schärfer Autoren hier die Grenze zum Übel ziehen, desto erfolgreicher werden ihre Werke. Und gar nicht wenige davon bleiben in Erinnerung und haben auch in dieses Buch Eingang gefunden: vom hungrigen Tiger Schir Khan zu den Vertretern der dunklen Magie in Hogwarts und Umgebung.

 

Männer sind Schurken

Der Versuch eines geschlechtergerechten Blicks ist dabei zum Scheitern verurteilt. Historisch betrachtet war der Club der Weltautoren immer männlich dominiert und hat sich bevorzugt auch männliche Gegenfiguren erschrieben, während er die Frauen, wenn schon als starke, dann besonders gerne entweder als Mütter oder als erotisch vernichtende Femme fatales herbeifantasierte. Eine 50:50-Quote ist uns also nicht gelungen, bei den Autorinnen schon gar nicht, bei den Schurkinnen leider auch nicht. Die Liste beruht auf Werken von zehn Autorinnen, 83 Autoren, zwei männlichen Autorenpaaren und fünf unbekannten Verfassern. Von den 100 besprochenen Schurken sind 62 eher ein Mann, 21 eher eine Frau, acht sind Paare oder Personengruppen (jeweils unterschiedlichen Geschlechts, aber mehr Männer), fünf lassen sich als Tiere einstufen und vier passen endgültig in keine dieser Kategorien.

Schurken gibt es überall

Die Bücher stammen zu einem überraschenden Großteil aus dem englischsprachigen, gefolgt vom deutschsprachigen Raum, aber ich habe mich bemüht, auch Schurken aus kleineren Ländern Europas sowie aus Asien, Afrika und Südamerika zu Wort kommen zu lassen: Aus dem alten Arabien, aus Argentinien, China, Island, Kenia, Kolumbien, Norwegen, Polen, Portugal, Spanien, der Türkei und Ungarn ist jeweils nur genau ein Buch dabei.

Der Reiz des Bösen

Mit allen schurkischen Fiktionen ist eine gewisse Lust verbunden. Es geht uns gut, also genießen wir das Böse. Gleichzeitig sagen Schurken oft mehr über die Gesellschaft ihrer Zeit aus als Helden, weil sie einerseits Feindbilder verkörpern, auf die sich alle einigen können, und andererseits eine gewisse Sehnsucht widerspiegeln, aus den bestehenden Systemen auszubrechen, unartig zu sein, seinen eigenen Weg zu gehen. Ein reales Problem, das wir selbst nicht angehen können oder wollen, bleibt so, verlagert in die Lektüre, dennoch auf wohlige Art bei uns.

Oft lieben wir diese Bösen daher mehr als wir sie hassen. Oft brummen wir auch befriedigt, wenn sie ums Leben kommen. Aber selten vergessen wir sie als Erste, wenn die Lektüre länger zurückliegt – weil sie einen Nerv getroffen, uns in eine Geschichte hineingezogen und den Akt des Lesens von einem rein geistigen auch zu einem emotionalen Erlebnis gemacht haben. Den Reiz des Bösen – auch bzw. gerade weil es »nur« in einer Geschichte lebt – möchte diese Arbeit betonen und erkunden. Die launigen Illustrationen stammen aus der talentierten Hand des durchaus belesenen Kristof Kepler, der nur in einigen Fällen einzig meinen Artikel als Inspirationsquelle zur Verfügung hatte.

(K)ein Lexikon

Dieses Buch ist ein Lexikon. Das heißt, man muss es nicht von vorne bis hinten lesen. Man darf sich morgens zum Kaffee oder auf eine Zigarettenlänge ein, zwei Schurken des Tages zuführen. Man kann im Buch der Schurken blättern und überlegen, welche Romanentdeckung mit einer Prise Fiesem man als Nächstes erkunden möchte. Wer der schurkischere Hochstapler ist: Felix Krull oder der mit dem lustigen Namen, Lafcadio Wluiki? Wer zuerst böse war: Frankenstein oder sein Monster; Moby Dick oder Captain Ahab? Oder wem aus der Liste der Konzernchef XY oder die Schwester des Exfreundes eigentlich am ehesten gleicht?

Der britische Guardian hatte 2014 / 5 eine kleine Serie zum Thema Baddies in Books. Im Internet steht ein Schurken-Wiki zur Verfügung. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema in Form eines erschöpfenden Lexikons blieb bisher erstaunlicherweise aus. Auch mein Buch – ein Hochstapler wäre ich, würde ich das behaupten! – ist keine solche. Aber es macht hoffentlich Spaß. So wie geschriebene Schurken.

Martin Thomas Pesl


DIE VIERZIG RÄUBER

AUTOR: womöglich Antoine Galland

TITEL: Tausendundeine Nacht

(aus dem Arabischen von Gustav Weil)

ORIGINALFASSUNG: 1709


»Kameraden, jetzt kann uns nichts mehr hindern, volle Rache für die Bosheit zu nehmen, die an uns verübt worden ist. Ich kenne das Haus des Schurken, den sie treffen soll, ganz genau und habe unterwegs auf Mittel gedacht, die Sache so schlau anzugreifen, dass niemand weder von unserer Höhle, noch von unserm Schatze etwas ahnen soll; denn dies ist der Hauptzweck, den wir bei unserm Unternehmen vor Augen haben müssen, sonst würde es uns ins Verderben stürzen.

Da reden die Richtigen! Schurke, Bosheit, Verderben – davon müssten diese Männer eigentlich am meisten verstehen, haben sie sich doch mit der Zeit einen ordentlichen Haufen an Reichtümern erbeutet, die sie in ihrem Geheimversteck lagern. Ein frei stehender Felsen ist es, der praktischerweise eine Tür hat, die – noch praktischer – auf die Worte »Sesam, öffne dich!« reagiert. Warum das so ist, das ist nicht aus dem alten Indien über Persien und Syrien zum französischen »Entdecker« (oder gar Verfasser?) der Geschichte, Antoine Galland, durchgedrungen. Profiräuber muss man sein, oder Glück muss man haben.

Ganz unrecht hat der Räuberhauptmann aber nicht mit seiner Anschuldigung. Denn die zwei bis 40 lebendigen Räuber dieses Märchens, ob es nun vielfach überliefert oder einfach erfunden ist, sind zwar ein stattliches Schurkenkollektiv (besonders wenn man bedenkt, dass im Orient »vierzig« ein Symbol für »viele« war), aber bei Weitem nicht die einzigen Gauner: Ali Baba, seine ganze Familie und seine Dienerschaft haben es faustdick hinter den Ohren. Willkommen im wilden Schurkistan, wo ein Satz wie »Sei ruhig, liebes Weib, und mach dir keine Sorge darob, ich bin kein Dieb, denn ich habe dies alles nur Dieben genommen« alle moralischen Skrupel so gründlich ausräumt wie Ali Babas Bruder Casim die Felsenhöhle der Räuber.

Alles ist hier erlaubt und irgendwie selbstverständlich, denn es geht ja um glänzendes Gold: Eine gevierteilte Leiche wird wieder zusammengeflickt, und eine gerissene Sklavin namens Morgiane oder Mardschana wird ohne Skrupel für ihren Herren zur Massenmörderin. 37 der 40 Räuber verstecken sich in Ölschläuchen und lassen sich über einen sozusagen trojanischen Esel in Ali Babas Haus einschleusen. Ganz schön viele für einen einzigen Meuchelmord. Wären nur mehr von ihnen zu Hause geblieben, betrüge die Räuberreduktion durch Morgianes Attacke mit – wie passend! – heißem Öl nicht ganze 92,5 Prozent. Später versucht der Hauptmann selbst unter dem Decknamen Chogia Husein einen weiteren Racheakt, doch Morgianes Dolch ist schneller gezückt. Wer also ist hier der größte Schurke? Die 40 Räuber gewinnen zumindest nach Quantität.

Eine ziemliche Halunkin ist auch Scheherazade, laut Tausendundeine Nacht die Erzählerin dieser und unzähliger weiterer Geschichten. Sie erzählt buchstäblich um Kopf und Kragen. Denn um die ihr bevorstehende Hinrichtung durch den Sultan von Indien immer weiter hinauszuzögern, wendet sie einen Trick an, der heute das wichtigste Mittel jeder Fernsehserie ist: den Cliffhanger. Sie bricht einfach immer dann ab, wenn es am spannendsten ist. ■

HAUPTMANN: Chogia Husein (Deckname)

HERKUNFT: Arabien

NACHT: 270.

STÄRKE: Sesam

SCHWÄCHE: Öl

REICHENINDEX: ÜBERLEBENDE: ERZFEINDE: Ali Baba, Morgiane

CAROLINE BINGLEY

AUTOR: Jane Austen

TITEL: Stolz und Vorurteil

(aus dem Englischen von Margarete Rauchenberger)

ORIGINALFASSUNG: 1813


» Ich für meinen Teil«, sprudelte sie weiter, »habe sie ja nie besonders schön gefunden. Ihr Gesicht ist zu mager, ihre Haut hat nichts Strahlendes, ihre Züge sind ganz und gar nicht hübsch, und ihre Nase hat keinen Charakter. Es liegt nichts Bemerkenswertes an ihren Zügen. Ihre Zähne sind ganz nett, aber nichts Besonderes. Und was ihre Augen anbelangt, die als so besonders schön bezeichnet wurden, so habe ich nie etwas Außerordentliches an ihnen finden können, es sei denn einen scharfen, zänkischen Blick, den ich gar nicht mag.«

Willkommen im viktorianischen Zickenkrieg! Caroline Bingley, die noch unverheiratete Schwester des gutaussehenden Mr. Bingley (Aussteuer: 20.000 Pfund), lebt hier voller Stolz ihre Vorurteile aus, vor allem gegenüber Elizabeth Bennet, die ihr ihren heimlichen Schwarm, den unzugänglichen Mr. Darcy, abspenstig machen will. Diese Frau ist die Intrigantin schlechthin im Universum der herzzerreißenden marriage plots aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Solange sie noch denkt, die Rivalin habe keine Chance, setzt sie ein gequältes Lächeln auf und mimt die verständnisvolle Freundin. Hinter ihrem Rücken zieht sie jedoch ungeniert über sie her wie ein gut gecoachter C-Promi im Junggesellenverkupplungsfernsehen.

Und je mehr sich der anfangs noch über allem stehende Darcy für die lebensfrohe Elizabeth zu interessieren beginnt, desto stärker engagiert sich Caroline Bingley gegen die Rivalin. Dabei bleibt sie richtig feige: Denn auf die Idee, dem Mann ihre eigenen Vorzüge vorzuführen, anstatt die Nachteile der anderen überdeutlich hervorzustreichen, kommt sie nicht. Vielleicht hat sie ja keine … Ich meine ja nur … Oh je, das steckt schon an, dieses fiese Gezwitscher.

Besonders schurkisch darf sich Miss Bingley auch dadurch fühlen, dass im Austen-Universum, in dem es nur um Geld, Rang und bedeutende Familienmitglieder geht (der Onkel ein einfacher Anwalt? Pah!), eine ganze Reihe überspannter, unsympathischer Gestalten durch die Gegend läuft. Elizabeths Mutter, die insgesamt fünf Töchter unter die Haube zu bringen hat, ist überhaupt nur am Verkuppeln interessiert. Selbst als ein eher zwielichtiger Mr. Wickham (der es trotz seines sprechenden Namens – »wicked« = »böse« – nicht zum Top-Austen-Bösewicht geschafft hat) die Drittälteste geradezu über Nacht entführt, findet sie damit schnell ihren Frieden. Hauptsache Hochzeit. Dann ist da noch Lady Catharine de Bourgh, die ihre schützenden adeligen Arme über die Darcys und die Bingleys hält und meint, Elizabeth eine Heirat mit Darcy einfach durch Arroganz und Herablassung verbieten zu können.

Und doch schießt Caroline Bingley den Vogel ab. Sie geht die intrigative Extrameile. Leider konnte vor Fertigstellung dieses Lexikons nicht eruiert werden, ob sie es, gespielt von Emma Greenwell, in der 2016 erscheinenden Verfilmung der Parodie Stolz und Vorurteil und Zombies mit der verschärften Grausamkeitskonkurrenz durch die Zombies aufnehmen kann oder ob sie vielleicht selbst zu einem wird. ■

HERKUNFT: Großbritannien

POSITION: Oberzicke

INTRIGENSCHLEUDERGEFAHR: hoch

TAKTGEFÜHL: niedrig

GEHEIMNIS: steht total auf Mr. Darcy

MITGIFT: Oh ja, mit Gift!

ERZFEINDIN: Elizabeth Bennet

CHARMANTESTER KOMMENTAR ÜBER

ELIZA BETH: »Ihre Zähne sind ganz nett.«