Das Buch der Schurken

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LAFCADIO WLUIKI

AUTOR: André Gide

TITEL: Die Verliese des Vatikans

(aus dem Französischen von Thomas Dobberkau)

ORIGINALFASSUNG: 1914


»(…) Bedenken Sie doch: ein Verbrechen, das weder aus Leidenschaft noch aus Habgier geschieht. Sein Grund, das Verbrechen zu begehen, ist ja gerade, daß er es ohne Grund begeht. (…)

Mit diesem Namen muss man ja auf die schiefe Bahn geraten: Lafcadio Wluiki! Und jetzt stelle man ihn sich auch noch mit französischem Akzent ausgesprochen vor! Wäre man dieser Wluiki und fände dann auch noch heraus, dass man eigentlich der Sohn des Comte Juste-Agénor de Baraglioul ist und einem dieser viel, viel elegantere Name zusteht, man müsste geradewegs verbittert und bösartig werden.

Allein, so verhält sich das bei Lafcadio Wluiki nicht. Der steht über allem. Sobald er auch nur ahnt, dass der Graf sein Vater sein könnte, lässt er sich eben Visitenkarten mit dem neuen Namen drucken und wird mit diesen beim vermeintlichen Erblasser vorstellig (und erbt auch prompt).

Die Schönheit des Jünglings sticht Mann wie Frau ins Auge. Gilt es, ein paar Kinder aus einem Feuer zu retten, ist er zur Stelle, und uninspirierte Schriftsteller finden in ihm eine neue Muse. Cadio, wie ihn sein Lieblings»onkel« an der Seite seiner Mutter einst nannte, ist hauptberuflich Projektionsfläche. Und alle lieben ihn – sogar, ja gerade im Angesicht des Verbrechens.

Denn ein Verbrecher ist Lafcadio ja schon. Kein gewöhnlicher wie sein ehemaliger Kumpel Protos, der in bizarre Verkleidungen schlüpft, um wohlhabenden religiösen Fanatikern ein Budget für die angebliche Rettung des Papstes aus den Händen der Freimaurer zu entlocken. Lafcadio hat das nicht nötig. Lafcadio macht ganz andere Dinge: Er stößt den Schwager seines Halbbruders, den er nicht kennt, aus dem Zug, wodurch er ihn tötet. Ohne Grund, einfach um sich zu beweisen, dass er ein freier Mann ist. Die sechs Tausender, die dieser Fleurissoire bei sich hatte, lässt er in dessen Jackentasche zurück; darum ging es ja nun wirklich nicht. Daher hat Lafcadio auch kein schlechtes Gewissen, nicht einmal als er erfährt, an wem er da sein Exempel eines acte gratuit, eines Verbrechens ohne Motiv, statuiert hat.

»Es fällt mir ja so schwer, nicht zauberhaft zu sein! Ich kann mir aber doch nicht das Gesicht mit dunkler Beize einschmieren, wie Carola mir riet; oder anfangen, Knoblauch zu essen …«, denkt er dabei. Die eigene Wohlgestalt zu reflektieren und sich intellektuell davon abzusetzen, da gehört etwas dazu.

Deshalb verliebt sich auch der Leser in Lafcadio, dankbar für solche Brillanz inmitten eines Haufens Narren. Eine Sotie, ein Narrenspiel, nennt Verfasser Gide sein Werk. Als Bösewicht und gleichzeitige Identifikationsfigur schafft er die perfekte Mischung aus Dostojewskijs Raskolnikow und dem ewig jungen Dorian Gray. »Love Cadio« – es ist ein Imperativ, dem sich niemand widersetzen kann. ■

ALTER: 19

FAMILIE: de Baraglioul

BERUF: Sekretär

SCHATTENBERUF: Lebenskünstler

SCHÖNHEIT: CHARME: PHILOSOPHIEFAKTOR: ERZFEIND: höchstens er selbst

THERESE KIEN

AUTOR: Elias Canetti

TITEL: Die Blendung

ORIGINALFASSUNG: 1935


»Er krümmte sich ja nicht. Wer sich nicht krümmte, der hatte keine Schmerzen. Der mußte aufstehen, der brauchte nichts gekocht.

And the winner iiiis … Therese Kien! Gratulation! In der Masse an gemeinen und niederträchtigen Charakteren, die sich in Canettis Blendung im Wien der Zwanziger- oder Dreißigerjahre tummeln, ist es nicht selbstverständlich, als die Fieseste hervorzugehen. Die ungebildete, aber zielsicher nach dem eigenen Vorteil ausgerichtete Haushälterin und baldige Ehefrau des Sinologen und Hardcore-Bücherwurms Peter Kien hat sich durchgesetzt.

Dabei könnte man es auch milde formulieren: Diese Eheschließung, basierend auf dem Irrglauben, Therese habe eine gewisse Affinität zu Büchern, weil sie diese immer so sorgsam putzte, wäre auf heutigen Datingseiten anhand gemeinsamer Interessen wohl kaum als Ideallösung vorgeschlagen worden. Er asexuell, eigenbrötlerisch und lebensfremd. Sie sexuell frustriert, gierig und ohne Verstand für Geistiges. Reiner Geist und reiner Körper – da kann der Geist nur verlieren. Und auch wenn der geradezu autistische Wissenschaftler sicher nicht der leichteste Partner ist, als lesende Menschen weiß Canetti uns auf seiner Seite.

Und das lässt sie ihn, kaum hat er sie geheiratet, auch spüren. Nun hasst sie nämlich die 25.000 Bücher in der Wohnung, weil dafür schon so viel unnötiges Geld ihres Mannes ausgegeben wurde, das eigentlich ihr zustünde. Sie interessiert sich nur dafür, wo das Bankbuch versteckt ist, und für den Kauf neuer Möbel, währenddessen sie heftig mit anderen Männern flirtet (die sie aber in Canettis menschenverachtendem Universum sowieso nur ausnutzen wollen). Sie empfindet es als Affront, wenn ein Sessel einmal zu oft knarrt (dann wird er ins Feuer geworfen) oder der Mann krank ist und gepflegt werden sollte (dann wird er eben hungern gelassen). Höhepunkt der Schreckensherrschaft, deren Symbol Thereses blauer, gestärkter Rock ist: Sie schmeißt ihn aus seiner eigenen Wohnung und sich an den sadistischen Hausbesorger Pfaff heran.

Das Gemeine an Therese ist, dass wir immer wieder Gelegenheit bekommen, in ihren Kopf hineinzuschauen. Canetti formuliert ihre giergesteuerten Empörungen aus, folgt ihren Logikpfaden und stellt die Ergebnisse, ohne zu werten, vor uns hin. Die Figurengestaltung dürfte auf einer gewissen Frauenfeindlichkeit des Autors beruhen; sein Vorbild für Therese war eine Vermieterin, die ihn mit ihrem dummen Geschwätz faszinierte.

Männer sagen schnell einmal so dahin, die Ehe treibe sie in den Wahnsinn. Bei den Kiens kann man zuschauen, wie es passiert. Das geht so weit, dass Kien überzeugt ist, seine Frau getötet zu haben, und ein Geständnis ablegt, während sie neben ihm steht und ihn des Diebstahls (seines eigenen Geldes) bezichtigt: »Der blaue Rock, den sie immer trug, deckte ihr Skelett. Er war gestärkt und hielt dank dieser Eigenschaft die widerwärtigen Reste ihres Leibes zusammen. Eines Tages hauchte sie aus. Auch dieser Ausdruck erscheint mir als Fälschung; wahrscheinlich besaß sie keine Lungen mehr.« ■

HERKUNFT: Österreich

GEBOREN: Therese Krummholz

GESTORBEN: nein (Irrtum)

BERUF: Haushälterin

BESONDERES KENNZEICHEN: der blaue Rock

MÖBELGESCHMACK: MÄNNERGESCHMACK: BILDUNGSGRAD: SEXAPPEAL:

 

FELIX KRULL

AUTOR: Thomas Mann

TITEL: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull: Der Memoiren erster Teil

ORIGINALFASSUNG: 1954


» Ich kann mein inneres Verhalten zur Welt, oder zur Gesellschaft, nicht anders als widerspruchsvoll bezeichnen. Bei allem Verlangen nach Liebesaustausch mit ihr eignete ihm nicht selten eine sinnende Kühle, eine Neigung zu abschätzender Betrachtung, die mich selbst in Erstaunen versetzte.

Man kann dir nicht grollen, Felix Krull. Man will dich fast nicht in die Gruppe der Bösewichte einreihen, so bezirzt ist man von deiner eigenen Beschreibung deiner Taten. Und doch muss es sein: Hochstapler Felix Krull, Betrüger jenseits der Moral, Kategorie »liebenswerter Halunke«. Denn dein bester Trick ist ja, dass man dich mag. Dass du einem gibst, was man will, und dass man nie enttäuscht ist. Gut, die paar Juwelen, die der Dame abhanden kommen, sind doch ein adäquater Preis für die schönen Stunden, die sie mit dem charmanten jungen Mann zubringen durfte.

»Niemals habe ich eitles und grausames Gefallen gefunden an den Schmerzen von Mitmenschen, denen meine Person Wünsche erregte, welche zu erfüllen die Lebensweisheit mir verwehrte. Leidenschaften, deren Gegenstand man ist, ohne selbst von ihnen berührt zu sein, mögen Naturen, ungleich der meinen, einen Überlegenheitsdünkel von unschöner Kälte oder auch jenen verachtenden Widerwillen einflößen, der dazu verleitet, die Gefühle des Anderen ohne Erbarmen mit Füßen zu treten. Wie sehr verschieden bei mir!«

Jaja. Ist ja schon gut, Felix Krull, wir klagen dich nicht an, wir lauschen deinen eloquenten Bekenntnissen. Reden kannst du ja. Innerhalb kürzester Zeit hast du erkannt, was wir hören wollen, und das erzählst du uns dann in den schönsten Farben. Wir müssen wohl dankbar sein, dass es dir in Wirklichkeit nur um dein privates Wohl geht und du nicht einer von diesen populistischen Politikern bist. Wir würden dir sofort verfallen, dich wählen, und dann hätten wir den Salat.

»Sicherlich stehe ich auf diesem Gebiet, wie auf jedem anderen, weit hinter Ihnen, Herr Generaldirektor, zurück.«

Schmeichler! Das beherrschst du gut. So hast du dich zu einem Job hochgearbeitet, der dir Kontakt mit reichen Menschen verschafft hat, die die Wahrheit gar nicht wissen wollen, sondern lieber mit Illusionen konfrontiert sind. Diebstahl? Betrug? Nein, für dich sind das einfach notwendige Konsequenzen der Tatsache, dass du ein Sonntagskind bist, ein felix, der fürs Glück geschaffen ist. Deine Gaunereien sind Schauspielkunst, ebenso wie der epileptische Anfall, den du vortäuschst, um dem Militärdienst zu entgehen. Mal ehrlich, wie viele von uns hätten es nicht genau so gemacht, wenn wir das Talent dazu hätten? Selbstbewusstsein muss man haben und optimistisch durchs Leben gehen. Und Prinzipien vertreten. Vom reichen Lord adoptieren lassen willst du dich nicht, du bewahrst dir lieber deine Freiheit und rufst:

»Catch me, if you can!«

Ach so, nein, das war ein anderer Hochstapler. Aber der ging gewiss bei dir in die Schule, Felix Krull. ■

NAMENSBEDEUTUNG: der Glückliche

HERKUNFT: Deutschland

BERUF: Liftboy

LIEBLINGSTIER: Chamäleon

CHARME: FINSTERKEITSFAKTOR: FILMDARSTELLER: Horst Buchholz

DIE GRAUEN HERREN

AUTOR: Michael Ende

TITEL: Momo

ORIGINALFASSUNG: 1973


»Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben besser als sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach. Sie hatten Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weit gesteckte und sorfältig vorbereitete Pläne.

Die erste englische Ausgabe von Michael Endes Momo war nach ihnen betitelt: The Grey Gentlemen. Die Gentleman-Masche ist aber bestenfalls Maskerade, ein gut eingeübter Vertretertrick. Diese Herren – es gibt ihrer unzählige, und alle sehen sie gleich grau aus – haben für Galanterie eigentlich keine Zeit.

Wenn sie aus ihrer unterirdischen Kommandozentrale emporsteigen und eine nicht näher benannte Großstadt infiltrieren, dann mit einem klaren Ziel, auf das sie direkt und effizient zusteuern: den Menschen ihre Zeit zu stehlen. Das gelingt ihnen mit Argumenten wie diesem: »Das Einzige, worauf es im Leben ankommt, ist, dass man es zu etwas bringt, dass man was wird, dass man was hat.« Dann rechnen sie ihnen vor, wie viel Zeit sie sparen könnten, wenn sie nutzlose Tätigkeiten wie Spazierengehen und Freundetreffen aufgäben. Es fröstelt die Menschen, wenn ein grauer Herr im Raum ist, aber sie merken es kaum.

Vorboten von Workaholismus, Burnout und Smartphone-Terror, verkörpern sie im Jahr 1973 das Nummereins-Thema der heutigen urbanen, westlichen Zivilisation. Manch einer, der heute Stress und die Freudlosigkeit unseres grausam (!) inhaltsleeren, karrieregesteuerten Lebens beklagt, stellt sich immer noch diesen slicken Sparkassenvertreter im grauen Anzug und grauen Auto vor, der gesichtslos an seiner grauen Zigarre zieht und uns mit deren Dampf das Hirn vernebelt. Passivrauch und Zeitverschwendung – ein Albtraum!

Während heute vielleicht Digital Detoxing und Yoga die Lösung sind, ist es bei Michael Ende ein kleines Waisenkind namens Momo, das den Rauch verbläst. Momo, die eben keinen Wert darauf legt, es zu etwas zu bringen und etwas zu haben, bringt den perfiden Plan des Grauens ins Wanken. Sie macht Meister Hora und seine Stunden-Blumen ausfindig, die die Lebenszeit der Menschen verkörpern, und sie rettet die Welt vor den vielleicht fürchterlichsten, weil realitätsnahesten Gestalten, die ein modernes Kinderbuch je hervorgebracht hat. Denn sie findet heraus: So beängstigend die grauen Herren mit ihrer Effizienzrhetorik auch daherkommen, sind sie in Wahrheit doch einfach Süchtler! Sie brauchen die Blätter der Stunden-Blumen, um sich ihre Zigarren zu drehen.

Keine Panik also. Bei den heutigen Nichtrauchergesetzen hätten die grauen Herren vielerorts ohnehin keine Chance mehr. Der Zeitdiebstahl erstrahlt mittlerweile in vielerlei Farben. ■

NAMEN: unbekannt

HERKUNFT: unbekannt

BERUF: Zeitsparkassenbeamte

WAFFE: Effizienz

AUTOS: grau

HÜTE: grau

KOFFER: grau

LASTER: Zigarren (grau)

ELIXIER: Stunden-Blumen

ERZFEINDE: Momo, Meister Hora

IRIMIÁS

AUTOR: László Krasznahorkai

TITEL: Satanstango

(aus dem Ungarischen von Hans Skirecki)

ORIGINALFASSUNG: 1985


»Wir werden alle in die Luft sprengen«, beginnt Irimiás mit gedämpfter Stimme, dann wiederholt er mit lautem Baß: »Wir werden alle in die Luft sprengen! Jeden einzelnen für sich«, sagt er zu Petrina, »das ganze feige Gewürm. …«

Aber das ist doch nur ein Scherz, nichts weiter, um die Leute ein bisschen zu schockieren. Nein, nein, die Dorfgemeinschaft, aus der Irimiás mit seinem Kumpel Petrina vor eineinhalb Jahren fortging, totgeglaubt, die weiß es besser: »Irimiás ist ein großer Magier. Der baut noch aus Kuhscheiße ein Schloß, wenn er will«, sagt Futaki zu Schmidt. Seine Frau kennt ihn, den sie insgeheim ihren Messias nennen, noch besser: »Sie hat nur einen Mann gekannt – Irimiás –, der sie sowohl im Bett als auch im Leben hochbringen konnte. Irimiás, dessen kleinen Finger sie nicht für alle Schätze der Welt hingäbe, von dem ein Wort mehr bedeutet als das Gerede sämtlicher Männer zusammen … Ach ja, die Männer! Wo ist hier ein Mann – außer ihm?«

Nichts als ein arbeitsloser Herumtreiber ist er, und zusammen mit Petrina hat ihm im spätkommunistischen Ungarn die Geheimpolizei den Auftrag erteilt, Spitzel herbeizuschaffen. Also tanzt er den ihn völlig zu Unrecht idealisierenden Dörflern, die ihre Zeit mit Nichtstun und Saufen in der Kneipe verbringen, einen Satanstango vor – dies der Titel des Debütromans von László Krasznahorkai und der sehr werktreuen, 450-minütigen Kultverfilmung von Béla Tarr aus dem Jahr 1994.

»… Wie bitte? Die Schwierigkeit? Nun ja, wie gesagt, warum Ihnen das verheimlichen, das hätte keinen Sinn, nur … Nur das Geld, meine Damen und Herren. Denn ohne Pulver, nicht wahr, kann ich nicht schießen. Denn der Pachtzins, die Vertragskosten, die Rekonstruktion, die Investitionen. Die Produktion, das wissen Sie, hat einen sogenannten Kapitalbedarf. Aber das wird zu kompliziert, auf solche Dinge wollen wir jetzt nicht eingehen, Freunde … Wie bitte? Haben Sie? Aber woher denn? Aha, Ich verstehe. Die Schafe. Nun, das ist löblich.«

Und so packen sie alle ihre Sachen, geben ihm ihr Geld und ziehen los in Richtung eines gelobten Landes, obwohl ihnen dämmern müsste, dass das alles nur Schafsmist ist. Irimiás ist das Achtzigerjahre-Pendant dieses Spam-Mails mit den sensationellen Investment-Gelegenheiten. Wer Klugheit besitzt und zur Schau stellt, den schätzt die blinde Masse. Und wer klüger ist als die anderen und außerdem noch ein rechter Ganove, der weiß das bestens auszunutzen. Recht geschieht ihnen: Die Futakis, die Kráners, die Schmidts, sie kriegen den Schurken, den sie verdient haben.

Irimiás ist ein Prophet wie sein Namensgeber, der biblische Jeremia – nur eben ein falscher. Statt in die Zunkunft zu blicken, schaut er direkt in seine armselig vor sich hin vegetierenden Schäfchen hinein und durch sie hindurch. In den Berichten, die Irimiás über die Leichtgläubigen verfasst, macht er schließlich seiner Verachtung Luft: Die Beamten haben ziemliche Mühe, seine derben und unflätigen Kommentare in ein sachlich-neutrales Ungarisch zu übersetzen. ■

BEINAME: Messias

BERUF: freiberuflicher Spitzel

SIDEKICK: Petrina

REDEGEWANDTHEIT: SEXAPPEAL: LIEBLINGSTIERE: die Schafe VORBILD: Jeremia


KAIN

AUTOR: Mose (angeblich)

 

TITEL: Genesis (1. Buch Mose)

(aus dem Althebräischen, Altaramäischen und Altgriechischen von Martin Luther)

ORIGINALFASSUNG: ca. 400 v. Chr.


»Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.

»Lass uns aufs Feld gehen!« Das klingt schon so. Aber wie hätte Abel auch ahnen sollen, dass er besser geantwortet hätte: »Leider keine Zeit!«, als einfach mitzukommen. Allzu viel soziale Erfahrung hatten sie damals noch nicht, als Menschen Numero 3 und 4.

Irgendwann musste es ja passieren, warum also nicht gleich, suggeriert uns das Alte Testament. Der dritte Mensch wurde nach Bibel und Koran also der erste Mörder und der erste Schurke, wenn man Satans schlüpfrige Apfelspiele als nicht irdisch (ja, als wahrlich unterirdisch!) außer Acht lässt.

Und dann auch noch aus einem so kleinlichen Grund! Der Herr, heißt es, zog Abels Opfer aus jungen Tieren und ihrem Fett Kains vegetarisch geprägter Darreichung vor, Kain wurde neidisch und sagte: »Lass uns aufs Feld gehen!« Im 1. Buch Mose (auch als Genesis bekannt) wird das sehr pragmatisch geschildert, denn als Heilige Schrift hat man sich nicht in Literatur zu ergehen, da geht es um Fakten. Das lässt einigen Interpretationsspielraum. Was erhoffte sich Kain, indem er Gottes Liebkind tötete? Wollte er mehr Aufmerksamkeit? War es Rache am Missachtenden? Hatte er sich das wirklich gut überlegt? Kain mag der erste Schurke des Abendlandes sein, unter die brillantesten fällt er nicht.

Die Strafe des Herrn ist auch knapp formuliert: Vertreibung aus dem Ehschon-Exil jenseits des Paradieses ins Lande Nod, und: »Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.« Wenigstens kann Kain sich Schutz vorm Totgeschlagenwerden ausverhandeln und bekommt eine Frau – einigen Quellen zufolge seine Schwester – zur Seite gestellt; »die ward schwanger und gebar den Henoch«. Und so weiter. So pflanzte der Mörder sich fort, und unzählige Nachkommen machten ihrem Ahn alle Ehre.

Auch in der Literatur: Ganze 17 Verse im Alten Testament, die sich dem Urkriminellen widmeten, inspirierten viele weitere Kains. Bei Baudelaire (Die Blumen des Bösen, 1857) ist er ein potenzieller Revolutionär, der Gott entthronen soll. José Saramago (Kain, 2011) schickt ihn zur Strafe für seinen Brudermord nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich auf eine Irrfahrt. Bei Manuel Vicent (Mein Name ist Kain, 1991) ist er Jazzsaxofonist und behauptet, gar nicht der Mörder gewesen zu sein. Und in Steinbecks Jenseits von Eden aus dem Jahr 1955 ist überhaupt alles anders: Die kalifornischen Brüder Charles und Adam überleben ihren Konflikt (vorerst) beide. ■

HERKUNFT: Jenseits von Eden

SOHN VON: Adam und Eva

BRUDER VON: Bitte, wem?

VATER VON: Henoch

BERUF: Ackermann

ANZAHL DER VORFAHREN: SLOGAN: »Bin ich der Hüter meines Bruders?« BESONDERE FANS: Baudelaire, Vicent, Saramago, Steinbeck

LISBETH FISCHER

AUTOR: Honoré de Balzac

TITEL: Die menschliche Komödie 25. Tante Lisbeth

(aus dem Französischen von Paul Zech)

ORIGINALFASSUNG: 1846


»Im Zeitraum dieser drei Jahre hatte Lisbeth auch deutlich genug schon die Fortschritte ihrer Unterhöhlungstaktik wahrnehmen können. Ihr ganzes Sinnen und Trachten hatte sich in diese eine Richtung hin bewegt. Lisbeth dachte, Madame Marneffe handelte. Madame Marneffe war die Axt, die Lisbeth in der Hand hielt. Und diese Hand zertrümmerte nun mit wuchtigen Schlägen jene Familie, die ihr von Stunde zu Stunde verhaßter wurde. Liebe und Haß sind Gefühle, die aus sich selber die Nahrung zum Fortbestehen ziehen. Der Haß jedoch hat eine längere Lebensdauer.

Irgendwer in der Familie muss doch die Rolle der netten, bäurischen, nicht besonders attraktiven und dennoch wählerischen, nicht wirklich ernst zu nehmenden altjungferlichen Tante annehmen? Ja! Es sei denn, du bist es selbst. Dann gibt es irgendwann den Moment, in dem du merkst, dass du diese Figur bist, zum Beispiel wenn deine liebreizende Nichte dir den Mann wegheiratet, den du dir monatelang unter dem Deckmantel der Mütterlichkeit zurechtgepeppelt hast. Dann ist Schluss mit lustig, lieb und Lisbeth. Dann läuft dein affiges Gesicht grün an, du wirst zur Cousine Bette (bête = das Biest) und vergiftest alle – oder subtiler: hilfst ihnen, sich selbst zu vergiften.

So viel Bosheit schwelt in Honoré de Balzacs in Windeseile hingeschriebenem »Feuilletonroman«, dass es ein Vergnügen ist. Man spürt richtig den Genuss, mit dem Balzac seine Figur verachtet: »Nun, ohne eine gewisse Grazie hat eine Frau in Paris keine Existenzberechtigung. Ihr schwarzes Haar, ihre schönen harten Augen, ihre markanten Gesichtszüge und die kalabrische Farbe ihres Teints machten aus Tante Lisbeth eine Giotto-Figur, was sich eine echte Pariserin sicher zunutze gemacht hätte, sie jedoch wie eines jener lächerlichen Äffchen wirken ließ, die von den kleinen Savoyarden in Frauenkleider gesteckt und zur Schau gestellt werden. (…) In dem Riesenverkehr auf den Straßen von Paris sah sich kein Mensch nach Tante Lisbeth um.« Und das rächt sich.

Es ist dieses 19.-Jahrhundert-Paris, in dem es Frauen nur ums Geld geht und Männern darum, mit allen zu schlafen, ausgenommen natürlich ihren Ehefrauen. Hechelnd überschütten sie ihre Mätressen mit Geschenken und Geld, das diese wiederum in ihre eigenen Liebhaber investieren. Hinter allem steht bald Fäden ziehend die gekränkte Tante – gezeichnet nach Balzacs eigener Mutter – und orchestriert höhnisch die Auswüchse der Lüsternheit, an der sie selbst nicht teilhaben darf. Ihre Nachbarin Valérie Marneffe wird von ihr ausgeschickt, um ihren Vetter Hulot (und vier andere Männer) um Verstand und Vermögen zu bringen.

Emotionen kommen dabei kaum auf: Bei den Männern sind die Genitalien die einzig aktiven Organe, bei den Frauen die Rechenzentren im Hirn. Liebe ist Kalkül, Leid die Belohnung. Was Lisbeth letztendlich zugrunde gehen lässt, ist die Erkenntnis darüber, dass Hulots Frau Adeline – selbst eine lächerliche Figur aufgrund der beharrlichen Treue zu ihrem Mann – es schafft, die Familie zu vereinen (vorausgesetzt, der Lustmolch darf seine neueste minderjährige Gespielin mit ins Haus nehmen). Happiness killed the beast. ■

RUFNAMEN: Tante Lisbeth, Cousine Bette

BERUF: Arbeiterin, Gesellschafterin

HOBBY: Heiraten (alternativ: Intrigieren)

SCHÖNHEIT: KOMPLIZIN: Valérie Marneffe ERZFEINDE: die ganze Familie Hulot VORBILDER: u. a. Balzacs Mutter DARSTELLERINNEN: Jessica Lange, Jeanne Balabar