Buch lesen: «Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?», Seite 11

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3.2 Schiffstation

3.2.1 Schiffstation vor-ikonografisch (synchron)

Trotz der etwas geschützten Lage als Föhnhafen ist die Schiffstation vom See her sehr gut sichtbar. (Bild 8). Sie ist zweiteilig. Auf der rechten Seite überspannen drei zum See hin offene Arkaden mit abgeeckten Korbbogen die Wartehalle mit umlaufender Bank im Innern, aussen gedeckt mit einem Krüppelwalmdach. Nach Norden hin füllt eine kleinteilige Befensterung eine ebenfalls mit Korbbogen abgeschlossene Fläche und schliesst den Raum ab. Die zu dieser Wartehalle quer gestellte Schiffsbrücke öffnet sich ebenfalls gegen den See, ruht auf markanten Eckpfeilern, die aus einem hohen steinernen Sockel, einer vierkantigen, wulstigen Holzsäule mit aufwändiger Kapitelzone bestehen. Sie korrespondieren mit den Arkaden-Säulen der Wartehalle und sind zugleich massiver und prägnanter ausgestaltet. Hinter der nördlichen Säule hängt eine Schiffsglocke, welche mit «1902 BVG» bezeichnet ist. Die mit Lorbeer umkreisten, holzgeschnitzten Wappen der Urkantone zieren das Giebelfeld. An der inneren Rückwand der Schiffshalle auf der Höhe der Kapitellzone steht in geschnitzter Schrift: EIN AM RHYN . MICH . ERDENKET . HETT ./SEPP . BLASER . MICH . GEBUWEN ./ES . BHUOT MIN . SCHÄRM DER FRYHEIT . STETT ./UND . MICH . MIN . GOTTVERTRUWEN ./+ 19 + 13 + . Markant ist der Dachaufsatz, der den Stationsnamen «Rütli» in grossen, altertümlichen Lettern zeigt. Insgesamt bekrönen drei Firstspitzen die Dachzinne am Eckpunkt sowie an den beiden Endpunkten; diejenige auf dem östlichen Zinnenende ist plastisch ausgestaltet mit einer farbigen Schwurgruppe als Wetterfahne. An der nordwestlichen Ecke der Anlegestelle steht, von weitem gut sichtbar, eine Schweizerfahne. Dahinter liegt nordwärts ein Hafen für kleine Boote.

Die umfassende Renovation der Anlage von 2008/2012 prägt das Aussehen der unmittelbaren Umgebung. Pflästerung und geschwungene, tiefe Stützmauern sind aus lokalem Granit gefertigt, die Geländer der beiden Wegeinstiege aus roh behauenen, dünnen Baumstämmen.[353]

3.2.2 Schiffstation vor-ikonografisch (diachron)

Die ursprüngliche Anlegestelle, die zum Zeitpunkt des Kaufs aus einem niedrigen, einfachen Schopf bestand, befand sich zwischen der heutigen Kläranlage und der Schiffstation (Bild 7). 1861 wurde der Landeplatz neu angelegt an jener Stelle, wo sich bis heute die Schiffstation befindet.[354] 1867 liess die Kommission die bestehende Schiffshütte ersetzen.[355] Ob der 1869 in Betrieb genommene kleine Schraubendampfer «Rütli» diesen Steg anfuhr, bleibt unklar.[356] Auf jeden Fall konnten Dampfschiffe nun anlegen, doch in der Regel brachten weiterhin Privatboote und Nauen die Reisenden von Brunnen aus über den Urnersee zum Rütli (Bild 9).[357] 15 Jahren später konnte der Hafen erweitert werden dank Absprengungen der Felswand. 1881 schliesslich kam ein Schiffsschopf hinzu.[358]

Die stark zunehmende Nachfrage nach einer günstigen Transportmöglichkeit – nicht zuletzt durch Schulklassen – bewog die Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees, ab 1884 ein- bis zweimal pro Tag am Rütli anzulegen – anfänglich gegen den Widerstand der Rütlikommission und des Schwyzer Lehrerverbandes, die eine «Profanation» und damit eine Beeinträchtigung der Würde und Stille des Geländes befürchteten.[359] Die Argumente der Schifffahrtsgesellschaft, wonach die Tellskapelle im Sommer bereits zehn bis zwölf Mal täglich angefahren werde und sich zudem längst nicht alle die Transportpreise der Schiffer leisten könnten, dürften – wenn auch mit einiger Verzögerung – dazu geführt haben, dass die Kursschiffe ab 1901 mehrmals und regelmässig am Rütli hielten.[360] Der erhöhten Frequenz entsprechend liess die Schifffahrtsgesellschaft schliesslich 1913 die Wartehalle errichten, entworfen vom Luzerner Architekten August am Rhyn (Bild 10). Das Projekt war fachlich von Josef Zemp, zu diesem Zeitpunkt Professor der ETH und der Universität Zürich, und von Robert Durrer, Nidwaldner Staatsarchivar und zugleich Pionier der Schweizer Kunstdenkmalforschung, begleitet worden.[361] Die Pläne einer nicht realisierten Variante des gleichen Architekts zeigen eine vergleichbare Disposition, jedoch eine abweichende Gestaltung der Bauformen und der Bauornamentik.[362] Auffällig ist die unterschiedliche Darstellung des Schwurs. Hier wird das Giebelfeld von einer Schwurszene in Gebirgslandschaft dominiert.

1956 liess die Rütlikommission die Fahnenstange mit Schweizer Flagge aufstellen.[363] Sie wies den Pächter 1982 an, die Fahne mindestens am 1. August, beim Rütlischiessen, am Bettag und an schönen Sommertagen wehen zu lassen.[364] 2008/2012 wird die Windfahne mit Rütlischwur «anhand historischer Fotos rekonstruiert».[365] Tatsächlich enthalten die Originalpläne des Architekten eine solche Windfahne, die jedoch auf keiner historischen Aufnahme zu sehen ist.[366] Möglicherweise ziert deshalb die Schwurgruppe erstmals überhaupt das Dach der Schiffstation.

Ursprünglich ruhte die Wartehalle auf einem vom See her sichtbaren Steinsockel. Dieser wurde 1991 aus bauphysischen Gründen mit einer Stahlbetonplatte mit Natursteinbelag bedeckt.[367] Zum gleichen Zeitpunkt könnte die umlaufende, schlichte Holzbank im Innern der Wartehalle installiert worden sein. 2008/2012 schliesslich folgte eine erneute Sicherung des Fundaments, das nunmehr von einer schützenden Holzlamellenkonstruktion abgedeckt wird.

Auf einer kleinen Anhöhe oberhalb der Schiffstation entstand in den 1870er-Jahren ein weiterer Ruheplatz, der jedoch in der Zwischenkriegszeit bereits aufgegeben wurde. Heute sind noch die Reste der beiden steinernen Ruhebänke sichtbar (Bild 12).[368]

3.2.3 Schiffstation ikonografisch/ikonologisch

Die Rütlikommission beschrieb 1913 die neu erstellte Wartehalle als «praktisch, solid, stilgerecht und schön».[369] Diese vier Eigenschaften beschreiben die Gestalt des Gebäudes treffend. Eine behäbige und dennoch durch historische Stilformen geprägte Eleganz ist kombiniert mit der Funktionalität einer Schiffstation. Der Eindruck der Stilgerechtigkeit soll anhand dreier Elemente diskutiert werden, des Schriftzugs «Rütli», der Inszenierung der Schwurgruppe sowie der architektonischen Stilgebung des Gebäudes.

Der Schriftzug «Rütli» identifiziert den Ort. Auf Fotostreams fotografierender Schiffspassagiere erscheint er immer wieder, isoliert oder in Kombination mit der ganzen Schiffstation.[370] Schrifttypologisch lässt sich der Schriftzug der in der Vorkriegszeit aufgekommenen, schnörkellosen und von der Renaissance ausgehenden Buchtypografie, der Fraktur, zuordnen – eine historische Reminiszenz also, wenn auch eine ausgesprochen spätmittelalterliche.[371] Die Inszenierung der Schwurgruppe ist von besonderem Interesse, nicht zuletzt im Vergleich mit dem im obigen Kapitel erwähnten nicht ausgeführten Projektentwurf. Dieser schlug, sehr gut sichtbar und postkartenähnlich, eine Schwurszene in der realistisch skizzierten Urnersee-Landschaft vor. Während die drei Eidgenossen das schliesslich ausgeführte Giebelfeld nicht zieren, erscheinen sie als farbig ausgeführte Wetterfahnen-Schwurgruppe – eine zwar bekrönende, aber deutlich weniger gut wahrnehmbare Positionierung (Bild 8). Im Giebelfeld der Wartehalle prangen stattdessen die geschnitzten, barock aufgeblähten und lorbeerumrankten Wappen der drei Urkantone. Architekturgeschichtlich enthält das Giebelfeld in der Regel figürliche und ornamentale Darstellungen, die Besitz, Widmung oder Funktion realistisch oder allegorisch zeigen. Im Fall der Schiffstation dürfte es sich am ehesten um eine Widmung handeln, und zwar, bezeichnenderweise, eben nicht für den Rütlischwur im engeren Sinne, sondern für die daran beteiligten Innerschweizer Gebiete. Aber auch diese Widmung ist durch die monochrome, holzfarbene Farbgebung zurückgenommen. Wie und mit welchen Argumenten die Entscheidung der Bauherrschaft zugunsten dieser Ausführung fiel, ist nicht eruierbar.

Die Schiffstation ist ein typisches Beispiel des Heimatstils. Die aktuelle architekturgeschichtliche Forschung definiert ihn als nationale Reformarchitektur, die auf lokalen und regionalen Bautraditionen wurzelt und zugleich die internationalen Stile des Historismus, des Schweizers Holzstils und des Jugendstils überwindet.[372] Seine Inspirationsquellen bilden das ländliche Bauernhaus (Bauernhausstil), das städtische, spätmittelalterliche Bürgerhaus (Bürgerhausstil) sowie – und dies ist für die Schiffstation bedeutsam – die spätbarocke Landsitzarchitektur «um 1800» (Landhausstil). Als epochaler Zeitstil lässt man ihn 1896 (erste Landesausstellung in Genf mit einem «Village suisse») einsetzen und 1914 enden (zweite Landesausstellung in Bern, ebenfalls mit einem Schweizer Dorf). Anknüpfungspunkte findet die architektonische Ausdrucksform des Heimatstils also im Ancien Régime und nicht im Historismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er begleitete und symbolisierte die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die für viele Menschen ein neues, vor allem auch städtisches Lebensumfeld mit sich brachte. Verstärkt durch wirtschaftliche Internationalisierungstendenzen führten Gefühle des Entfremdetseins dazu, dass die Erinnerung an «le bon vieux temps» an Attraktionskraft gewann. Die architektonische Rückbesinnung und Neuinterpretation auf die Stile vor 1800 zeugen von dieser Sehnsucht nach lokaler und regionaler Verankerung, sowohl geografisch als auch emotional.

Der Luzerner August am Rhyn, der Architekt der Station, setzte in Form, Konstruktion und Baumaterial die Ideen des Heimatstils in beispielhafter Weise um.[373] Der Bau der Schiffstation fällt in diesen Zeitraum und weist charakteristische Elemente des Landeshausstils, also spätbarocker Architektur, auf: So ruht das Krüppelwalmdach auf breit ausladenden Korbbögen, die ländlich-massive, bauchige Holzsäulen überspannen. Auch die im Giebelfeld angebrachten Wappen und Ornamente lassen sich derselben Referenzzeit zuordnen. Regional verankert sind besonders die verwendeten Materialien (Holz und Stein). Aber auch architektonische Elemente aus der Referenzzeit des 18. Jahrhunderts sind in lokaler Umgebung nachweisbar. Korbbögen, die leicht bis stark bauchige Holzsäulen auf Steinsockel überspannen und loggiaartige Unterstände bilden, zieren mehrere Gebäude in Altdorf (Kanton Uri).[374]

Die Station für sich erfüllt zwar einen praktischen Zweck, empfängt aber die Besuchenden als Ort, der mehrfach als historische Stätte markiert wird, in soliden, einfachen, etwas schwerfälligen Formen und natürlichen, ortstypischen Materialien. Wie das Rütlihaus bezieht sich die Station in der architektonischen Formensprache auf die Region und auf eine vergangene Zeit: Sie soll Ursprung, Vergangenheit, Tradition ausdrücken. Dieses Moment – das muss einschränkend gesagt werden – dürfte zur Entstehungszeit 1913 wohl weniger historisch verstanden worden sein als heute. Dennoch: Hier, mit diesem inszenierten Nutzbau, soll wichtige Vergangenheit signalisiert werden, durch Gestalt von Architektur und Schrift, Erstere bewusst regional geprägt und verweisend auf die drei Urkantone, die im Giebelfeld zitiert werden. Heute jedoch markanter, flattert seit den 1950er-Jahren die Schweizerfahne neben der Station und verdeutlicht so prominent sowohl den nationalen als auch den thematischen Bezug. Die kürzlich restaurierte Windfahne mit der Schwurgruppe sowie die neue, aufwändige Umgebungsgestaltung deuten darauf hin, dass der Ort historisierend, restaurierend, identitätsstiftend geformt wird.

3.3 Schwurplatz

3.3.1 Schwurplatz vor-ikonografisch (synchron)

Von der Schiffstation aus gelangt man nach kurzem, aber steilem Anstieg zum schattigen Schwurplatz. Er liegt wenige Meter unterhalb des Rütlihauses (Bild 22). Der kreisrunde Platz ist hangseitig von einer zwei Meter hohen Kalkstein-Felsformation umgeben und wird von einem Eibenhain gerahmt. Drei dünne Wasserläufe laufen durch die schrattenartigen, unregelmässigen Kanäle hinunter und verschwinden in Abläufen. Die Kalksteinfelsen münden auf beiden Seiten in schwere Steinbänke. Seeseitig stehen drei Ahornbäume, darunter ein junger, nachgepflanzter, flankiert von Gebüsch, was die Sicht auf den See teilweise verstellt. Zwischen den Ahornbäumen stehen zwei weitere Steinbänke, die sich aufgrund ihrer Formensprache von den anderen unterscheiden, sowie das fünfsprachige Schild, welches den Ort als Schwurplatz bezeichnet (Bild 14). Der Eibenhain ist hangseitig von einem rohen Holzzaun in Kreuzform abgegrenzt. Vom Rand des Schwurplatzes öffnet sich ein grosszügiges Panorama in Richtung Nordosten in das Untere Urnerseebecken mit den beiden markanten Mythen (Bild 15).

3.3.2 Schwurplatz vor-ikonografisch (diachron)

Ein vergrösserter Ausschnitt einer auf ca. 1830 zu datierenden Grafik (Bild 16) sowie eine wohl zeitgleiche Stereoskopie (Bild 16a) zeigen eine der ältesten realistischen Darstellungen des heutigen Schwurplatzes. Darauf sind das Rütlihaus und ein weiteres Holzhaus in steilem Gelände zu sehen. Letzteres steht auf einem ebenen Vorplatz. Mehrere Personen gruppieren sich um den Brunnentrog, in den drei Quellen hineinfliessen. Die damit übereinstimmende Beschreibung liefert der Präsident des helvetischen Grossen Rates, als er 1798 den Besuch des Ortes schildert: «Einsam, beschattet von einigen Bäumen, steht am Abhang des Berges eine steinerne Hütte, aus ihr sprudelt in einen holzernen Brunntrog eine Quelle des reinsten Wassers, welches sich rechts und links über eine kleine Rasenfläche verbreitet, die kaum gross genug war uns alle zu fassen. Hier an diesem engen Plätzchen schwuren, auf Gott und ihre gute Sache vertrauend, die drei edlen Männer, Werner von Stauffacher, Arnold von Melchthal, und Walther Fürst von Uri, den ersten Eid der Freiheit.» [375] Bemerkenswerterweise identifiziert er diese durch das Wasser markierte Stelle als Schwurplatz, eine Identifizierung, die der Genfer Historiker Amédée-Pierre-Jules Pictet de Sergy gut 50 Jahre später nicht eindeutig machen kann, wenn er schreibt, dass es auf dem Gelände zwei Orte gebe, die für die Situierung der Schwurhandlung in Frage kämen.[376] In den Darstellungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die drei Quellen jeweils gut sichtbar, und ihre Bedeutung wird ebenfalls fassbar.[377] Der erste Baedeker-Reiseführer für die Schweiz von 1844 erwähnt die drei Quellen, die gemäss einer Sage auf der Stelle, wo die drei Männer den Schwur geleistet hätten, entsprungen seien.[378] Diese Idee nimmt später unter anderem Karl Jauslin auf, der eine seiner populären Illustrationen zu der Broschüre zum 600-Jahr-Jubiläum der Gründung der Eidgenossenschaft beisteuerte.[379] Der erste schriftliche Beleg dieser zuvor mündlich tradierten Sage stammt von 1808.[380] Aufgrund der zeittypischen Kombination von Gründungs- und Quellmythos verortet Kreis die Entstehung um 1800, einer nicht belegten Quelle zufolge soll bereits 1789 beschlossen worden sein, die drei frisch gefundenen Quellen zu fassen.[381]

Die nunmehr von der SGG eingesetzte Rütlikommission mass der Inszenierung der drei Quellen, «diesem von der Natur hergestellten Monumente» und damit der Gestaltung des Schwurplatzes grosse Bedeutung bei.[382] Ziel war es, das Waschhäuschen abzureissen und durch einfache künstlerische Gestaltung dem Ort monumentalen Charakter zu verleihen. In einem ersten Schritt bat sie den Innerschweizer Architekten Johann Meyer um einen Vorschlag.[383] Dessen Idee, einen einfachen Holzbau zu erstellen, missfiel der Rütlikommission jedoch, da er bautypologisch zu sehr an ein Stationshäuschen oder an eine Bahnhofshalle erinnerte. Diese Ansicht teilte der Zürcher Architekt und ETH-Professor Ferdinand Stadler, der nun seinerseits in einem von der Kommission gewünschten Gutachten die Erstellung einer steinernen Halle empfahl. An der Rückwand im Innern der Halle sah er über den Quellen eine Nische vor mit der Darstellung der Schwurgruppe.[384] Da diese Lösung zu kostenintensiv und monumental erschien, lancierte die Rütlikommission die Idee einer künstlichen, die Natur imitierenden Grotte, in der die Quellen entspringen sollten. Der zu Rate gezogene Stadler stand diesem Vorschlag positiv gegenüber, prognostizierte jedoch, dass auch bei einer solchen Gestaltung sich die Frage der Überdachung und damit des Schutzes der Besuchenden früher oder später stellen würde. Die interne Uneinigkeit führte die Kommission dazu, beim kürzlich berufenen und international geschätzen ETH-Professor Gottfried Semper erneut ein Gutachten einzuholen.[385] Semper unterbreitete zwei Entwürfe in klassisch gehaltenen Formen: eine Variante mit kleinem Rundtempel (Bild 18), eine zweite als flächige Brunnenanlage mit flankierenden Sitzbänken (Bild 19). Diese Pläne lösten eine polemische, nicht zuletzt auf die Person Semper zielende Zeitungskontroverse aus, worauf dieser seine Ideen zurückzog.[386]

In der Folge beschloss die Rütlikommission in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein, unter dessen Mitgliedern einen Wettbewerb auszuschreiben.[387] Die Projekteingaben sollte mehrere Bedingungen erfüllen: Platz für 200 Personen, Verbindung der Quellen mit dem Platz, Sitzmöglichkeiten sowie Aussicht auf den See, einfache Gestaltungsformen, Budget von CHF 5 000. Sowohl die Anzahl als auch die Qualität der Wettbewerbseingaben lagen jedoch unter den Erwartungen. Da in der Wettbewerbsausschreibung die Preisvergabe angekündigt worden war, sah sich das Gremium gezwungen, drei Preise zu verleihen. Die beiden ersten Preise gingen an architektonische Projekte, die ein im Renaissancestil gehaltenes Gebäude resp. eine Quellenhalle vorsahen. Beide hielt die SGG für nicht realisierbar. Das drittplatzierte Projekt des Kunstmalers Anton Bütler aus Luzern, kam ohne architektonische Elemente aus, nahm im Entwurf wenig Bezug zum konkreten Ort, sondern beinhaltete eine naturhafte Inszenierung mit einem zentralen Felsen (Bild 20). Dessen Inschrift «Rütli MCCCVII» identifizierte den Ort, aus ihm entsprangen Quellen, die in einen Teich flossen, flankiert von zwei grottenartigen Unterständen mit Sitzbänken.

Da die gekührten Projekte gemäss Ausschreibung «aus dem ziemlich resultatlosen Konkurs»[388] Eigentum der SGG geworden waren, entschied die Rütlikommission, die Idee Bütlers aufzunehmen und dessen Grundidee mithilfe des bekannten Zürcher Gartenarchitekten Theodor Fröbel umzusetzen.[389] Dabei liess man hügelseitig eine gekrümmte Wand anlegen, die aus rohen Steinblöcken bestand, und bepflanzte sie mit Gesträuch und Alpenblumen. Kurz vor der Fertigstellung liess die Kommission dann aber die Ausführungspläne von Fröbel abändern, ein Bassin anlegen und die Ruhebänke aus Granit ausführen. Die Einweihung fand am 9.11.1865 statt.[390] Mit dieser Umsetzung bemühte sich die Rütlikommission, den gefassten Grundsatz, wonach die Neugestaltung möglichst natürlich und ursprünglich erscheinen solle, zu befolgen. Die Fotografie (vor 1879; Bild 22) zeigt den dann hergestellten Zustand. Die Kommission betrachtete indes die realisierte Lösung lediglich als Herstellung eines Platzes und behielt sich, mittelfristig, die Möglichkeit vor, doch noch eine architektonische Inszenierung zu realisieren. 1878 zog die Rütlikommission einen offenbar bekannten Gartenarchitekten bei, dessen Umgestaltungsvorschlag jedoch als zu künstlich und zu kostspielig verworfen wurde.[391] Stattdessen liess ein Jahr später ein Italiener grössere Stücke von Schrattenkalkstein in Ingenbohl (Kanton Schwyz) absprengen und auf dem Schwurplatz aufrichten; die drei separaten Quellen ergossen sich auch nicht mehr in das davorliegende Bassin, das die Rütlikommission als zu wenig natürlich einschätzte, sondern in künstlich gestaltete Abflüsse.[392] Damit war das Aussehen, wie es heute erhalten ist, geschaffen.

Nicht dokumentiert ist die den Ort stark prägende Bepflanzung mit einem Eibenhain. Ihr Alter ist schwierig zu schätzen und dürfte sicher 100 Jahre betragen.[393] Es ist wahrscheinlich, dass dieser Hain bei der Neugestaltung in den 1870er-Jahren entstanden ist, jedoch nicht ausschliesslich mit Eiben bestückt war wie heute, sondern mit Laub- und anderen Nadelbäumen gemischt (Bilder 21 und 22). Gemäss dem Landschaftsentwicklungskonzept von 2007 soll sich der Eibenbestand mit etlichen Nachpflanzungen sowohl oberhalb der Kalkstein-Felswand als auch an der seeseitigen Böschung und in der nördlichen Weggabelung hinter der separaten alten Sitzbank verdichten.

Der Quellenanlage gegenüber stehen drei Ahornbäume, deren Dreizahl bereits in den ältesten Plänen (Bild 14) eingezeichnet ist. Dazwischen liessen die Landschaftsarchitekten nun zwei massive, schlichte Granitbänke aufstellen, um die Möblierung aufzuwerten und attraktiver zu gestalten.[394]