Fioria Band 2 - Mit Lüge und Wahrheit

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Aus der Reihe: Fioria #2
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Fioria Band 2 - Mit Lüge und Wahrheit
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Fioria

Band 2 Mit Lüge und Wahrheit

Maron Fuchs


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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: papierfresserchen.de

© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2016 - Taschenbuch

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

Titelbild: © germancreative

ISBN: 978-3-96074-533-4 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-083-4 – E-Book

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Widmung

Für alle Füchse, Lienerts und Türks, meine lieben Rhöner Verwandten, vor allem die Großonkel und Großtanten: Trude und Gerd, Hubert und Hilde, Wim und Gabi. Ihr seid schon ein einzigartiger, liebenswerter Haufen!

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Inhalt

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Prolog

Egal, wie viel Mühe man sich gibt, irgendwann findet jedes Versteckspiel ein Ende. Die Wahrheit lässt sich nicht ewig vertuschen, aber je länger sie von Lügen unterdrückt wurde, umso lauter wird sie schreien.

*

Vergebliche Mühe

„Mia! Du bist wieder da! Ich hatte solche Angst um dich“, schluchzte meine Grundschulfreundin, während sie mich in ihrer festen Umarmung beinahe zerquetschte.

„Es ist alles gut, Melodia“, presste ich unter zusammengebissenen Zähnen hervor und strich durch ihre langen blonden Locken. „Es ist viel passiert, aber mir geht’s super.“

Endlich ließ sie mich los, musterte mich aber immer noch besorgt. „Du siehst fertig aus. Und schmutzig ...“

„Ich weiß“, seufzte ich. „Ich bin durch den Wald hergekommen. Eigentlich wollte ich mich umziehen, bevor ich mit euch rede, aber ihr wart schnell hier.“

„Natürlich!“, rief die dunkelhaarige Haru und trat einen Schritt näher an Melodia und mich heran, um mich ebenfalls an sich zu drücken. „Als ich ein Signal von deinem Peilsender gekriegt habe, mussten wir dich sofort sehen.“

Ich erwiderte ihre Umarmung. „Das ist lieb von euch. Aber ihr müsstet doch jetzt eigentlich in der Zweigstelle sein.“

„Wir machen vorzeitige Mittagspause“, winkte Haru ab und ließ mich los.

Die Technikerinnen waren meine liebsten Freundinnen. Sie arbeiteten seit gut zwei Jahren mit mir in der Zweigstelle der Ranger in Windfeld, wir hatten gemeinsam hier angefangen und waren sogar gleich alt.

Als ausgebildete Ordnungshüter kümmerten sich Ranger um unsere Welt, Fioria. Unsere Organisation, die über 150 Zweigstellen und ein Hauptquartier verfügte, lehnte Gewalt strikt ab, weshalb Feuerwaffen beispielsweise vor Jahren verbannt worden waren. Selbst die Ranger trugen keine Waffen bei sich, höchstens einen Elektroschocker, um dafür zu sorgen, dass den Menschen und den Fiorita kein Schaden zugefügt wurde. Um das Gleichgewicht unseres Zusammenlebens mit diesen wundervollen Wesen zu erhalten.

„Warum konnten wir dich erst vorhin orten?“, erkundigte sich Melodia. Ihre grünen Augen ruhten besorgt auf mir. „Warum hast du deinen Peilsender nicht früher eingeschaltet? Dann hätten wir dich gefunden.“

„Weil ich vorher keine Gelegenheit dazu hatte“, erklärte ich und hielt mein silbernes Handy hoch, an dem der Sender befestigt war. Das Mobiltelefon hatte ich für die Arbeit bekommen, ansonsten hätte ich mir keins leisten können. In Fioria kosteten Handys mehr als zwei durchschnittliche Monatsgehälter.

„Du musst uns unbedingt alles erzählen“, verlangte die 17-jährige Technikerin, mit der ich schon in die Grundschule gegangen war.

„Mach ich sofort“, versprach ich. „Lass mich nur erst ins Bad huschen, mein Gesicht waschen und mich umziehen. Ich fühle mich echt schmuddelig. Ihr könnt in der Zwischenzeit Ulrich und Jakob holen. Wir müssen dringend was besprechen, und zwar so schnell wie möglich.“

„Klar, mach dich frisch und wir holen die anderen“, stimmte Haru zu.

Melodia wirkte unzufrieden, weil ich ihre Neugierde nicht sofort stillte, nickte aber und holte ihr Handy aus der Rocktasche. „Ich rufe in der Zweigstelle an, Ulrich und Jakob sind dort.“

Ich lächelte die Blondine an. „Danke.“

Wir standen in meinem Zimmer im Appartementwohnhaus der Ranger. Ich hatte mich unauffällig hineingeschlichen, damit mich niemand sah. Denn die meisten meiner Kollegen wussten nicht, wer ich wirklich war.

Den Beruf des Rangers durften nur Männer ausüben, Frauen war es bloß erlaubt, als Technikerinnen in der Organisation zu arbeiten. Das hatte mich unendlich geärgert, weil ich Ranger werden wollte, seit ich denken konnte. Weil ich die Fiorita beschützen wollte. Also hatte ich mich kurzerhand unter dem falschen Namen Takuto Matsui als Mann ausgegeben und meine Ausbildung zum Ranger gemacht. Sogar meine Grundschulfreundin, die ich einige Jahre nicht mehr gesehen hatte, hatte ich lange täuschen können.

Dummerweise hatten Melodia, Haru, Ulrich und Jakob vor zwei Wochen die Wahrheit herausgefunden.

Allerdings hatten meine Kollegen beschlossen, mich nicht dem Vorsitzenden zu melden und einen letzten Fall weiterbearbeiten zu lassen, bevor ich freiwillig kündigte. Den Fall der Schattenbringer.

Haru strich mir über den Arm. „Bis gleich.“

Ich nickte den beiden Frauen zu. „Ich beeile mich“, versprach ich und nahm frische Klamotten aus dem Schrank. Damit ging ich ins Bad. Leise seufzte ich. Ich konnte nicht fassen, was in letzter Zeit alles passiert war. Es war einfach zu viel.

Ich griff nach einem meiner Kontaktlinsendöschen im Regal und nahm meine farbigen Linsen aus den Augen. Ich blinzelte ein paarmal, dann riskierte ich einen Blick in den Spiegel. Nun sahen meine Iris nicht mehr dunkelbraun aus, sondern offenbarten ihre wahre Farbe. Unten braun, nach oben hin orange werdend. Genauso ungewöhnlich wie meine schulterlangen haselnussbraunen Haare, die von Natur aus von knalligen orangen Strähnen und Spitzen durchzogen wurden.

Ich hatte schon oft versucht, die merkwürdigen Stellen aus meiner Mähne herauszuschneiden, schon allein wegen der Hänseleien während der Schulzeit. Aber dieses Orange war hartnäckig. Kaum schnitt ich eine Strähne ab, färbte sich eine andere orange. Früher hatte ich nicht begriffen, was das bedeutete. Warum ich so komisch aussah. Heute wusste ich es.

Ich war das Mädchen aus der zweiten Legende um meine Heimat Fioria. Jene Auserwählte, die mit den Fiorita verbunden war. Die mit ihnen kommunizieren konnte und ihre Gefühle wahrnahm.

Die meisten Menschen kannten nur eine Gruppe der Fiorita, die Animalia, die überall auf dieser Welt lebten und teilweise sogar als Hausanimalia gehalten wurden. Es gab zahllose verschiedene Arten. Als Mädchen aus der Legende hatte ich allerdings auch schon Geister und Dämonen gesehen.

Laut der ersten Legende sollten die Dämonen grausame, böse Schattenwesen sein, die Geister galten als heldenhafte Beschützer dieser Welt. Ganz korrekt war das allerdings nicht. Dämonenoberhaupt Shadow und seine zwölf Untergebenen waren schon lange nicht mehr böse, dafür bürgten auch die 14 Geister. Und ich wusste es seit über fünf Jahren. Seit ich erfahren hatte, wer ich wirklich war. Dank Shadow, den ich versehentlich zu mir gerufen hatte.

Mithilfe von Gesang konnte ich die Fiorita anlocken, die Geister und Shadow hatten sogar bestimmte Lieder für sich selbst. Die Animalia und die restlichen Dämonen kamen immer, wenn ich beim Singen an sie dachte.

Mein merkwürdiges Aussehen diente als Erkennungsmerkmal. Dadurch entdeckten mich die Dämonen und Geister sofort, wenn sie das Geschehen auf Fioria beobachteten. Der Nachteil war, dass ich deswegen auffiel, wenn ich mich in der Öffentlichkeit zeigte. Angestarrt zu werden hielt ich aus. Aber ich befände mich in Gefahr, wenn jemand meine wahre Identität erkennen würde, denn viele grausame Menschen wollten die Kräfte der Fiorita für sich ausnutzen. Manche dieser Wesen konnten fliegen, andere Feuer oder Wasser speien. Es gab auch solche, die besonders im Einklang mit der Natur standen oder das Wetter beeinflussten. Shadow beherrschte die Dunkelheit, die Anführerin der Geister Luna das Licht. Und ich käme solchen Verbrechern mit meinen Fähigkeiten nur gelegen, weil sie dank mir an die Fiorita herankommen könnten.

Darum auch meine Verkleidung. Darum die Kontaktlinsen und ein Cap, um meine Haare zu verbergen. Um meine Verbündeten zu schützen, arbeitete ich als Ranger, obwohl es nicht leicht war, sich als Mann auszugeben, mit verstellter Stimme zu reden und immer auf der Hut zu sein. Doch für die Fiorita und ihren Schutz täte ich alles, egal, wie groß die Gefahr sein mochte. Ich war stolz darauf, mit ihnen verbunden zu sein.

Schnell kämmte ich mir die Haare und band sie zum Pferdeschwanz. Gründlich wusch ich mir das Gesicht. Danach fühlte ich mich schon besser. Ich zog die zu großen Sportsachen, die nicht mir gehörten, aus und legte sie zur Waschwäsche, bevor ich in meine Jeans und mein T-Shirt schlüpfte. Außerdem setzte ich neue dunkelbraune Kontaktlinsen ein, von denen ich einen ganzen Vorrat im Bad bunkerte.

 

Länger konnte ich die anderen nicht warten lassen, darum kehrte ich ins Hauptzimmer zurück, wo bereits vier Personen meines Berichts harrten. Ein Gespräch mit meinen Kollegen war nach den Geschehnissen der letzten Tage überfällig.

„Mia Sato, du wirst uns sofort Rede und Antwort stehen!“, tobte der schwarzhaarige Jakob und trat zu mir. Er trug die braune Uniform der Ranger und hob seinen Zeigefinger drohend in meine Richtung. „Was war los?“

Eingeschüchtert sah ich den etwa 30-Jährigen an. „Ganz ruhig ...“

Wütend starrte er zurück, doch als er vor mir stand, umarmte er mich plötzlich fest. „Wir haben uns Sorgen gemacht!“

Unwillkürlich lächelte ich. Jakob war ein herzensguter Kerl. Ich drückte ihn sanft. „Es tut mir leid. Aber ich bin nicht absichtlich verschwunden.“

„Das weiß ich“, murmelte er. „Wir haben es mitbekommen.“

„Ach ja?“, wunderte ich mich und ließ ihn los.

Melodia nickte. „Schon vergessen? Wir observieren dein Elternhaus.“

Ich verzog das Gesicht. „Ach ja ...“ Ich hatte nicht dagegen protestieren können, weil die Beschattung gerechtfertigt war. Es tat mir zwar leid, dass meine Mutter ohne ihr Wissen abgehört wurde, doch die Taten meines Vaters hatten uns Rangern keine Wahl gelassen.

„Lass dich erst mal begrüßen“, meldete sich Ulrich zu Wort und lächelte mich ermutigend an. „Schön, dass du zurück bist.“

Ich erwiderte sein Lächeln. Der dunkelblonde, kräftige Mann mit den milden grünen Augen war einer der liebsten Menschen, die ich kannte. Er war der Stationsleiter von Windfeld und grob geschätzt zehn Jahre älter als Jakob.

„Ich freu mich auch.“

Er klopfte mir väterlich auf die Schulter. „Lange nicht gesehen. Konntest du in den letzten beiden Wochen nachdenken?“, fragte er.

Ich nickte. „Meine Entscheidung steht fest. Ich will weiterermitteln, die Schattenbringer aufhalten und meinen Vater hinter Gitter bringen.“

Ulrich hatte mich für zwei Wochen in den Zwangsurlaub geschickt, damit ich einen klaren Kopf bekam. Ich hatte gerade erst erfahren, dass mein eigener Vater eine der gefährlichsten Verbrecherbanden aller Zeiten gegründet hatte und leitete. Er wollte mit seinen Männern die Herrschaft über Fioria erlangen. Völlig größenwahnsinnig. Er hatte meine ahnungslose Mutter und mich jahrelang belogen, dass er als Schreiner arbeiten würde. Er war nicht der Mensch, den ich zu kennen geglaubt hatte. Er war sogar von zu Hause ausgezogen, um den Rangern zu entkommen, und meldete sich nur noch telefonisch bei seiner Frau unter dem Vorwand, er wäre von der Arbeit versetzt worden.

„Ich verstehe. Und was ist in den letzten Tagen passiert?“, fragte der Stationsleiter und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl. „Wir waren entsetzt, als Erik Sato deine Mutter angerufen hat, um ihr zu sagen, du würdest einige Tage bei ihm verbringen. Und weil du im Urlaub deinen Peilsender abgeschaltet hast, damit dich keiner der anderen Ranger findet, konnten wir dich nicht aufspüren. Wir haben das Schlimmste angenommen.“

Ich hockte mich aufs Bett, Haru und Melodia setzten sich sofort zu mir. „Es war auch schlimm“, seufzte ich. „Ich war bei den Schattenbringern gefangen.“

Jakob blieb stehen, er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Schreibtisch. „Dann erzähl endlich“, bat der Schwarzhaarige. „Wir müssen gleich zurück in die Zweigstelle. Wir haben Dienst.“

„Sehe ich, ihr tragt alle eure Uniformen“, entgegnete ich und musterte die beiden Männer mit den braunen Klamotten sowie die Frauen mit der gelben Arbeitskleidung. „Es eilt sowieso, wir haben bestimmt nicht viel Zeit, bis die Spur kalt wird, die ich habe. Wo fange ich am besten an ...“

So kurz wie möglich berichtete ich von den Geschehnissen der letzten Tage. Warum ich nicht mehr bei meiner Mutter Cassandra in Brislingen gewesen war. Was ich erlebt hatte.

„Was?“, schrie Ulrich entsetzt. „Dein Vater hat Shadow unter seine Kontrolle gebracht und dich entführt? Du warst in der Schattenwelt, um den Dämon zu befreien und Lloyd hat dir auch noch dabei geholfen?“

Ich nickte. „Genau. Ich hab mithilfe der Fiorita verhindert, dass mein Vater den Himmel mit einem riesigen Schatten verdunkelt. Wir haben Shadow rechtzeitig aufgehalten, und als er wieder bei klarem Verstand war, hat er den Schatten sofort aufgelöst. Diesmal hat der Plan der Schattenbringer nicht funktioniert.“

Melodia wirkte verstört. „Darum war es plötzlich so dunkel ...“

„Ich fasse es echt nicht“, murmelte Haru. „Und das alles im Alleingang ...“

„Nein, die Falle meines Vaters war zu grausam. Ohne Lloyd und die Fiorita wäre ich aufgeschmissen gewesen“, entgegnete ich.

„Anscheinend ist dein Freund ein echt guter Kerl“, merkte Melodia lächelnd an.

Ich erwiderte ihr Lächeln. „Das ist er. Er hat viel Ärger von meinem Vater bekommen, weil er seine eigene Organisation sabotiert hat.“

Derjenige, in den ich mich vor einiger Zeit Hals über Kopf verliebt hatte, war ausgerechnet der zweite Boss der Schattenbringer. Lloyd und ich führten seit vier Monaten eine Beziehung, trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten. Obwohl wir in gegnerischen Organisationen arbeiteten. Und als er gesehen hatte, wie schlecht es mir ging, weil mein Vater mir Shadow entrissen hatte, hatte er alles getan, um mir zu helfen.

„Aber dein Vater wird weiterhin versuchen, deine Fähigkeiten auszunutzen und die Fiorita zu unterwerfen“, zischte Jakob.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Die Schattenbringer arbeiten an einem neuen Plan, hat Lloyd mir gesagt. Ich bin außer Gefahr. Vorerst.“

Melodia strich ihren Rock glatt und hakte sich dann bei mir ein, während sie zugleich ihren Kopf auf meine Schulter legte. „Ein Glück!“

„Und von welcher Spur hast du vorhin geredet?“, fragte Ulrich.

„Vom zweitgrößten Versteck der Schattenbringer“, erzählte ich. „Es liegt im Meer auf einer ehemaligen Bohrinsel. Wir haben bestimmt nicht viel Zeit, bis die Mistkerle es räumen. Wenn wir uns beeilen, erwischen wir vielleicht ein paar von ihnen, möglicherweise sogar meinen Vater. Es ist keine drei Stunden her, dass ich dort war.“

Augenblicklich sprang Ulrich vom Stuhl auf, Jakob stieß sich vom Schreibtisch ab. „Dann los! Wo genau im Meer?“, drängte der jüngere der beiden Ranger.

„Ich glaube, südlich der Küstenstadt Jafot“, vermutete ich.

„Wir geben den anderen Bescheid, wir brauchen alle Windfeld-Ranger zur Verstärkung und brechen sofort auf“, beschloss Ulrich.

Jakob nickte und schloss seine Uniformjacke über dem weißen Hemd. „Wie erklären wir den anderen, woher wir den Ort des Verstecks kennen? Ohne Mia zu erwähnen.“

„Anonymer Hinweis“, antwortete der Stationsleiter knapp.

„Ich komme mit“, meldete ich mich zu Wort.

Ulrich schüttelte den Kopf. „Nein, du hast deine Uniform nicht hier. Als Mädchen kannst du nicht mitkommen.“

„Dann hole ich sie von zu Hause und komme nach“, brummte ich. „Ihr nehmt die Flugvögel, oder? Mit dem Fluggeist werde ich nicht viel später als ihr auf der Bohrinsel sein. Wir treffen uns dort.“

„Lass dich nur nicht mit dem Fluggeist sehen“, warnte mich Jakob.

„Ich bin vorsichtig“, versprach ich.

Danach ging alles ganz schnell. Ulrich und Jakob stürmten nach draußen, ich schnappte mir ein Paar Turnschuhe. Sie waren relativ neu und fühlten sich ungewohnt an, doch meine alten hatte ich im Versteck der Schattenbringer gelassen. Auch eine dünne Jacke streifte ich über, weil mir der Flugwind im T-Shirt zu kalt werden würde, selbst auf der kurzen Strecke nach Brislingen. Es war zwar Sommer, aber noch nicht allzu warm. Um meine Haare zu verdecken, setzte ich eine rote Mütze auf.

Außer Ulrich und Jakob suchten alle Windfeld-Ranger und wenige eingeweihte aus dem Hauptquartier nach mir. Ich war zur Fahndung ausgeschrieben, nicht nur wegen des Verdachts, ich könnte das Mädchen aus der Legende sein, sondern auch, weil ich als Verbrecherin galt, seit ich auf einem Date mit Lloyd gesehen worden war. Die Ranger hatten falsche Schlüsse daraus gezogen.

„Musst du wirklich wieder weg?“, fragte Melodia gequält. „Du bist doch gerade erst zurückgekommen.“

„Es hilft nichts“, entgegnete ich und rückte die Mütze zurecht, sodass meine Haare vollständig bedeckt wurden. „Ich will meinen Vater eigenhändig dingfest machen. Das lasse ich mir von niemandem nehmen.“

„Vergiss vor lauter Wut aber nicht, wie gefährlich die Schattenbringer sind!“, ermahnte Haru mich. „Sie sind brutale, skrupellose Verbrecher, die Kampfsport können.“

Ich grinste schief. „Das kann ich auch, und zwar sogar mehrere Arten.“ Da sie mich vorwurfsvoll ansah, ergänzte ich: „Keine Sorge, ich weiß es doch und würde sie niemals unterschätzen. Ich hab am eigenen Leib erfahren, wie grausam mein Vater und seine Organisation sind. Und dass sie alles täten, um an Macht zu kommen.“

Nun wirkte die Dunkelhaarige zufrieden. „Na dann, Takuto Matsui, bester Ranger-Neuling, den Windfeld je hatte, mach sie fertig!“

„Darauf kannst du dich verlassen“, versprach ich ihr. Ich wollte all meine Fähigkeiten nutzen, um diese Verbrecher zu stoppen.

Ich umarmte die beiden Mädchen zum Abschied, länger als gewöhnlich, weil ich spürte, wie sehr sie sich sorgten, doch dann riss ich mich von ihnen los und verließ das Appartementwohnhaus. Auf den Straßen war es ruhig, wie üblich in Windfeld. Ich liebte diese Stadt, in der es viele Grünflächen gab. Es herrschte eine friedliche Atmosphäre, der eine oder andere Diebstahl oder so manche Prügelei waren die einzigen nennenswerten Vorkommnisse.

Da ich gerade keine Menschenseele in der Nähe entdeckte, schloss ich die Augen und stimmte ein kurzes Lied an. Dabei dachte ich an einen Flugvogel und gleich darauf hörte ich neben mir ein Zwitschern. Als ich aufblickte, sah ich direkt in die dunklen Augen eines Animalias. Diese Art, die Flugvögel, wurden von den Rangern als Fortbewegungsmittel genutzt. Man kam mit ihnen besser voran als mit dem Auto oder dem Fioria-Express.

Sanft strich ich über das braune Gefieder des Fiorita. „Bringst du mich bitte nach Brislingen?“

Das Geschöpf ließ mich seine Zustimmung spüren, also stieg ich auf. Weil ich fühlte, welche Bewegung das Animalia machen würde, bevor es sie machte, kam ich sehr schnell auf ihm voran. Bald erreichten wir Brislingen, und das in Rekordzeit. Mit einem rasanten Sturzflug landete ich nahe dem Dorf im Wald, der Brislingen von der nächsten Großstadt Gakuen trennte.

Nachdem ich mich von dem Flugvogel verabschiedet und ihn weggeschickt hatte, blickte ich mich kurz um. Einige Animalia kamen auf mich zu, die zotteligen Feuerhunde und die kleinen gelbgrünen Waldelfen. Da musste ich lächeln. Ich kraulte das schwarze Fell eines Feuerhundes, das von zwei roten Streifen durchzogen wurde.

„Schön, euch zu sehen. Endlich sind alle Animalia, die die Schattenbringer gefangen haben, wieder frei und da, wo sie eigentlich leben und hingehören.“ Der Feuerhund bellte zur Bestätigung. „Seid mir nicht böse, aber ich muss mich beeilen.“ Verlegen sah ich die Animalia an. „Ich komme bald wieder, um mit euch zu spielen, versprochen.“

Ich kannte die Bewohner dieses Waldes seit Jahren, weil ich hier aufgewachsen war. Natürlich waren im Laufe der Zeit manche der Wesen gestorben, doch das ließ sich nicht verhindern. Animalia hatten eine begrenzte Lebensspanne, im Gegensatz zu den beiden anderen Gruppen der Fiorita. Dämonen und Geister konnten einander zwar verletzen oder töten, waren ansonsten aber unsterblich.

Zwei Waldelfen tänzelten um meine Füße. Ich verstand, dass sie sich von mir verabschieden wollten. Und so verabschiedete auch ich mich von den Animalia und lief über die Dorfstraße zu mir nach Hause. Zu dem wohlbekannten, weiß verputzten Haus mit den vielen Blumenkästen an den Fenstern und dem blühenden Garten. Meine Mutter hatte wirklich einen grünen Daumen, sie pflegte Pflanzen nur zu gern.

Mit gemischten Gefühlen klingelte ich. Einerseits mochte ich das Haus, andererseits erinnerte es mich an meinen verlogenen, bösartigen Vater. So ein großes und schönes Heim hätten wir uns von einem Schreinergehalt bestimmt nicht leisten können, zumal meine Mutter als Hausfrau kein Geld verdiente. Erik hatte es durch seine Verbrecherorganisation finanziert. Eine schreckliche Vorstellung.

 

Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, öffnete meine Mutter schon die Tür. „Mia?!“, begrüßte sie mich verwundert und warf ein paar ihrer blonden Locken über die Schultern zurück. Sie sah hübsch aus, sommerlich angezogen mit einem knielangen Rock und einem hellen T-Shirt. „Wolltest du nicht zur Arbeit, bevor du wiederkommst?“

„Ja, aber mein Gepäck ist noch hier“, antwortete ich und umarmte sie. „Das hab ich vergessen.“

Als wir uns losließen, winkte sie mich ins Haus. „Komm doch rein.“

„Ich hab nicht viel Zeit,“, erklärte ich und folgte ihr hinein. Hinter mir schloss ich die Haustür. „Ich muss gleich weiter zur Arbeit.“

„Verstehe. Aber, Schatz, wie ...“ Das Knurren meines Magens unterbrach sie mitten im Satz. Erstaunt drehte sie sich zu mir um, ich lächelte verlegen.

„Gab es etwa kein Frühstück bei deinem Vater?“, fragte meine Mutter entsetzt.

„Nein, gab es nicht“, murmelte ich und unterdrückte den Wutanfall, den ich beinahe bekommen hätte, weil sie Erik erwähnte.

„Dann mache ich dir schnell was“, beschloss sie.

„Nicht nötig, ich muss arbeiten“, winkte ich ab. „Ich will nur meine Sachen holen.“

„Es ist fast Mittag, du musst doch etwas essen! So kannst du unmöglich zur Arbeit“, widersprach sie.

Ich zuckte mit den Schultern. „Doch, ausnahmsweise geht das schon.“ Ich war schließlich in Eile. Ich hatte keine Zeit, um jetzt zu essen.

„Du isst wenigstens eine kleine Brotzeit mit mir“, befahl sie und deutete mit erhobenem Zeigefinger auf meine Brust. „Und zwar sofort! Ansonsten lasse ich dich nicht aus dem Haus, und erst recht nicht mit deinem Gepäck.“

Der sture Ausdruck in ihren blauen Augen zeigte mir, dass ich keine Chance hatte. Meine Mutter würde nicht nachgeben, bis ich etwas aß. Und ehrlich gesagt hatte ich Hunger – heute war schließlich schrecklich viel passiert.

Also ergab ich mich. „Okay, okay.“

Wir deckten den Tisch mit Brot, Butter, Käse, Wurst und Eiern. Natürlich aß ich keine Wurst auf meinem Brot, denn ich war überzeugte Vegetarierin und konnte unmöglich meine geliebten Verbündeten essen. Schlimm genug, dass so viele von ihnen geschlachtet wurden ...

„Was hast du denn alles mit deinem Vater unternommen?“, erkundigte sich meine Mutter beim Essen. „Lange warst du ja nicht bei ihm.“

„Die Zeit hat gereicht“, entgegnete ich knapp. „Wir haben viel geredet und uns viel bewegt. Ich war ordentlich unterwegs.“ Immerhin log ich nicht.

„Und wie sieht seine Mietwohnung aus?“, hakte sie nach. „Ich war noch gar nicht dort, bisher hat es sich nicht ergeben.“

Natürlich hatte es sich nicht ergeben. Mein Vater würde niemals zulassen, dass seine Frau von seinem wahren Beruf erfuhr. Wahrscheinlich hielt er sie mit dummen Ausreden fern.

„Mir gefällt nicht, wo er wohnt“, äußerte ich mich. „Zu düster und grau.“ Langsam wurde es schwierig, meine Aussagen so unkonkret zu machen, dass sie noch der Wahrheit entsprachen. Außerdem musste ich mich sehr zusammenreißen, um so zu tun, als sähe ich Erik noch als meinen Vater an. Als wollte ich ihn nicht sofort ins Gefängnis werfen.

„Erik hatte noch nie ein glückliches Händchen bei der Inneneinrichtung“, seufzte meine Mutter. „Ich muss ihn wohl doch bald mal besuchen. Sonst lebt er weiter in so einem Loch.“

Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Mach das. Ich muss jetzt aber wirklich los, ich bin schon eine Stunde hier ...“

Sie nickte. „Na gut. Ich räume die Küche auf, hol deine Sachen und geh.“

„Danke, Mama. Auch für das Essen“, entgegnete ich und umarmte sie fest.

„Gerne, Schatz. Für dich doch immer. Hab einen schönen Tag und lass von dir hören.“ Lächelnd löste sie sich von mir.

„Klar“, versprach ich und huschte in mein Zimmer, um meinen Rucksack und den Koffer, in dem sich unter anderem meine Uniform befand, zu holen.

Der Gedanke, dass meine Mutter alles erfahren und den Schock ihres Lebens erleiden könnte, gefiel mir nicht. Mir war klar, dass es irgendwann so kommen musste. Irgendwann würde Erik festgenommen werden, also ließ sich nicht vermeiden, dass Cassandra die ganze Wahrheit erfuhr. Aber die Vorstellung bereitete mir Bauchweh. Sie wusste ja nicht mal, wer ich wirklich war ...

Kurz fiel mein Blick auf die große Tasche mit Lloyds E-Gitarre, die an meinem Kleiderschrank lehnte. Unwillkürlich musste ich lächeln. Mein Freund hatte mir im Zwangsurlaub Gesellschaft geleistet und mir ein paar Griffe auf dem Instrument beigebracht. So gerne, wie ich sang, spielte er Gitarre. Wir waren beide begeistert von Musik.

Doch ich riss mich rasch von der Erinnerung los, weil es etwas Wichtigeres gab. Ich musste meinen Kollegen helfen, das Versteck der Schattenbringer zu durchsuchen und jeden anwesenden Verbrecher zu verhaften. Hoffentlich befand sich Lloyd nicht mehr im Gebäude ... Er war der Einzige, den ich niemals festnehmen könnte.

Nachdem ich mich von meiner Mutter verabschiedet hatte, rannte ich aus Brislingen hinaus zum Eingang des Waldes. Hier konnte ich ungesehen einen Flugvogel rufen. Obwohl ich mit dem Animalia zügig vorankam, verlor ich zu viel Zeit. Erst das Essen mit meiner Mutter und jetzt musste ich auch noch nach Windfeld, weil ich mich nirgendwo umziehen und in den Ranger Takuto verwandeln konnte – außer bei mir zu Hause.

In Rekordzeit stürmte ich in den ersten Stock, in dem mein Zimmer lag, und knallte die Tür hinter mir zu. Ich stellte mein Gepäck ab und holte meine Uniform aus dem Koffer. Dann pfefferte ich meine Klamotten über die Stuhllehne und schlüpfte in die dunkelbraune Hose, die enge Jeansweste, das weiße Hemd und die hellbraune Jacke. Außerdem legte ich mein braunes Halstuch an und versteckte meine Haare unter einem braunen Cap. Ein Blick in den Spiegel versicherte mir, dass ich als Mann durchging. Die Weste und die zu große Uniform kaschierten meine weiblichen Rundungen, mein fehlender Adamsapfel fiel unter dem Halstuch nicht auf und durch das Cap und die farbigen Kontaktlinsen sah niemand meine auffälligen Haare und Augen.

Bevor ich das Zimmer verließ, versteckte ich den Koffer unter meinem Bett. Zum Auspacken hatte ich keine Zeit und immerhin befand sich meine Unterwäsche darin, die niemand entdecken sollte. Sonst würde ich sofort auffliegen. Und durch all diese Sicherheitsvorkehrungen hatte ich schon wieder Zeit verloren. Wenn ich nicht endlich beim Versteck der Schattenbringer ankäme, bliebe kein Verbrecher mehr für mich übrig. Dabei wollte ich so viele Organisationsmitglieder wie möglich festnehmen, allen voran meinen Vater.

Doch als ich aus dem Appartementwohnhaus auf den Gehsteig trat, wurde ich schon wieder aufgehalten. „Mi... Takuto, warte!“

Ich musste mich gar nicht umdrehen, um zu wissen, dass Melodia neben mir an der Haustür stand. „Was ist denn?“, fragte ich und blieb widerwillig stehen.

Meine Grundschulfreundin biss sich leicht auf die Unterlippe und wickelte einige ihrer blonden Locken um ihren Zeigefinger. „Bitte geh jetzt nicht!“, flehte sie. „Es wird bestimmt übel enden!“

„Ich kann mich verteidigen, das weißt du doch“, seufzte ich und klopfte ihr auf die Schulter. „Ich bin wieder fit für den Einsatz.“

„Nein, Mia!“, zischte sie. „Du steckst persönlich zu tief in diesem Fall. Mein Vater hatte auch mal so einen, nämlich als meine Tante umgebracht wurde. Er ist an den Ermittlungen fast zugrundegegangen. Also lass es, bitte!“

Erschrocken von ihrem eindringlichen Tonfall und dem wütenden Ausdruck in ihren grünen Augen zuckte ich ein Stück zurück. An den Fall erinnerte ich mich, damals waren wir in der fünften Klasse gewesen. Melodias Vater, der ebenfalls als Ranger arbeitete, hatte damals wirklich viel durchgemacht. Aber das waren völlig andere Umstände gewesen.

„Melodia, vertrau mir“, bat ich. „Ich werde das erledigen wie jeden anderen Job. Professionell und zügig. Es wird doch sowieso mein letzter Fall sein.“

Sie zupfte an der gelben Jacke ihrer Uniform. „Nein, es muss nicht dein letzter Fall sein. Du kannst weiter als Takuto arbeiten, Ulrich und Jakob hätten bestimmt nichts dagegen. Also überstürz es doch nicht.“

Ich runzelte die Stirn. Worum genau ging es meiner Freundin eigentlich gerade? Sorgte sie sich um mich oder wollte sie einfach nicht, dass ich aus der Zweigstelle Windfeld verschwand? Oder vielleicht sogar beides?