Buch lesen: «Cooldown»
MARKUS VÄTH
Cooldown
Die Zukunft der Arbeit und wie wir sie meistern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
Redaktion und Register: Christina Knüllig, Hamburg
Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de
Umschlagfoto: c/Fotolia
© 2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2013 erschienenen Buchtitel »Cooldown.
Die Zukunft der Arbeit und wie wir sie meistern« von Markus Väth, ©2013 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-514-5
ISBN epub: 978-3-95623-009-7
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.
Inhalt
Vorwort
TEIL I: DIE DRITTE TRANSFORMATION
Warum »Transformation«?
Die Drei Transformationen
Veränderungen durch die Dritte Transformation
Die vernetzte Gesellschaft: Informationsflut und kommunikative Überlastung
Die neue Unsicherheit: Vielfältige Arbeitsformen und -biografien
Die neuen Kranken: Stress, Burnout und Co.
Das neue Ich: Arbeit und die Suche nach dem Sinn
Die neuen Chefs: Führung im Wandel
TEIL II: REIF FÜR DIE INSEL® – WIE SIE DIE DRITTE TRANSFORMATION MEISTERN
Was bedeutet »INSEL«?
Information
Die Banane und die Doppelbindung
Wenn die Deiche brechen
Das Filterproblem
Der menschliche Faktor
Netzwerk
Von Influencern und Silodenkern
Reden, aber richtig
Netzwerk-Management
Kein Netz ohne Zentrum
Selbstmanagement
Von Trümmerfrauen und Wissensarbeitern
Der innere Schweinehund
Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt …
Fünf goldene Regeln
Ethik
Von Aristoteles zum Konstruktivismus
Der seelische Fingerabdruck
Leitbild oder Leidbild?
Leadership
Was bedeutet Leadership?
Sich selbst führen
Andere führen
Der Cooldown – keine Utopie
Anmerkungen
Über den Autor
»I heat up, I can’t cool down You got me spinnin’ ’round and ’round ’Round and ’round and ’round it goes Where it stops – nobody knows« Steve Miller Band, »Abracadabra«
»Die größte Schwierigkeit der Welt besteht nicht darin, Leute zu bewegen, neue Ideen anzunehmen, sondern alte zu vergessen.« John Maynard Keynes
Vorwort
Es gibt Veränderungen, die spürt man sofort. Plötzlicher Regen, Schmerz, eine Trennung – all das hat auf uns eine unmittelbare Wirkung. Und all das erleben wir jeden Tag, immer wieder. Deswegen ist jeder Tag für uns neu, eine Herausforderung, ein Geschenk. Doch es gibt Veränderungen, die wir nicht so schnell bemerken: politische Strömungen, die auf- und abtauchen, gesellschaftliche Bewusstseinslagen, der langsame Niedergang einer Firma. Diese Art der Veränderung vollzieht sich über einen längeren Zeitraum, weniger mit Donner und Blitz, sondern eher mit leisen und dennoch markanten Tönen.
Schleichende Veränderungen bemerken wir nicht sofort
Eine solche langsame, jedoch überall spürbare Veränderung findet gerade in unserer Arbeitswelt statt. Ich nenne sie die »Dritte Transformation«. Die Dynamik der Dritten Transformation hat viele Gesichter: die Aufsplitterung der Beschäftigungsverhältnisse, die Zunahme von Burnout, Depression und anderen seelischen Leiden, die Suche nach Sinn in der eigenen Arbeit, der Anspruch einer neuen, modernen Führung oder die überbordende Kommunikation unserer Tage. In der einen oder anderen Form begegnen wir den Auswirkungen der Dritten Transformation jeden Tag. Wir erleben sie am Arbeitsplatz, lesen entsprechende Nachrichten, führen Diskussionen mit Kollegen und Freunden. Wir halten alle einige Stücke des großen Puzzles in der Hand. Um jedoch zu verstehen, wie weit diese Veränderungen in der Arbeitswelt gehen und wie wir ihnen begegnen sollten, müssen wir das Puzzle zusammensetzen, uns einen Überblick verschaffen.
Genau das versuche ich mit diesem Buch. Im ersten Teil erläutere ich die Dynamik der Dritten Transformation, lege die Puzzleteile zusammen und erkläre, wie sie unser aller (Arbeits-)Leben bestimmt. Im zweiten Teil widme ich mich möglichen Lösungen. Unter dem Begriff INSEL beschreibe ich fünf Faktoren, die auf das Gelingen der Dritten Transformation erheblichen Einfluss haben: Information, Netzwerk, Selbstmanagement, Ethik und Leadership. In all diesen Themen können wir gestaltend wirken, damit uns die Dritte Transformation nicht überwältigt, sondern wir sie bewältigen. Damit sie nicht zur Belastung wird, sondern zur Herausforderung, zur Inspiration. Damit wir nicht nur die Risiken und Gefahren sehen, sondern auch die Chancen des nächsten Schritts – die Lust an der Weiterentwicklung.
Dieses Buch möchte vor allem Antworten bieten. Antworten auf die vielen Reaktionen, die mich auf mein letztes Buch Feierabend hab’ ich, wenn ich tot bin erreicht haben oder auf die vielen Fragen und Hoffnungen meiner Klienten, die ich in den letzten Jahren begleiten durfte.
Nachdem Mitte 2011 mein Buch zum Thema »Burnout« auf den Markt kam, war das Echo durchweg positiv. Das hat mich sehr gefreut und mich in der Annahme bestärkt, dass die Menschen mehr von uns Fachleuten erwarten als die Verortung von Burnout als rein individuelles Problem. Denn auch die Gesellschaft und die Wirtschaft haben ihren Anteil daran. Viele Leserinnen und Leser waren froh, dass sie nun »Verantwortung abgeben« konnten, denn bislang wurde ihnen eingetrichtert, dass sie selbst schuld seien an ihrem Burnout. Für viele bedeutete es eine enorme Entlastung, den Blick einmal nach außen zu richten und festzustellen, dass auch Organisationen Werte, Prozesse und Strukturen entwickeln, die zu einem individuellen Burnout führen können.
Manche Leser bemängelten, dass ich kein spezielles »Lösungsbuch« geschrieben hatte. Ihr Lob für die sorgfältige Analyse verband sich mit dem Bedauern, nun mit den Fragezeichen alleingelassen zu werden. Dazu muss ich sagen, dass das »Feierabend«-Buch ausdrücklich nicht als klassischer Ratgeber geplant war. Denn für Burnout gab es bereits mehrere Bücher. Ich wollte das Thema Burnout in einen größeren Kontext rücken, wollte die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhang stellen und auch die Unternehmen in den Blick und in die Pflicht nehmen. Das ist mir gelungen, und die mediale Diskussion der letzten Zeit verdeutlicht, dass der systemische Aspekt von Burnout in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Ich schrieb das »Feierabend«-Buch aus einem bestimmten Bedürfnis heraus, genauso wie auch das aktuelle Buch. War es damals Unzufriedenheit über den festgefahrenen Stand der Diskussion, geht es mir jetzt um konkrete Lösungen und um die Beantwortung der Fragen: Wie können wir die Dritte Transformation meistern? Wie können wir den menschlichen Geist mit den neuen Technologien versöhnen? Wie können wir eine neue Art von Führung aufbauen? Wie können wir Sinn in unserer Arbeit entdecken und leben? Wie können wir produktiv und gleichzeitig geistig und körperlich gesund bleiben?
Arbeit nach menschlichem Maß gestalten: Dieses Ziel gilt immer noch
Denn jenseits unserer individuellen Persönlichkeit agieren und reagieren wir alle nach bestimmten evolutionär und genetisch geprägten Schemata, Denkmustern und Instinkten. Daher geht es bei einem »Cooldown der Arbeitswelt« nicht nur um die Integration der eigenen Persönlichkeit in ein bestimmtes Umfeld oder um die Verbesserung von Strukturen in der Arbeitswelt.
Es geht auch um die Frage, wie wir unser evolutionäres Menschsein mit der modernen Arbeitswelt versöhnen. Was wir tun können, wenn die Neuropsychologie des Menschen auf Hyperkommunikation und die ausufernde Komplexität moderner Arbeitsplätze trifft. Wie sollen wir uns in modernen Gruppen und Netzwerken zurechtfinden, wenn wir als Herdenwesen von bestimmten Instinkten und Eigenschaften gelenkt werden? Ignorieren wir unsere biologische Grundausstattung, wenn wir unsere Aufgaben strukturieren, wenn wir kommunizieren, sogar wenn wir unser Büro gestalten, dann werden wir irgendwann Schiffbruch erleiden bzw. die nächste Notaufnahme auch einmal von innen sehen.
Damit es dazu nicht kommt, habe ich in diesem Buch einige entsprechende Ideen zusammengefasst und daraus ein Modell geformt, das INSEL-Modell*. Es ist natürlich nicht alles neu. Manches ist schon gedacht und gesagt worden. Das vermindert jedoch nicht dessen grundsätzliche Richtigkeit. Manchmal muss man Dinge einfach mehrmals sagen, bevor sie verstanden und umgesetzt werden. Fragen Sie mal Ihre Kinder (oder Ihre Eltern). Mir geht es darum, Probleme von Organisationen mit einem praktischen Ansatz zu lösen. Hierbei schließe ich sehenden Auges einen Kompromiss: Weder theoretische Erschöpfung noch eine völlig theoriefreie Perspektive halte ich für zielführend. Daher spiegelt das vorliegende Buch meine professionelle Meinung als Psychologe, meine ganz persönliche Erfahrung als (Ex-)Angestellter, Coach und Berater wider sowie einen individuell kreativen Ansatz. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ich hoffe, Sie haben beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Schreiben. Und natürlich wünsche ich mir, dass Sie einiges für sich umsetzen können, bei sich selbst oder in Ihrer Firma. Schreiben Sie mir, welche Erfahrungen Sie mit der Umsetzung gemacht haben, was Sie gut fanden oder auch nicht so gelungen. Ich freue mich immer, wenn mir Leser Feedback geben, denn man lernt auch als Psychologe und Autor nie aus.
Dieses Buch bietet Lösungen an. Aber kein »one size fits all«
Ich glaube, der moderne Mensch (der ja auch ein arbeitender Mensch ist) hat kein Interesse daran, nur zu jammern und Zustände zu beklagen. Er will Lösungen, die er umsetzen kann – nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in der Umwelt, in der Wirtschaft oder der Politik. Daher geht das vorliegende Buch über die Analyse von Organisationen hinaus und bietet eine Lösung an. Damit macht man sich angreifbar, weil Lösungen im betrieblichen Umfeld selten eine »one size fits all«-Lösung sein können. Dennoch glaube ich, die INSEL kann einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung in Organisationen leisten. Bertolt Brecht hat gesagt: »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Dieses Bonmot, leicht umformuliert, trifft es ganz gut: »Wer kreativ entwickelt, riskiert. Wer nur kritisiert, bleibt stehen.«
* Das INSEL-Modell ist eine eingetragene Wortmarke.
Teil I
Warum »Transformation«?
Alles Lebendige verändert sich fortwährend
Leben bedeutet Veränderung. Wir werden geboren, werden älter und sterben schließlich – der normale Zyklus des Lebens. So gut wie alle regulativen Vorgänge in der Natur unterliegen diesen Zyklen. »Panta rhei»– alles fließt, wussten schon die alten Griechen. Das Einzige, was in der Welt sicher ist, ist die Unsicherheit, die Veränderung. Alles verändert sich fortwährend, wandelt seine Gestalt, passt sich an, tritt ein in die ewigen Wechselläufe der Evolution. Von den philosophischen Schulen über den Naturforscher Charles Darwin bis zu den Astrophysikern unserer Tage, die Sternen bei Geburt und Tod zusehen, ist die Erkenntnis der steten Veränderung eine Grundlage unseres Weltverständnisses.
Das Erkennen dieser transformationalen Muster ist laut Darwin unerlässlich für das Überleben einer Art: »Intelligence is based on how efficient a species became at doing the things they need to survive.«1 Nach Darwin zeigt sich in der Anpassungsfähigkeit von Tier und Mensch seine Intelligenz, die Fähigkeit zu überleben. In einer komplexen Gesellschaft wie der unseren gehört zu solch einem »Erkennen« nicht nur die Dynamik des eigenen Lebens. Wir sind spätestens seit der beginnenden Industrialisierung vor 200 Jahren als Gesellschaften politisch, wirtschaftlich und technologisch so eng miteinander verflochten, dass wir komplexe Systeme des Zusammenlebens – sichtbar in Staatensystemen, Handelsbeziehungen und Kommunikationstechnologien etc. – benötigen und schaffen. Die oftmals zitierte »Globalisierung« unserer Tage ist dabei nur eine Facette, eine neue, größere Spielart der Vernetzung.
Erkennen wir die stetige Veränderung (Transformation) auf allen individuellen, sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebenen als Tatsache an, so können wir innerhalb dieser Transformationen bedeutende und weniger bedeutende Bewegungen ausmachen. Quasi Haupt- und Nebentransformationen, die mal größere, mal kleinere Wirkungen hervorrufen. So mag eine Urlaubsreise für das weitere Leben von geringerer Bedeutung sein. Die guten und schlechten Erlebnisse am Urlaubsort beeinflussen das eigene Wohlbefinden und dienen im besten Fall als positive emotionale Stärkung. Um einiges mehr wird das Leben durch den Tod einer geliebten Person, vielleicht des Partners, erschüttert. Diese emotionale Transformation geht viel tiefer, sie durchdringt die inneren Schichten unserer Persönlichkeit und stößt intensive Verarbeitungsprozesse an. Am konsequentesten geschieht diese persönliche Transformation in der Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit: der Diagnose einer Krebserkrankung zum Beispiel oder eine Nahtod-Erfahrung. In dieser letzten Variante geschieht Veränderung nicht nur im Beobachten des Außen, sondern radikaler in der Veränderung der eigenen Person und der individuellen Weltsicht.
Es geht hier nicht um das Ausschmücken von Horror-Szenarien. Ich will lediglich feststellen, dass es Zeitpunkte und Ereignisse in unserem Leben gibt, die so intensiv sind, dass sie uns als Person – unsere Werte und unsere Einstellung zur Welt – verändern, »transformieren« können. Dies gleicht einer Erschütterung – selbstverständlich auch in der Möglichkeit zum Positiven.
Was nun für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für größere Gruppen, ja ganze Gesellschaften. Beispielsweise ist die größte psychologische Transformation, die Deutschland je erlebt hat, die Herrschaft und der Niedergang des Nationalsozialismus. Diese Transformation war in ihren Ursachen, Dimensionen und Folgen so verheerend und gewaltig, dass ihre Nachwehen noch heute spürbar sind. Immer noch sind wir als Kollektiv mit dem Bewältigen der Vergangenheit beschäftigt, in Form von Büchern, Fernsehsendungen, Denkmälern, Demonstrationen etc. In kleinen gesellschaftlichen und sozialen Nachbeben bearbeiten wir immer noch das Trauma des Nazi-Regimes. Ebenso könnte man den amerikanischen Bürgerkrieg für die USA oder die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki als Traumata ansehen, deren transformatorische Wellen immer noch deutlich sichtbar sind.
Bevor ich zu den wirtschaftlichen und psychologischen Transformationen komme, die ich für wesentlich halte, möchte ich dem Leser ein Transformationsmodell vorstellen, dass eine größtmögliche historische und globale Perspektive aufzieht: die Theorie der »Dritten Welle« des Futurologen Alvin Toffler. Diese Theorie halte ich für so bedeutend, dass ich sie hier aus einem der Hauptwerke Tofflers etwas ausführlicher zitieren will. Toffler schrieb sein Buch »Die Zukunftschance« (Originaltitel: »The Third Wave«) 1980 (!), skizzierte darin jedoch bereits soziale und technologische Revolutionen, die erst um die Jahrtausendwende hin zum 21. Jahrhundert einsetzten. Toffler schreibt:
»Die Menschheit steht vor einem Quantensprung. Sie sieht sich konfrontiert mit sozialen Umwälzungen und einem kreativen Umstrukturierungsprozess bisher ungeahnten Ausmaßes. Ohne bisher genau zu erkennen, wohin der Weg führt, sind wir bereits dabei, eine von Grund auf neue Stufe der gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklung zu errichten. Hierin liegt die Bedeutung der Dritten Welle.
1980: Alvin Toffler entwirft seine Theorie der »Drei Wellen«
Im Lauf der Menschheitsgeschichte hat es bislang zwei große Innovationswellen gegeben, die jeweils die zivilisatorischen Charaktermerkmale der vorangehenden Epoche weitgehend vergessen machten. An ihre Stelle rückten neue Lebensformen, die den Menschen aus der Zeit vorher fremd, ja unvorstellbar erschienen wären.
Die Erste Welle, die Agrarrevolution, bestimmte das Leben der Menschen einige Jahrtausende lang. Die Zweite Welle, das Werden der Industriellen Revolution, beanspruchte nur mehr drei Jahrhunderte. Heutzutage geht die Entwicklung noch weitaus schneller vonstatten, und so wird wahrscheinlich die Dritte Welle innerhalb weniger Jahrzehnte über uns hinwegfegen. Wir, die wir den Planeten Erde gerade in diesem explosiven Moment der Erklärung bevölkern, werden daher noch innerhalb unserer eigenen Lebensspanne die volle Wucht des Ansturms jener Dritten Welle zu spüren bekommen.
Familien driften auseinander, die Grundlagen unserer Wirtschaft werden erschüttert, unsere Wertvorstellungen geraten ins Wanken, unser politisches System ist paralysiert: die Dritte Welle trifft jeden von uns. […] Vieles in dieser sich abzeichnenden neuen Gesellschaftsform steht im Widerspruch zur alten, traditionellen Industriegesellschaft. Einerseits hochgradig technologiebestimmt, ist sie auf der anderen Seite antiindustriell.
Diversifizierte, erneuerbare Energiequellen; Produktionsweisen, die das Fließband weitgehend überflüssig machen; neue, die herkömmliche Kleinfamilie ablösende Formen menschlichen Zusammenlebens; die Institutionalisierung dessen, was man als elektronisches Heim bezeichnen könnte; von Grund auf andere Schul- und Verbandsformen: dies alles kommt im Gefolge der Dritten Welle auf uns zu und wird zu einem gänzlich neuen Lebensziel beitragen.«2
Toffler ist kein Hysteriker, im Gegenteil. Sein Werk ist durchdrungen von positivem gestalterischem Willen, einem Appell, die neuen Zeiten kraftvoll anzugehen. In diesem Sinne unterschied er sich auch von manchen Katastrophendenkern seiner Zeit. Was ist nun der Unterschied zwischen Tofflers Modell und meiner Theorie der »Drei Transformationen«?
Toffler argumentiert aus einer globalen Perspektive heraus, historisch wie geografisch. Ihm geht es um die großen Zusammenhänge in der Entwicklung der Menschheit, betrachtet über Jahrhunderte. Dies gelingt ihm lebendig und elegant.
Er analysiert die Dinge auf drei Hauptebenen, der sozialen, der technologischen und der politischen Ebene. Für ihn knüpfen diese drei ein Netz an Dynamiken, das für die großen Transformationswellen in der Geschichte sorgt.
Toffler geht davon aus, dass sich Wellen »überlagern« können, ja müssen. So speise sich eine Menge an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konflikten genau aus diesem Aufeinanderprallen zweier Wellen (Toffler spricht von »Wellenkämmen, die aufeinanderbranden«).
»Meine« Transformationen nehmen dagegen einen schmaleren Ausschnitt der Wirklichkeit ins Visier. Sie sind daher »näher dran« an der Lebensperspektive des Einzelnen und haben dafür einen kleineren Wirkbereich als das Toffler’sche Modell:
Mein zeitlicher Fokus beginnt mit der Industriellen Revolution, nicht wie bei Toffler mit der Agrarrevolution vor ca. 10 000 Jahren. Seine »Erste Welle« (die Agrarrevolution) spielt für meine Überlegungen daher keine Rolle. Die Drei Transformationen, um die es mir geht, spielen sich in einem Zeitraum der letzten 170 Jahre ab, von ca. 1850 bis heute.
Weiterhin konzentriere ich mich auf den Schnittpunkt von wirtschaftlich-technologischer Veränderung und Psychologie. Mit anderen Worten: Was machen tiefgreifende wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit dem Einzelnen? Wie reagiert die menschliche Seele oder – schlicht biologisch – das Gehirn darauf?
Ein gegenseitiges Überlagern von Wellen spielt in den Transformationen, wie ich sie verstehe, keine Rolle. Vielmehr finden diese Transformationen in einem klar umgrenzten Zeitraum statt, der von anderen Wellen nicht berührt wird.
Insgesamt liefert Toffler ein äußerst interessantes Modell historischer und geografischer Zusammenhänge. Seine »Drei Wellen« sind jedoch nicht mit meinen »Drei Transformationen« identisch. Auch das Bild der Welle findet in meinem Modell keine Anwendung. Ich bleibe bei dem eher sperrigen Begriff »Transformation«, auch um zu verdeutlichen, dass es sich hierbei um einen technologisch-psychologischen Mechanismus handelt, der eher im Hintergrund abläuft, und nicht um eine sichtbare Welle, die man anbranden sieht bzw. die einen überrollt.
Interessanterweise sieht der Psychologe Tony Buzan, der Erfinder der »Mind-Map«-Methode, über die Jahrzehnte eine ähnliche Wellenbewegung, die im Moment durch die Informationsflut einen neuen Höhepunkt erreicht. Sein Fazit: »Die Menschen denken in Informationen, denken digital, technologisch, über die Computertastatur. Deshalb erlebt die Welt derzeit den größten Stress ihrer Geschichte: die sogenannte Informationsflut. […] Tatsächlich bereitet uns die Informationsflut nur Stress, weil wir versuchen, Informationen und Wissen konventionell zu managen. Wir setzen auf Informationsmanager und Direktoren für Wissensmanagement. Doch wir müssen nicht das Wissen managen, sondern den Manager des Wissens, und das ist das menschliche Gehirn. Wir müssen lernen, unser
Gehirn intelligent zu nutzen. Dies ist die Herausforderung des Intelligenzzeitalters. Denn in Wahrheit haben wir das Agrar-, das Industrie- und das Informationszeitalter hinter uns gelassen und sind im Intelligenzzeitalter.«3
Gerade in der Phase der Informationsflut gilt: »Wir müssen lernen, unser Gehirn intelligent zu nutzen« (Tony Buzan)
Buzan erfasst haargenau, um was es geht: um ein neues Zusammenspiel zwischen Technologie und menschlichem Verstand. Ein Austarieren, eine neue Balance. Diese Balance herzustellen, war mehr oder weniger offensichtlich immer Teil der menschlichen Zivilisation. Und immer war diese Balance von technologischen Umbrüchen gekennzeichnet, denen sich der Mensch in Körper und Geist anpassen musste. Was Buzan als »Intelligenzzeitalter« beschreibt, ist nichts anderes als die Dritte Transformation des digitalen Zeitalters, die gerade stattfindet (und die noch vielleicht zwanzig, dreißig Jahre anhalten wird). Erst nach dieser Transformation wird eine Phase der »mentalen Ruhe« einkehren, wird sich der Mensch mit den neuen Techniken der Kommunikation und der digital vernetzten Arbeit in einer Weise arrangiert haben, die ihn produktiv und gesund bleiben lässt.
Hier schließt sich übrigens der Kreis zu Darwin. Denn was müssen wir im Moment tun, um unser Überleben zu sichern? Jedenfalls nicht mehr an der Keule schnitzen, um das Mammut zu erlegen. In unserer Zeit müssen wir unseren Geist, unseren Verstand hegen, pflegen und schützen. Unser Geist ist die wichtigste Ressource des 21. Jahrhunderts. Oder wie es der Schauspieler Mel Gibson im Film »Braveheart« formulierte: »Es ist der Verstand, der Männer aus uns macht.«
Darum erleben wir gerade den Massenausbruch psychischer Krankheiten, von Depression, Burnout und Angststörungen bis hin zu sogenannten somatoformen Störungen, epidemischer Schlaflosigkeit und existenzieller Verzweiflung. Es sind diese Krankheiten des Geistes, des Gehirns, die den Menschen befallen und ihm zu schaffen machen. Das war innerhalb jeder der bisherigen zwei Transformationen so, doch innerhalb der Dritten Transformation ist es am schlimmsten. Wir erleben eine immense Verdichtung von Information und Kommunikation, gepaart mit maximalem Anspruchs- und Effizienzdenken, eingepfercht in eine vereinsamende Gesellschaft. Das ist für das Wohlbefinden oder das viel zitierte »Stresserleben« Sprengstoff vom Feinsten.
Egal, um welche Problemstellung es geht: ob E-Mail-Flut, Burnout, Stressbewältigung, Cloud Computing, Krankheiten durch ungesunde Büroarbeit, sogar Lohn- und Arbeitszeitmodelle – im Grunde geht es um die gigantische technologische Umwälzung der Dritten Transformation.