müllersches volksbad

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markus seidel

müllersches volksbad

roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Es war viertel vor zehn am Sonntagabend, der Abspann des

Tatort

lief. Eben hatte ich das Rotweinglas umgestoßen, das neben dem Sofa auf dem Fußboden stand, als das Telefon klingelte. Ich kümmerte mich nicht darum, ging rasch in die Küche auf schwankenden Beinen, holte einen Schwamm und wischte den Wein damit auf. Das Glas war zerbrochen. Prompt schnitt ich mich an einer der Scherben. Mein Zeigefinger blutete. Jetzt musste ich also auch das Blut fortwischen. Die Weinflasche war fast leer. Ich war müde und etwas betrunken. Deshalb das umgeworfene Glas. Deshalb der Schnitt in den Finger. Sonst passierte mir sowas nicht. In der Nacht hatte ich bis halb drei Uhr im Internet recherchiert. Seit kurzem saß ich an einem größeren Artikel über einen amerikanischen Journalisten und Schriftsteller, dessen Name mir bislang völlig unbekannt gewesen war und der sich irgendwann mittels Kopfschuss das Leben genommen hatte. Ich beabsichtigte, für die Tageszeitung, für die ich schrieb, eine längeren Beitrag zu verfassen. Damit wollte ich gewissermaßen meinen journalistischen Durchbruch einleiten. Allmählich wurde es nämlich Zeit, dass sich etwas tat in meiner Karriere. Es sollte ein langer, wichtiger Beitrag werden für die übernächste Wochenendausgabe. Ich musste also sauber recherchieren. Diesmal musste alles wasserdicht sein. Wasserdicht und geistreich.

Geschrieben hatte ich bisher noch keine Zeile, aber innerhalb kurzer Zeit allerhand Informationen eingeholt. Hunter S. Thompson, so hieß er, war mit einer besonderen Form des fiktiven Journalismus bekannt geworden, dem sogenannten Gonzo-Journalismus. Er und seine Anhänger gingen davon aus, dass die echte und einzige Wahrheit im Bereich zwischen Fakten und Fiktion zu finden sei. Thompson hatte schon gegen Johnson und Nixon gekämpft, gegen Reagan und den alten George Bush. Gegen George W. aber hatte er sich noch einmal richtig ins Zeug gelegt. Thompson hatte ihn einen bekloppten Kinderpräsidenten genannt, einen Narren, einen Versager, einen Wasserkopf-Sohn aus Texas. Wahrscheinlich hatte er damit Recht.

Je mehr ich über Hunter S. in Erfahrung brachte, desto mehr zog er mich in den Bann. Seine Methode der Vermengung von Tatsachen und Fantasie fand ich großartig. Sein Selbstmord hingegen war für mich eine einzige Überraschung und eigentlich kaum zu glauben. Es wollte mir einfach nicht in den Sinn, weshalb der Bursche sich selbst zur Strecke gebracht hatte. Und genau hier lag der Schlüssel zu meinem Artikel: Er soll unter anderem eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Künstlertum und Suizid darstellen. Denn natürlich war Thompson kein Einzelfall, was den Selbstmord unter Künstlern – Schriftstellern, Malern, Komponisten, Philosophen und so weiter – betrifft. Immer schon hatte es eine Vielzahl von Selbstmördern unter ihnen gegeben. Eine befreundete Psychologin hatte ich bereits auf diese Verbindung angesprochen. Ich wartete noch auf ihre Ergebnisse zu diesem Thema. Als Dank, so hatte ich es mir gedacht, würde ich sie zum Essen ins Restaurant einladen. Irgendwann, wenn ich wieder bei Kasse wäre. Oder ich koche einfach selbst. Frauen mögen Männer, die kochen können. Ich konnte es nicht. Egal.

Nachdem ich den Wein und das Blut mit der unversehrten Hand fortgewischt hatte, klingelte es immer noch. Herrje, wie konnte man bloß derart hartnäckig sein?! Ich hatte jetzt wenig Lust auf ein Gespräch, mit wem auch immer, ging ins Bad und klebte mir ein Pflaster auf die Wunde. Warum eigentlich hatte ich das nicht zuerst gemacht und dann den Wein aufgewischt? Egal. Es klingelte immer noch. Wer es so lange läuten ließ, hatte entweder Langeweile oder etwas Dringendes auf dem Herzen. Also nahm ich ab.

Es war Alexander, mein Bruder aus München. Alexander war vier Jahre jünger als ich und schrieb Romane. Es lief einigermaßen bei ihm. Seit ein paar Jahren verdiente er sein Geld hauptsächlich mit der Schreiberei. Alexander war ziemlich anspruchslos, er lebte recht bescheiden, Urlaub machte er praktisch nie, hin und wieder wurde er von einer Zeitung eingeladen, eine Reise irgendwohin zu unternehmen, um dann einen Beitrag darüber zu schreiben. Fast immer schickte er mir eine Karte, über die ich mich jedes Mal freute. Ich hingegen schrieb ja seit Jahren keine Karten mehr, Briefe schon gar nicht. Ich kannte auch kaum noch jemanden, der Briefe schrieb. Ich rief an oder schickte eine Email. Wenn überhaupt.

Alexanders Anruf war zweifellos eine Überraschung. Unser letztes Telefonat lag schon einige Wochen zurück. Ich überlegte, wann wir uns zuletzt gesehen haben, aber es fiel mir im Moment nicht ein. Unser Verhältnis war zugegebenermaßen nicht besonders eng. Das heißt zwar nicht zwangsläufig, dass es schlecht war, aber wir hatten uns doch mehr und mehr aus den Augen verloren. Ich war mit meiner Karriere beschäftigt, er mit seiner. Seine lief eindeutig besser. Oder sagen wir: weniger schlecht.

Meiner Ansicht nach hatte Alexander das Zeug zu einem echten Bestsellerautor. Kurz bevor sein erster Roman veröffentlicht wurde, riet ich ihm, unbedingt selbst etwas zu unternehmen, um die Leute auf sich aufmerksam zu machen. Ich hatte ihm klarzumachen versucht, dass es zwecklos sei, darauf zu hoffen, dass die Medien darauf anspringen. Schließlich kannte ich das Geschäft. Alexander hatte zunächst keinen blassen Schimmer, worauf ich hinauswollte. Ich erzählte ihm dann von einem Autor, der sich vor vielen Jahren während einer Lesung, bei der zahlreiche Journalisten und Kritiker anwesend waren, mit einem Messer oder eine Rasierklinge, so genau wusste ich das nicht mehr, in die Stirn geschnitten hatte. Das Blut hatte direkt auf das Manuskript gespritzt, das vor ihm lag und aus dem er bis dahin gelesen hatte. Natürlich gab es ein großes Geschrei, er aber las weiter, oder besser, er schrie, schrie gegen das Geschrei an, und dann dauerte es nicht lange, bis sein Name in allen Zeitungen stand. Der Mann war über Nacht zu einer Berühmtheit geworden.

Genau so musste man es machen! Man muss die Leute provozieren, hatte ich Alexander eingeschärft. Man muss auffallen, irgendwie. Man muss sich ins Gespräch bringen, sonst verhungert man schon nach der ersten Auflage. Die Welt, hatte ich ihm gesagt, ist voll von Schreibern, die hundertmal weniger könnten als er, die aber leider berühmt sind, weil sie es verstünden, sich gut zu vermarkten. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass Alexander damals nicht besonders viel hielt von meinem Vorschlag. Anscheinend war er ganz einfach nicht der Typ für solche Aktionen. Er schien immer noch an das Talent zu glauben, das sich irgendwann durchsetzt. Um es auf den Punkt zu bringen: Er hatte die Gesetze des Marktes einfach noch nicht durchschaut. Ich war allerdings davon überzeugt, dass sich das irgendwann ändern würde, ja ändern musste. Irgendwann musste auch Alexander begreifen, dass Schreiben allein nicht reicht.

Sein erstes Buch handelt von einem Mann, der seine Frau durch einen Verkehrsunfall verliert. Die Frau liegt zunächst schwerverletzt im Krankenhaus, der Mann wacht Tag und Nacht an ihrem Bett. Schließlich aber liegt sie doch im Sterben, und der Mann wird gefragt, ob er bereit sei, das Herz seiner Frau zu spenden. Er willigt ein, und nachdem man erfolgreich das Herz transplantiert hat, will er erfahren, wer der Empfänger des Herzens seiner Frau ist. Man darf es ihm nicht sagen, es verstößt angeblich gegen das Gesetz, und so versucht er, diese Person auf eigene Faust ausfindig zu machen. Er findet sie dann auch, und eigentlich geht die Geschichte erst hier richtig los. Es ist eine Frau, und die beiden – nun ja, ich will nicht mehr verraten, falls jemand von Ihnen die Geschichte noch lesen will. Eine rührende und originelle Story, zweifellos. Der Zufall wollte es, dass es schon ein Buch gab, das sich mit einem ganz ähnlichen Thema beschäftigte. Es war etwa zwei Monate vor Alexanders Buch erschienen und hatte großes Aufsehen erregt. Alexander war schlicht und einfach zu spät gekommen. Zwar war sein Buch zweifellos besser, aber die Pointe war natürlich dahin. Er war ziemlich fertig damals. Als Alexander mit der Arbeit zu HOTEL, seinem zweiten Roman, begann, war er in großer Sorge, dass es auch jetzt wieder jemanden gab, der ihm zuvorkommen würde. Deshalb sprach er mit niemandem über sein neues Buch, auch nicht mit mir.

 

Ich hatte ursprünglich Lehrer werden wollen, hatte Deutsch und Geschichte studiert, es mir aber schließlich anders überlegt und ein Praktikum bei einer Tageszeitung absolviert. Inzwischen arbeitete ich dort als Journalist. Hauptsächlich schrieb ich Buchrezensionen. Ich hatte wirklich Glück gehabt. Während des Praktikums hatte ich zunächst eine Zeitlang Kinokritiken verfasst. In der dritten Woche kam der Chefredakteur auf mich zu, Dr. Hansjörg Kurbald, ein kleines nervöses Männlein mit dünnem Fusselschnauzbart und Schweißflecken, die sich unter den Achseln seines immergleichen dunkelblauen Hemdes abzeichneten. Kurbald war eine sonderbare Erscheinung, verstockt und von eigenartiger Trägheit, die unweigerlich auch auf mich übersprang, wenn ich mich in seiner Gegenwart befand. Ich wurde jedes Mal schlagartig müde, allein wenn ich ihn sah. Überdies sprach er so leise, dass man aufhörte zu atmen, wenn er etwas sagte. Alles an ihm war irgendwie trostlos. Es war mir vollkommen schleierhaft, wie er es bis zu seiner Position geschafft hatte. Peter-Prinzip wahrscheinlich - hochloben, bis sich die Unfähigkeit herausstellt, und dann abservieren. Kurbald war schon seit vier Jahren der Chef. Es wurde Zeit für seinen Abgang.

Er legte mir ein Buch auf den Tisch und bat mich, es für die Wochenendausgabe zu rezensieren. Ob ich mir das zutraue, wollte er noch wissen, aber bevor ich antworten konnte, war er schon wieder verschwunden. Nie zuvor hatte ich jemals eine Buchkritik geschrieben. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie man einen solchen Beitrag aufzieht. Ein ganzes Wochenende lang las ich deshalb Hunderte von Kritiken. Es war eine freudlose Angelegenheit, aber was ich dringend brauchte, war so etwas wie das Wissen um das Rüstzeug für einen solchen Text, sozusagen den dramatischen Aufbau, und natürlich das nötige Vokabular, ein paar Phrasen, die gut und wichtig klangen. Je mehr Kritiken ich las, desto einfältiger und dümmlicher erschienen mir all die Texte, die ich da durcharbeitete. Schließlich wusste ich alles, was ich wissen wollte. Ich würde es besser machen, davon war ich fest überzeugt. So wie es aussieht, habe ich die Sache ganz ordentlich hingekriegt, jedenfalls kam Kurbald schon bald darauf mit einem neuen Buch zu mir.

Während des Studiums hatte auch ich übrigens versucht, einen Roman zu schreiben. Innerhalb eines einzigen Wochenendes hatte ich die ersten fünfzig Seiten geschrieben. Es lief fantastisch, ich saß am Computer bis tief in die Nacht und tippte wie im Rausch, Stunden um Stunden. Jedenfalls bis Sonntagabend. Dann kam nichts mehr. So wie es aussah, hatte ich auf diesen fünfzig Seiten schon alles gesagt. Zwar versuchte ich ein paar Wochen später, eine Fortsetzung zu schreiben, aber je öfter ich den Text las, den ich an jenen drei Tagen geschrieben hatte, desto weniger gefiel er mir. Schließlich löschte ihn von der Festplatte. Ich wollte nichts mehr damit zu tun haben.

Inzwischen bereute ich es natürlich. Wenn ich mir durch den Hunter-Thompson-Artikel einen Namen gemacht haben würde, hätte ich den Text vielleicht noch einmal gebrauchen können. Vielleicht würde sich ein Verlag finden, dem das Manuskript gefiel und der mich animierte, meine Arbeit an dem Roman fortzusetzen. Die Vorstellung, den Job bei der Zeitung aufzugeben und vom Bücherschreiben leben zu können, war faszinierend. Erst kürzlich hatte ich deshalb versucht, die Geschichte aus der Erinnerung nachzuschreiben, aber es war zwecklos. Was ich schließlich las, war schlicht und einfach erbärmlich und hätte ausgereicht, meinen Ruf, den ich mir durch den Hunter-Thompson-Artikel würde erworben haben, unverzüglich zu ruinieren. Kurz und gut: Ich konnte zwar anständige Artikel über Bücher schreiben, aber es war mir unvorstellbar, selbst einen Text zu verfassen, der länger als einhundertachtzig Druckzeilen ist. Schon auf der Uni hatte ich mich mit den Hausarbeiten abgequält; sie waren mehr oder weniger Flickwerk und Collagen aus anderen Texten, die ich mir in der Bibliothek und im Internet zusammengesucht hatte. Niemandem war es je aufgefallen.

Alexander und ich plauderten über dies und das, seit dem letzten Telefonat hatte sich so manches an Neuigkeiten angesammelt. Dann kam er zum eigentlichen Grund seines Anrufs. Er erzählte mir von seinem bevorstehenden Urlaub, dem ersten, gleichsam offiziellen seit drei Jahren, und bat mich, während seiner einwöchigen Abwesenheit seine Wohnung zu hüten. Auch das gab durchaus Anlass zur Verwunderung - weshalb fragte er ausgerechnet mich? Hatte er niemand anderen? Vielleicht aber war es ganz einfach seine Art, auszudrücken, dass er den Kontakt zwischen uns wieder etwas auffrischen wollte. Zusammen mit seiner Freundin Ulrike, die in Berlin lebte, wollte er eine Woche nach Florenz. Ulrike war Goldschmiedin mit einem eigenen Atelier in Kreuzberg; sie war etwa in meinem Alter. Eine hübsche Person übrigens, mit kurzen braunen Haaren, lustigen Augen und einem offenen Gesicht. Sie waren seit zwei Jahren zusammen. Wenn ich mich richtig erinnere, hatten sie sich während einer Lesung kennengelernt: Alexander hatte gerade sein erstes Buch veröffentlicht (ALTE FREUNDE) und in einem Buchladen, der direkt neben Ulrikes Goldschmiede lag, daraus gelesen. Obschon sie sich für Literatur wenig interessierte, ging sie nach Feierabend in die Buchhandlung, hörte Alexander beim Lesen zu und stellte ihm nach der Veranstaltung unzählige Fragen. Sie hörte auch nicht damit auf, als der Abend offiziell beendet worden war; man saß zusammen mit dem Buchhändler in einem Café um die Ecke und Ulrike wollte alles wissen von ihm, erst recht, nachdem der Buchhändler gegangen war.

Mir war nicht ganz klar, was es hinsichtlich seiner Wohnung zu hüten gibt: Weder hatte er ein Haustier, auf das man aufpassen muss, noch wohnte er in einer teuren Gegend Münchens. Bei ihm war nicht wirklich viel zu holen; die Stereoanlage war mindestens fünfzehn Jahre alt, er hatte sie damals bei einem Kaffeeröster gekauft; Mobiliar besaß er nur spärlich, den kleinen Fernseher hatte ich ihm vor einiger Zeit geschenkt, und auf seine fast anderthalbtausend Bücher dürften höchstwahrscheinlich nur wenige scharf sein. Seinen Laptop, das Einzige, was wirklich von Wert war, nahm er auf Reisen grundsätzlich mit.

„Du hast Recht, natürlich“, sagte er, „bei mir ist nicht viel zu holen. Bloß der Bursche, der noch nie meine Wohnung betreten hat, hat davon natürlich keine Ahnung.“

„Alexander, ich bitte dich, weshalb sollte er ausgerechnet bei dir einsteigen?“ Das Pflaster, das ich mir wegen der Schnittwunde auf den Zeigefinger geklebt hatte, war inzwischen blutdurchtränkt. Ich nahm es vorsichtig ab, die Schnittwunde klaffte hässlich auf, es tat höllisch weh. Ich unterdrückte einen Schrei und warf das Pflaster auf den Fußboden.

„Weshalb?“, fragte er. „Zum Beispiel, weil es hier keine Alarmanlagen gibt! Niemand kümmert sich um den Nachbarn, falls er ihn überhaupt kennt. Niemand würde sich hier ernsthaft in Gefahr bringen, wenn es drauf ankommt, verstehst du?“

Während Alexander sprach, ging ich mit dem Telefon ins Badezimmer, um mir ein neues Pflaster zu holen.

„Aber du hast doch nichts, was es sich lohnt zu holen!“, warf ich ein. Inzwischen war ich im Bad angelangt und öffnete das Medizinschränkchen, das neben dem Waschbecken hing. So umsichtig und geradezu ängstlich um seinen ohnehin kargen Besitzstand kannte ich ihn gar nicht. Mein Finger blutete noch immer stark, der Weg vom Wohnzimmer bis ins Bad war markiert mit zahllosen Blutstropfen. Es pochte schmerzhaft im Finger. Ich nahm die Packung mit den Pflastern, zog eines davon heraus, legte es auf den Badewannenrand und drehte den Wasserhahn auf.

„Ist mir schon klar“, hörte ich ihn sagen, während ich meinen Finger unter das fließende kalte Wasser hielt, „aber das ahnt man ja keiner, der meine Wohnung noch nie betreten hat! Außerdem hab ich viel Ärger, wenn hier doch eingebrochen wird - alles wird durchsucht, es wird viel kaputt und dreckig gemacht, später muss ich alles durchsuchen, eine Liste der gestohlenen Gegenstände machen, muss aufräumen, diese ganze Prozedur...“

„Mach einfach ein paar Fotos von deiner Wohnung“, riet ich ihm, und drehte mit der unversehrten linken Hand den Wasserhahn wieder zu, „am besten von jedem Zimmer, und kleb sie gut sichtbar an deine Tür. Man erkennt dann auf den ersten Blick, dass es vollkommen zwecklos ist, bei dir einzusteigen!“ Ich musste lachen, es pochte daraufhin wild und schmerzhaft im Finger. Es entstand eine Pause. Anscheinend dachte Alexander allen Ernstes über meinen Vorschlag nach. Das Waschbecken war jetzt großflächig mit einem Film aus Wasser und Blut überzogen. Ich überlegte, ob ich es eintrocknen lassen sollte, um es dann zu fotografieren und dann ins Internet zu stellen. Bei Facebook zum Beispiel. Oder besser jetzt fotografieren, solange es noch feucht war. Oder beides. Erst feucht, dann trocken. Wo hatte ich meine Kamera abgelegt?

„Hm, aber meinst du nicht, dass...-“

„Vergiss es!“, sagte ich und drehte den Wasserhahn auf, „es war nur so ein Gedanke. Wenn es sein muss, dann komme ich eben.“ Verdammt, jetzt hatte ich den Blutfilm doch weggespült! Ich war einfach zu abgelenkt - die schmerzhafte Wunde, das Telefonat...

„Was machst du da eigentlich nebenbei?! Hörst du mir überhaupt zu?“

„Ich hab mich ziemlich böse verletzt“, sagte ich. „Tiefer Schnitt im rechten Zeigefinger, hört gar nicht wieder auf zu bluten. Hab schon die ganze Wohnung versaut.“

„Dann ruf einen Arzt!“

„Habs jetzt ganz gut im Griff“, beruhigte ich ihn. „Die Blutung ist praktisch gestoppt.“ Ich legte das Pflaster wieder beiseite und hielt meinen blutenden Finger über das Waschbecken. Vielleicht, hoffte ich, bekäme ich diesen Blut-Wasser-Film von eben ein zweites Mal hin. Das Blut tropfte munter ins Becken, ich drückte ein paar Mal auf die Wunde, um das Ganze zu beschleunigen, aber es wurde bei weitem nicht so eindrucksvoll wie zuvor. Ich ließ es bleiben, spülte alles wieder weg und nahm das Pflaster, das auf dem Badewannenrand lag.

Um ehrlich zu sein war ich ganz froh, aus Hannover rauszukommen: Isabell, meine Ex-Freundin, und ich hatten uns vor kurzem getrennt, beziehungsweise sie war gegangen und aus unserer Wohnung ausgezogen. Noch immer war ich etwas wütend über ihren Ausspruch: Du bist überhaupt kein Intellektueller. Du bist nicht einmal ein Pseudo-Intellektueller! Wie kam sie auf solch einen Schwachsinn?! Kurzum: Eine Ortsveränderung, wenn auch nur kurzfristig, kam mir also mehr als gelegen. Und vielleicht traf ich dabei die Frau meines Lebens, wer weiß?!

Inzwischen hatte ich meinen Finger mit einem neuen Pflaster verklebt, das etwa doppelt so groß war wie das erste. Bevor ich schlafen ging, würde ich es ein letztes Mal wechseln, dachte ich. Außerdem würde ich mir für die Nacht drei oder vier Pflaster in Reserve neben das Bett legen.

„Aber hör bitte nicht zu laut Musik“, hörte ich Alexander sagen, „und die Blumen brauchen alle vier Tage Wasser.“

„Also ein Mal gießen“, sagte ich und ging zurück ins Wohnzimmer. Überall Blut auf dem Holzfußboden. Egal. Ich würde mich morgen drum kümmern. Jetzt war ich zu müde.

„Nein, drei Mal, Daniel! Du bist schließlich acht Tage hier. Das erste Mal gießt du, wenn du kommst. Das zweite Mal nach vier Tagen. Und das dritte Mal, wenn du wieder gehst.“

Ich fragte ihn nicht, weshalb er sie nicht selbst goss, kurz bevor er ging und kurz nachdem er wieder zurückgekehrt sein würde. Doch mir stand nicht der Sinn nach Diskussionen, es war zwecklos. Alexander hatte bereits zwei Lektoren seines Verlages verschlissen. Er galt als schwierig.

„Alex, bitte, es reicht jetzt“, sagte ich. „Noch weiß ich schließlich gar nicht, ob man mich hier überhaupt entbehren kann. Morgen gehe ich zu Kurbald und sehe mal, was sich machen lässt. Vielleicht kann ich drei oder sogar vier Tage...- “

„Kurbald?“

„Mein Chef“.

„Schön“, sagte er, „du kannst dann also gern kommen!“ Hatte er mir nicht zugehört? Außerdem: So wie er das ausdrückte, klang es so, als hätte ich ihn um den Gefallen gebeten, nach München zu kommen und seine Wohnung zu hüten. Tatsächlich verhielt es sich genau andersherum. Er hatte mich angerufen. Er hatte mich um etwas gebeten.

„Wie komme ich übrigens an die Wohnungsschlüssel?“, wollte ich wissen.

„Stimmt, hatte ich fast vergessen. Die sind bei meiner Nachbarin. Frau Dose heißt sie. Sie weiß Bescheid. Klingel einfach bei ihr, am besten mehrmals hintereinander oder sehr lange. Oder am besten beides, sie ist schon etwas älter und hört schlecht. Sie gibt dir dann die Schlüssel. Aber lass dich besser auf kein Gespräch mit ihr ein. Es sei denn, du hast Lust, drei Tage hintereinander Schokolade und Kekse zu essen und zu quatschen.“ Es entstand eine kurze Pause.

 

„Was macht dein Job?“, fragte Alexander.

„Läuft prima. Schreibe gerade an einem Beitrag über Hunter S. Thompson. Kennst du ihn?“

Ich wusste, dass Alexander nicht viel davon hielt, was ich machte. Aber nicht etwa, weil er die Arbeit eines Kritikers gering schätzte, sondern weil er der Ansicht war, dass dieser Job nicht der Richtige war für mich. Das sei nicht ich, das passe nicht zu mir. Ich stecke im falschen Anzug. Das waren seine Worte. Einmal hatte er mir eine Anzeige geschickt. Ein Gymnasium in München suchte einen Deutschlehrer. Alexander hatte die Anzeige ausgeschnitten und mit einem Frage- und einem Ausrufezeichen versehen. Ich erzählte ihm ein bisschen von Hunter S. Thompson und von meinen Überlegungen zu meinem Beitrag. Er bat mich, mir den Artikel zu schicken, wenn er fertig sei. Ich versprach es ihm. Er las alle meine Texte.

„Hast du Isabell inzwischen verwunden?“, fragte er schließlich. Ich wusste, dass er sie nicht mochte. Er hatte sie nie gemocht. Er war nicht der einzige. Wahrscheinlich war er froh, dass es endlich aus war zwischen uns.

„Isabell?“, fragte ich und schluckte trocken. „Wie kommst du jetzt auf die? Woher weißt du denn überhaupt...? Um ehrlich zu sein, ich denke eigentlich kaum noch an sie. Ich ruf dich an, wenn ich meinen Urlaub bewilligt kriege.“ Ich dachte noch einmal an den Artikel über Hunter S. Thompson. An sein jähes Ende. Seinen selbst herbeigeführten Tod. „Alex, hast du eigentlich jemals an Selbstmord gedacht?“

„Geht’s dir gut? Was soll das? Worauf willst du hinaus?“

„Schon gut“, sagte ich. „Tut mir leid. Vergiss die Frage. Ich melde mich bald.“

„Machs gut, Daniel. Und schlaf dich mal aus.“