Überlebt

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Überlebt
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Überlebt

1  Titel

2  Vorwort

3  Lehrer der Knabenvolksschule

4  Lehrer der Oberschule

5  Schiefertafel, Tinte und Schläge

6  Eigentlich kannte ich meinen Vater nicht

7  Acht geschenkte Jahre

8  Die andere Seite des Krieges

9  Schmucke Uniformen

10  1010 Tage Gefangenschaft

11  Ich kenne nur einen Führer und das ist Gott

12  Ein dumpfes Gefühl

13  Ein ganz normaler Anfang

14  Der tiefe innere Zwiespalt

15  Vergeblicher Fluchtversuch

16  Wir hatten uns alle wiedergefunden

17  Tauschläden, Ersatzprodukte, falsche Klopse und Musik

18  Schule war Luxus

19  Hört die Verrückten, haben nichts zu essen und singen auch noch

20  Geschichtsverständnis und politische Haltung

21  Epilog

22  Nachwort

23  Impressum

Kindheit und Jugend in der Niederlausitz 1936 bis 1951
Berichte von Männern und Frauen
der Geburtsjahrgänge 1928 bis 1932

Vorwort

Zwischen 1994 und 2008 trafen sich regelmäßig Altersgenossen der Geburtsjahrgänge um 1930. Die meisten sahen sich beim ersten Treffen nach über fünfzig Jahren zum ersten Mal wieder und entsprechend zäh verliefen anfangs die Gespräche. Doch dann erzählte einer nach dem anderen, wie sein Leben seither verlaufen war, wobei die Erlebnisse in den Kriegs- und Nachkriegsjahren immer besonderes Interesse fanden. Wiederholt wurde vorgeschlagen, diese Berichte aufzuschreiben.

Wir wollen damit unseren Enkeln vor Augen führen, was für eine aufregende und schreckliche Jugend wir hatten. Aber wir sind auch die Generation, die der Einschnitt in die deutsche Geschichte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts besonders intensiv betroffen hat. Wir waren es, die als Neun- und Zehnjährige im Erdkunde- und Geschichtsunterricht mit glänzenden Augen auf der großen Europakarte die Gebiete abgesteckt haben, die die Deutsche Wehrmacht erobert hat - jedenfalls so lange sie immer größer wurden. Wir sind uniformiert durch die Stadt marschiert und haben gesungen: „Fort mit jedem schwachen Knecht, nur wer stürmt hat Lebensrecht!“, ohne zu ahnen, welche furchtbaren Verbrechen unter diesem Motto begangen wurden. 1945 wurden uns dann die Augen geöffnet und wir begannen zu begreifen, wieviel Unglück durch unser Volk über die Welt gekommen ist.

Nein, schuldig sind wir nicht geworden. „Kein fühlender Mensch erwartet von denen, die zur damaligen Zeit im Kindesalter waren, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind“, das betonte Richard von Weizsäcker in seiner berühmt gewordenen Rede vor dem Deutschen Bundestag am 40. Jahrestag der Beendigung des 2. Weltkriegs. „Aber wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Jüngere und Ältere müssen sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wach zu halten.“

Wach zu halten ist auch die Erinnerung an die Zeit, als unser Land geteilt wurde. Wach müssen wir bleiben, damit so etwas nie wieder passiert.

Finsterwalde, den 24. August 2006

Lehrer der Knabenvolksschule

Gerhard Hein *1930 Bau-Ingenieur

In der Schulzeit hatte man vor Lehrern sehr viel Respekt. Sie waren geachtete Personen, deren Wort auch bei den Eltern von großer Bedeutung war. Alle haben versucht, uns etwas beizubringen, aber sie hatten ihre Eigenheiten. Auffallend war damals die ausgeprägte Disziplin in der Klasse und auf dem Schulhof.

Gericke war Rektor und erzählte gerne Geschichten aus dem 1. Weltkrieg. Er wurde deshalb auch Lehrer Kopfschuss genannt. Im Schirmständer des Rektorzimmers standen seine Schlaginstrumente (Rohrstöcke). Später hatte er dafür auch den untersten Schubkasten im Schrank reserviert, man konnte sich einen Stock aussuchen. Wenn er mit dem Schlüsselbund in der Hosentasche klapperte, war er mit einem Schüler unzufrieden. Die Strafe folgte auf dem Fuße. Nach 1945 wurde er wegen Nazi-Mitgliedschaft entlassen und war noch eine gewisse Zeit Pförtner.

Franz war während des Krieges Chef des Luftschutzes. Im Schloss zeigte er uns des Öfteren die erforderlichen Gerätschaften und erklärte uns die Verhaltensregeln bei einem Angriff. Kant war ein überzeugter Nationalsozialist und las häufig während der Schulstunden aus der Zeitung Das Reich vor. Die Schüler schenkten der Lesung meist wenig Aufmerksamkeit. Die Schularbeiten kontrollierte er recht oberflächlich. Sander wurde von uns Mope genannt. Er war ein älterer, ruhiger und guter Lehrer. Seeland ist mir als absoluter Schlägertyp in Erinnerung, der bei jeder passenden Gelegenheit mit dem Rohrstock auf den Po hieb. Mit etwas Glück hatte er auch andere harte Strafen parat, wie z.B. die Verdoppelung der Hausaufgaben. Manchmal handelte er auch im Auftrag vom Rektor.

Mauruschat kam aus Ostpreußen. Manchmal erzählte er von seiner Heimat und den Masuren. Nachdem der Sportlehrer zum Kriegsdienst musste, hatten wir Sport bei ihm. Seine Standardstrafe war es, mit dem Stock über den zusammengedrückten Daumen und Mittelfinger zu hauen. Semisch nannten wir Gandhi. Er war unser Naturkunde- und Physiklehrer. Der Schulgarten war sein Reich. Für uns war er ein strenger Lehrer. Wenn er in den Pausen Aufsicht hatte, ging es überaus diszipliniert zu. Mit seiner Haselnussgerte aus dem Schulgarten schlug er unbarmherzig in die nackten Kniekehlen. Schiemenz war auch als Klamottenkönig bekannt. Bei ihm hatten wir Musikunterricht. Er hatte die Angewohnheit, einen Schlüsselbund nach einem Störenfried zu werfen, den er zuvor nicht angeschaut hatte. Strafen gab es auch mit Kopfnüssen.Puhle kontrollierte täglich die Sauberkeit der Hände. 1940 wurde der junge Lehrer zum Kriegsdienst eingezogen. Er ist im 2. Weltkrieg gefallen.

Lehrer der Oberschule

Lore Wolf *1932 Studienrätin

Die Engelhardten

Die Klassentür wurde mit energischer Hand geöffnet. Herein kam die Engelhardten, wie wir sie despektierlich nannten. Grauer Kleiderrock, vorn durchgeknöpft, Gürtel um die füllige Mitte, darunter, je nach Jahreszeit, Bluse oder Pullover, auch grau, aber heller als der Rock. Hellblau oder hellgrün kamen auch vor, rosa nie, auch rot nicht oder gar lila. Dezent eben. Die schwarzen, geschnürten Schuhe blank geputzt, das graue Haar straff nach hinten gekämmt, der geflochtene Zopf mit Haarnadeln zum Knoten zusammengesteckt, keine Strähne hing heraus, nichts war verrutscht. So stand sie aufrecht vor der Klasse, den rechten Arm zum Gruß nur leicht erhoben. Sie hatte ihn nie zur Gänze ausgestreckt wie der Biologie- und der Musiklehrer, die in Breeches und SA (Sturmabteilung)-Hemd durch die Schule stolzierten.

„Heitla, setzen“, und damit ging der Arm nach unten, die Geste hatte nichts Feierliches, was vielleicht zu Heil Hitler gehört hätte, aber Heil Hitler hatte sie ja auch nicht gesagt. Dass ihr Gruß etwas Verächtliches hatte, wurde mir erst später klar, durch aufgeschnappte Satzfetzen, wie „Sie mussten mich wieder zurückholen. Sie brauchen jetzt Lehrer, wo so viele an der Front sind“. 1933 war die rote Else, wie man die engagierte Sozialdemokratin in Finsterwalde nannte, zwangspensioniert worden. Die Bezeichnung war abschätzig oder respektvoll, es kam darauf an, in welcher Ecke man saß. „Sie war für die freie Liebe“, wurde erzählt und tatsächlich gab sie mir nach dem Krieg Bücher zu diesen Themen. Die zum Teil aus der avantgardistischen Sowjetliteratur stammenden Werke haben mich als Bürgermädchen sehr verblüfft. In den ersten Oberschulklassen war allerdings bei ihr von ungewöhnlichen Ansichten nichts zu spüren, aber auch nichts von Reformpädagogik, von der Berücksichtigung des Individuums Schüler. Mädchen wie Jungen wurden mit Nachnamen angeredet: „Richter, komm vor“ oder „Linke, Du Gans“. Wenn wir ihr allzu träge vorkamen: „Fenster auf! Aufstehen, setzen, aufstehen setzen!“ Damit hätte das Gehirn wieder mehr Sauerstoff und da wird sie wohl recht gehabt haben.

 

Wir hatten vor ihr Respekt. Sie war gerecht und ließ sich nicht anmerken, ob sie einen Schüler mochte. Vielleicht merkte man es ein bisschen beim Enkel ihres langjährigen Geliebten, des sozialdemokratischen Bürgermeisters von Finsterwalde. Dazu musste man aber eingeweiht sein, man musste wissen, dass die Engelhardten in ihrer Freie-Liebe-Periode sogar gemeinsam mit dem Geliebten im offenen Wagen durch Finsterwalde gefahren war. Sie wagte, offen zu legen, was nach der herrschenden Konvention hinter der Fassade verborgen zu bleiben hatte. Ein beachtlicher Mut, stelle ich im Nachhinein fest.

Wir lernten die Zeichensetzung gründlichst. Es kam vor, dass sie in die Klasse stürmte und noch vor dem Grußritual rief: „Braun, Komma vor und!“. Die Regeln mussten wie aus der Pistole geschossen aufgesagt werden. Dann Wortart und Satzteilbestimmungen, die Unterscheidungen von Neben-, Subjekt-, Objekt- oder Umstandssätzen. Es war verwirrend und wollte mir nicht in den Kopf. Lesebuchtexte mussten laut vorgelesen werden. Sie wurde sehr böse, wenn wir ohne Ausdruck lasen. Gedichte mussten oft auswendig gelernt und dann vor der Klasse stehend mit Ausdruck vorgetragen werden. Dann korrigierte sie so lange herum, bis er oder sie es begriffen hatte. Mit dem einmaligen Auswendiglernen war es nicht getan. War keine andere Hausaufgabe zur Hand, wurde ein Gedicht zur Wiederholung aufgegeben und mit dem gleichen Ritual „Komm nach vorne, steh gerade“ aufgesagt. Meist waren es Balladen oder Naturgedichte. Ich erinnere mich nur an ein einziges vaterländisches, ziemlich kurzes Schmalzgedicht von Heinrich Anacker. Unsere Meinung zu den Gedichten war im Allgemeinen nicht gefragt. Bei diesem aber fragte sie ausgerechnet mich, wie es mir denn gefiele. Es war mir sehr peinlich, denn eigentlich hatte ich gar keine Meinung dazu. Ich antwortete ausweichend, fragte mich, warum sie mich wohl gefragt hatte, las es mehrfach, blieb gleichgültig und sagte ihr dann: „Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll.“ Sie war mit der Antwort zufrieden. Sie hatte ein Samenkorn gelegt, wie gute Lehrer es tun. Und sie war wirklich eine sehr gute Lehrerin.

Paulchen

Herr Paul, Paulchen, gelegentlich auch Master genannt, unterrichtete Englisch, Französisch, Latein und während des Krieges aushilfsweise auch Geographie, wo er uns viele Fotos von seinen weiten Reisen zeigte. Ich frage mich, wie es zu diesem eher zärtlichen Paulchen gekommen ist. Kein Vergleich zu Wuchte für Herrn Wucht oder zu Sacke für den glatzköpfigen, unförmigen, Wickelgamaschen tragenden Geschichtslehrer. An seinem Äußeren kann es nicht gelegen haben. Er trug gut sitzende Anzüge, korrekt gebügelte Hemden, passende Krawatten, passend auch die Socken und die gut geputzten Schuhe. Er wahrte Distanz zu uns, sicher auch zu seinen Kollegen, verteilte sehr selten Ohrfeigen (natürlich nur an die Jungen), wobei er überraschenderweise links zuschlug, wo man den Schlag doch rechts erwartete. Keine lockere Bemerkung kam über seine Lippen, kein Witz, es sei denn, er diente Unterrichtszwecken. „Waiter, when shall I become a cup of tea?“ – „I hope never, Sir.“ Von theoretischen Erklärungen zur Grammatik hielt er nicht viel.

Er hatte sich auf Mustersätze verlegt, die wir wieder und wieder üben mussten. Zu seinen Lieblingssätzen gehörte der berühmte Ausspruch Nelsons vor der Schlacht von Trafalgar. Er begann: „England expects...“ und wir mussten antworten: „every man to do his duty.“ Bei aller Distanz war Paulchen nicht unfreundlich. Ich glaube, er war höflich zu uns. Bei Betrugsversuchen konnte er sehr ärgerlich werden. Abschreiben bei Klassenarbeiten wurde mit Tadel wegen Betrugs und einer Sechs als Zensur quittiert. Einmal erwischte er mich beim Abschreiben. Er sagte nur: „Aber Lore“ und das mit bekümmertem Gesicht. In der gleichen Stunde hatte ein anderer Schüler einen Tadel und die Note Sechs bekommen. Ich bekam keine Strafe, schämte mich sehr und fragte mich lange, ob er mir die Halbjahreszensur nicht verderben oder ob er mich auf diese Weise sehr nachdrücklich bestrafen wollte. In seinen Fächern habe ich nie mehr abgeschrieben, aber in den anderen munter weiter.

Eines Tages kam Paulchen im Unterricht auf Rosa Luxemburg und Clara Zetkin zu sprechen. Es war eine der wenigen Äußerungen, die etwas über ihn sagten. Er bezeichnete Clara Zetkin als glänzende Rednerin, die er einige Male im Reichstag gehört habe. Rosa Luxemburg sei eine bedeutende Frau von scharfem Verstand gewesen. Ich wartete auf eine abwertende Bemerkung: Kommunistin, Jüdin? Ich war ganz und gar verwirrt. Eine Kommunistin eine glänzende Rednerin? Und die rote Rosa bedeutend, eine Jüdin,? Es fügte sich mir nicht zusammen.

Nach dem Kriege erzählte mir die Hurmsche, dass Paul und sie von der damaligen Provinzialschulverwaltung nach Finsterwalde geschickt worden waren, um den linken Flügel an der Oberrealschule zu stärken. Mitglieder der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands ) waren beide nicht, sonst wären sie 1933 entweder entlassen (wie die Engelhardten) oder strafversetzt worden. Als Paulchen 60 wurde, ging ich noch zur Schule. Er war müde geworden und hörte nicht mehr sehr gut. Wir mussten ihm sagen, dass es geklingelt hat. In Französisch und Latein ließ er uns lesen und übersetzen, gelegentlich diktierte er uns etwas über die jeweiligen Schriftsteller, was wir uns einprägen mussten. Es war, als käme nichts mehr an ihn heran. In den wenigen Jahren, die ihm noch an der Schule verblieben, wurde es für ihn immer mühseliger. Für den kurzen Weg von seiner Wohnung zur Schule brauchte er lange. Er musste immer wieder stehen bleiben und sich anlehnen. Er hatte schon lange Bluthochdruck und starb an einem zweiten Schlaganfall.

Sacke

Es wurde viel auswendig gelernt, nicht nur Gedichte. Auch englische Texte, französische Texte, die ersten Seiten vom Gallischen Krieg von Julius Caesar, auch Vergil. Außerdem Eselsbrücken jeder Art in Geschichte. Er zog gerne die Schüler an den Ohren aus der Bank oder schlug sie mit einem Schlüssel auf den Kopf. Wir mussten alle deutschen Kaiser und die preußischen Könige von 768 bis zum Reichsdeputationshauptschluss im Jahre 1803 lernen, wobei er uns niemals mitteilte, was ein Reichsdeputationshauptschluss ist.

Schwedeski und die Hurmsche

Bei unserem Religionslehrer Schwedeski wurden Kirchenlieder auswendig gelernt. Nichts haftet in meinem Gedächtnis von seinem Unterricht, bis auf eine Merkwürdigkeit. Er versprach demjenigen 25 Reichspfennige, der am nächsten Tage Oh Haupt voll Blut und Wunden auswendig und ohne Stocken aufsagen könne. Wenn ich mich recht erinnere, konnte Heinz die schöne Prämie einkassieren. Schwedeski kam nach dem Krieg nicht mehr zurück. Er hat aber, wie ich erfuhr, den Krieg überlebt, obwohl man ihn in das berüchtigte Strafbataillon 999 gesteckt hatte. Es muss 1944 gewesen sein, als man ihn zusammen mit der Hurmschen verhaftete. Die beiden hätten gemeinsam feindliche Sender abgehört. Darauf stand die Todesstrafe. Man sagt, die Hurmsche und er wären aus Eifersucht von der Frau des Religionslehrers denunziert worden, weil sie von einer Affäre der beiden überzeugt war. Die Hurmsche und eine Affäre. Das konnte ich mir gar nicht denken. Ich fand sie alt und hässlich, wusste noch nichts von Anziehung, meinte, Anziehung hätte etwas mit Angezogensein zu tun, mit Eleganz und hohen Absätzen, übereinander geschlagenen schlanken Beinen, mit Augenaufschlägen und lockendem Lächeln, so wie auf den Filmstarpostkarten, die damals gesammelt wurden.

Heinz Wolf *1928 Dr. phil. Studienrat

Die Hurmsche 1948 bis 1950

In Finsterwalde war ich nur 2½ Jahre und das auch nur halbtags zur Schulzeit. Dennoch war diese Zeit prägend für mich tumben Tor, der nach fast drei Jahren Unterbrechung (Flakhelfer, Kriegsgefangener, Landarbeiter) zögerlich und unsicher als Achtzehnjähriger in der 10. Klasse antrat, um den Schulabschluss zu machen. Diese Zeit gab mir Richtung und Orientierung, beruflich wie persönlich, legte das Fundament für Grundeinstellungen und Wertvorstellungen, für deren Entwicklung in der Vereinnahmung für Deutschlands totalen Krieg kein Raum gewesen war.

Nicht die Stadt, die Schule als Ganzes und auch nicht die Klassengemeinschaft waren entscheidend, sondern zwei Lehrer. Herr Paul (Paulchen) mit seiner korrekten, pflichtorientierten Haltung, der mich durch die vermittelten fachlichen Inhalte zum Anglistikstudium brachte. Frau Hurm hatte in einem sehr umfassenden Sinn einen lebenslangen Einfluss. Die vier Fächer Deutsch, Französisch, Englisch und Latein machten fast die Hälfte der wöchentlichen Unterrichtszeit der fremdsprachlichen Abteilung der Klasse aus. Beide Lehrer waren täglich präsent. Sie wirkten durch ihre eigenständigen Persönlichkeiten fordernd und fördernd in unserer Klasse, die in den letzten beiden Jahren sehr klein war.

Die Hurmsche, wie wir sie zu ihrem Missfallen nannten, war eine unbestrittene Autorität. Eine kleine grauhaarige Frau mit blitzender Brille, selbstbewusst, sachlich, hellwach, freundlich, öfters aber auch mit aufblitzender Ironie im Blick, rational diesseitig eingestellt, Verquastheiten abhold, selber gescheit und mit großer Neigung zu gescheiten Leuten. So nannte sie z.B. Mehring mit Wärme einen blitzgescheiten Mann. „Man müsse über sich hinauswachsen wollen, damit man nicht unter sich sinke“, zitierte sie einen unserer Klassiker. Sie war hilfsbereit, listig und immer engagiert. Eine Lehrerpersönlichkeit, die den Geist ihrer Schüler in Gang setzen und Spuren hinterlassen wollte. Sie machte nie Dienst nach Vorschrift, erlaubte sich aber auch Schwächen, die sich ein Lehrer eigentlich verkneifen sollte, wie z.B. die unverhohlene, oft entschieden einseitige Sympathie für Personen, die sie interessierten.

Frau Hurm wollte mit angestrengt gutem Willen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone ein besseres Deutschland schaffen. Es war wesentlicher Verdienst dieser Frau, dass in unserer Klasse Offenheit und Freimut in weltanschaulichen Fragen selbstverständlich und ungefährlich waren und nicht verbohrte politische Sturheit herrschte wie schon ein Jahr nach unserem Abgang. Frau Hurm war im Herzen Sozialdemokratin. Später wurde sie aus der erweiterten Oberschule verbannt. Aber genau da wäre eine Frau mit ihrer Persönlichkeit am richtigen Ort gewesen.

Ihr Deutschunterricht war beispielhaft für diese Offenheit. Geist der Goethezeit und Edel sei der Mensch von Korff waren Leitfäden für die Klassikerbehandlung. Aufträge zu Schülerreferaten basierten z.B. auf Gundolf, Lukacz, Mehring. Deren konträre und kontroverse Positionen waren Stoffgrundlage unserer Diskussionen. Manchmal schien es, als behandelten wir die Themen ohne ihr wesentliches Zutun, als machte sie es sich leicht. Tatsächlich war sie natürlich der spiritus rector. Sie trat stark hervor, wenn es nötig war, weil wir etwas nicht erfassten, was sie für unverzichtbar hielt. So waren Aussagen in der gemäßen Ausdrucksweise zu rezitieren. Sie war nie mit dem bloßen Hersagen von Sätzen zufrieden, sondern drang auf das Beachten der Sprachmelodie, die richtige Sprechtechnik, den sinngerechten Sprachgestus und immer auf die Hörerbezogenheit, bis in uns eine Ahnung aufdämmerte, dass der Text eine größere Dimension hatte als uns zugänglich war. Das galt übrigens auch für ihren Französischunterricht, z.B. bei der Behandlung der Fabeln Lafontaines. Dass ihr Anspruch manchmal über unser Vermögen hinauszielte, ist mir lebhaft bewusst, wenn ich an meine Hilflosigkeit bei einem Erörterungsaufsatz über eine zugespitzte Sentenz aus Schillers Wallenstein denke. Was ich dazu zusammenfaselte, ist mir heute noch peinlich. Ihr Deutschunterricht, mit dem sich ihr Persönlichkeitsbild für mich am engsten verbindet, wirkte auf mich enorm motivierend. Als ich in Finsterwalde antrat, war mein Geist in literarisch-künstlerischer Hinsicht wahrhaft eine tabula rasa. Bevor es mit 15½ Jahren zum Dienst fürs Vaterland ging, war mein literarischer Schulstoff mager gewesen Ich hatte Storms Pole Poppenspäler in ganzer und Raabes Schwarze Galeere zur Hälfte gelesen. Das war alles. Danach kam nur Triviales.

Noch bei Schulantritt hatte ich keine Zeile an ernstzunehmender Belletristik gelesen. Die drastische Wende innerhalb von zwei Jahren, die mich zum Germanistikstudium brachte, hat Frau Hurm bewirkt. Vom ersten Tag an gab es kein Schwimmen beim Studium. Für mich hat sie beispielhaft hochschulvorbereitend gewirkt und als Lehrer habe ich mich später in vielem auf sie stützen können. Ihrer List habe ich wesentlich mitzuverdanken, dass ich überhaupt an einer Hochschule angenommen wurde. Ich war jahrelang für den Erhalt von Deutschlands Größe benutzt worden, so dass ich mich aus allem Politischen und Gesellschaftlichen weitgehend herausgehalten habe. Da mir also ein Ausweis über Tüchtigkeit auf diesem Felde fehlte, solche Tüchtigkeit aber unverzichtbare Voraussetzung für das Studieren war, erschlich sie sich für mich ein Aktivistenzeugnis der FDJ, ein Dokument, das es garnicht gab. Das war ein kräftiger Rückenwind, mit dem sie mich aus der Schule hinaus und in eine neue Entwicklungsetappe pustete.

 

Ich habe ihr viel zu verdanken.