#4 MondZauber: VERGELTUNG

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Aus der Reihe: MondZauber #4
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#4 MondZauber: VERGELTUNG
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MARI MÄRZ

VERGELTUNG

Part #4 der MondZauber-Tetralogie

Handlungen und Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen werden in diesem Buch in einem ausschließlich fiktionalen Zusammenhang verwendet.

MondZauber 4 - VERGELTUNG

1. Auflage

(Deutsche Erstausgabe)

Copyright © 2021

DIE TEXTWERKSTATT

www.korrekt-getippt.de

Korrektorat: Silvia Vogt

Cover-Grafiken: Pixabay

MARI MÄRZ

Alle Rechte vorbehalten.

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Lyra

Ein weiblicher Hybrid in der Gestalt eines Wertieres, geboren aus dem Wasser und dem Feuer, soll im Reich der Luft seine Kräfte messen und dem Reich der Erde endlich Frieden bringen. Lyras Schicksal wurde bereits vor langer Zeit besiegelt. Begleite sie auf ihrem fantastischen Weg, tauche ein in die magische Welt der Mythen und Märchen und löse mit ihr gemeinsam die Geheimnisse, welche nun nicht länger im Verborgenen liegen …

#4MondZauber:

Der Sturm beginnt. Nach den dramatischen Ereignissen in der Pollnagollum-Höhle schwebt Lyra zwischen Leben und Tod. Auf einem Frachtschiff reist sie zurück nach Island. Kriegsvorbereitungen müssen getroffen werden, die Uhr tickt. Das Anti-Serum ist immer noch nicht fertig, Lyra kämpft gegen ihre dunkle Seite und für Ian gibt es kaum Hoffnung.

Aber die magische Union formiert sich. Gestaltwandler, Hexen, Riesen, Nymphen und Harpyien folgen dem Ruf des Exempli Gratia Magicis. Satyr Daris beweist als Lupercus Tapferkeit in der ersten Gegenoffensive, doch hat er kaum eine Chance gegen das Heer der Zombie-Wölfe. Die Schlacht beginnt, als der heilige Crann Úll brennt.

Wer wird diesen sinnlosen Krieg gewinnen?

Aus der Asche des Apfelbaums erwächst etwas Neues im Kreislauf des Lebens. Die Vergeltung war nur der Anfang …

Die Götter spielen ein Spiel.

Alles, was uns jetzt noch helfen kann,

ist ein Wunder.

Lyra

Was bisher geschah ...

Auf hoher See

Alive, alive, oh ...

Gefühlschaos

Geboren aus dem Wasser

Wunder & Wissen

Kräutertee & Katzenjammer

Kriegsvorbereitungen

Die dunkle Seite

Weisheit oder Wahnsinn?

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Die magische Union

Die Schlacht beginnt ...

Das Heulen der Wölfe

Keine Zeit für Tränen

Chance auf Versöhnung?

Crann Úll

Bruder gegen Bruder

Vergeltung

Die Macht der Liebe

Zorn der Götter

Eine neue Zeit

Vereinigung

Was die Zukunft bringt

Eine neue Zeit

Exempli Gratia Magicis

Kreislauf des Lebens

Danke

Backstage

DIE SYMBOLIK

DIE PROTAGONISTEN

MondZauber #1 VERWANDLUNG

MondZauber #2 VERSUCHUNG

MondZauber #3 VERBANNUNG

MondZauber #4 VERGELTUNG

REDRUBI

Zur Autorin

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Was bisher geschah ...

Ein Jahr ist vergangen, seit Lyra die ersten Veränderungen an sich entdeckte, ihre Haare kurz schor und der Normalität entfliehen wollte.

Aber was ist normal?

Mittlerweile zählt die Magie zu ihrem Alltag. Vieles von dem, was Lyra nur aus Büchern und Filmen kannte, ist nunmehr Realität. Gestaltwandler, Hexen, Nymphen, Satyrn … und selbst ein Märchen wie Rotkäppchen entpuppte sich als nicht gerade romantische Wirklichkeit. Sie rang mit Redrubi, besiegte untote Werwölfe und blickte dem Urvampir ins Antlitz. Mehr noch – sie gab ihm unfreiwillig ihr Blut, sodass er von den Toten auferstehen konnte.

Und doch gibt es keinen Schatten ohne Licht. Weihnachten verbrachte Lyra in Island, fand eine Familie, Gleichgesinnte und die Liebe zu Ian. Alles hätte schön sein können, wären da nicht die archaischen Rudelgesetze, der bevorstehende Krieg und ebenjene erschütternde Nachricht, dass Ian sich mit dem Virus infizierte und bald zu einer blutrünstigen Bestie mutieren würde.

Nach den dramatischen Ereignissen in der Pollnagollum-Höhle hängt ihr Leben am seidenen Faden. Doch Lyra gibt nicht auf. Die dunkle Seite gewinnt zunehmend an Kraft und nicht nur in Lyra wächst die Sehnsucht nach Vergeltung …

Auf hoher See

Wo war sie?

WAS war sie?

Lyra hörte die Stimmen ihrer Tante Miranda und der beiden Rabenbrüder. Doch da war noch mehr. Geräusche, Gespräche, Musik, Lachen, Weinen … und die tosende See. Ihre Sinne waren schärfer denn je. Sie nahm ihre Umwelt nicht mehr nur durch ihre kognitiven Fähigkeiten wahr, sondern in einer weiteren Dimension. Ganzheitlich – als wäre sie sowohl in ihrem Körper als auch außerhalb davon. Sie dachte an ihre erste Verwandlung unter dem Apfelbaum in Irland, an die Höhle der Beanna. Damals war ihr Geist aus ihrem Körper geflogen, sie hatte die Welt von oben betrachtet, bis die Verwandlung vollzogen und sie als Luchs in den Wald gelaufen war.

Und jetzt?

Verwandelte sie sich jetzt wieder?

Nein, es war anders. Sie konnte gleichzeitig innen und außen sein. Sie fühlte die warme Hand ihrer Tante, hörte Dagur und Arnar über ihren Zustand diskutieren, sie roch gebratenen Fisch und sah trotzdem das Schiff, in dem sie sich offensichtlich befanden. Es trotzte dem stürmischen Wetter, sein Bug schnitt die hohen Wellen.

Was war geschehen? Redrubi hatte sie gebissen, die Pollnagollum-Höhle, der alte Cathán war zum Leben erwacht. Und sie, Lyra? War sie noch die alte?

»Kätzchen, mach die Augen auf!«

Nein, sie war noch nicht bereit für die Realität. Was, wenn Ian längst ein Zombie war? Was, wenn der Krieg alle vernichtete, die Lyra liebte? Was, wenn …?

Nein, sie durfte nicht länger hier herumliegen.

Sie musste etwas tun.

»Da, sie blinzelt wieder!«

Lyra öffnete die Augen, bekam ein Bild zu dem, was sie gehört hatte. Miranda und die Rabenbrüder hockten vor ihr. Sie lag auf einem Bett. Langsam drehte sie den Kopf und sah ein großes Bullauge, davor Wasser, das im stetigen Rhythmus der Wellen an die Scheibe klatschte. Sie waren tatsächlich auf einem Schiff, auf hoher See.

 

»Wie lange war ich weg?«

»Knapp vier Tage«, flüsterte Miranda und wischte sich Tränen von den Wangen. Noch nie hatte Lyra ihre toughe Tante weinen sehen.

Vier Tage.

Aber sie war am Leben.

»Wie geht es Ian?«, murmelte Lyra jene nächste Frage, die ihr auf der Seele brannte. War auch er am Leben oder längst eine untote Bestie?

»Nichts Neues aus Island«, sagte Miranda und schaute kopfschüttelnd auf ihr Handy. Warum war ihre Tante so wortkarg? Irgendeine Nachricht musste in vier Tagen doch gekommen sein?

Dagur und Arnar plapperten dafür umso enthusiastischer – mal abwechselnd, dann wieder synchron erzählten sie Lyra, was geschehen war.

»Cathán senior hätte uns gern ausgelutscht. Der war krass drauf, als er von den Toten auferstand«, sagte Dagur.

»Aber Redrubi hielt ihn zurück«, fügte Arnar hinzu. »Ich sage dir, die führt noch mehr im Schilde, sonst hätte sie uns nicht verschont.«

Lyra hatte einige Mühe, sich auf das Gesagte zu konzentrieren. Während sie sich aufsetzte und durstig vom Wasser trank, das Miranda ihr gereicht hatte, hörte sie zu und dachte nach.

Die Rabenbrüder erzählten weiter, wie sie Lyra aus der Höhle getragen hatten. Es musste eine ziemliche Schinderei gewesen sein. Sie war zwar nicht mehr so pummelig wie noch vor einem Jahr, aber doch größer und auch schwerer als die kleinwüchsigen Zwillinge. Dagur berichtete, dass sie vor der Höhle eine Trage gebaut hätten, um Lyra bis zum Auto zu schleppen. Miranda schaltete sich in die Ausführungen ein und sagte, dass sie in einem kleinen Gasthof übernachtet hätten und dann direkt zum Hafen nach Belfast gefahren wären. Es gab keine Fährverbindung von Irland nach Island. Sie hätten über Dänemark reisen können, aber das wäre ein Trip von etwa einer Woche gewesen. Mit dem Flugzeug wäre es am schnellsten gegangen, aber nicht mal Mirandas magische Überredungskünste hätten die Mitarbeiter am Flughafen davon überzeugen können, der halb toten Lyra ein Ticket auszustellen. Also waren sie auf einem Frachtschiff unterwegs. Die ausschließlich männliche Besatzung hatte Miranda relativ schnell überzeugen können – zum einen mit ihren erotischen Reizen, zum anderen mit einer ordentlichen Stange Geld.

Durch Lyras schmerzenden Kopf geisterten Bilder von Kapitän Ahab und Moby Dick, der Meuterei auf der Bounty und Herbert Grönemeyer als Leutnant Werner an Bord von U 96. Allesamt keine besonders attraktiven Männer, was sie zu der Frage brachte: »Du musstest aber nicht mit einem der Kerle ins Bett, oder?«

Miranda kicherte. »Und wenn, war das mein Privatvergnügen. Seeleute sind so hübsch hungrig.«

Lyras Sinne schweiften zu dem Geruch nach gebratenem Fisch, den sie eben noch wahrgenommen hatte. War das nur Einbildung gewesen? Nein, es roch tatsächlich …

Sie sprang auf, schaute sich hektisch in der kleinen Kabine um, fand eine Tür, an der kein grünes Schild angebracht war, das auf einen Fluchtweg hinwies. Dahinter entdeckte sie ein Waschbecken, eine Dusche und …

Würgend riss sie den Toilettendeckel hoch und spuckte das Wasser wieder aus. Mehr hatte sie offenbar nicht im Magen. Wie auch – nach vier Tagen im Koma?

Kalter Schweiß bedeckte ihren zitternden Leib. Vor der Tür hörte sie Dagur und Arnar lamentieren, ob es sich um Anzeichen einer Verwandlung, Genesung oder Seekrankheit handelte. Miranda war praktischer veranlagt. Sie kam in das winzige Bad, knallte die Tür hinter sich zu und half Lyra beim Aufstehen.

»Kätzchen, du wirst jetzt duschen, deine Zähne putzen und dann besorgen wir dir was zu essen.«

Beim letzten Wort musste Lyra erneut würgen, aber da war nichts, was sie hätte von sich geben können. Nur grüne Galle, die aus ihrer Kehle zum Wasser im Klosett spritzte. Keuchend tastete sie nach der Spülung. »Wo …?«, fragte sie und stöhnte. Miranda betätigte einen Knopf, woraufhin der Inhalt des Toilettenbeckens geräuschvoll abgesaugt wurde.

»Ich kann nichts essen«, seufzte Lyra und zog sich das verschwitzte Shirt über den Kopf.

»Doch, Kätzchen! Gegen Seekrankheit hilft am besten Essen. Gegen die Folgen eines massiven Blutverlustes ebenfalls, vom Biss einer Göttertochter mal ganz abgesehen.«

Auf wackligen Beinen stand Lyra am Waschbecken und betrachtete das ausgemergelte Wesen vor sich im Spiegel. Sie sah echt scheiße aus. Ihr Blick senkte sich resigniert und blieb an ihrem rechten Unterarm hängen. Dort waren immer noch die Bissspuren zu sehen. Warum verheilten sie nicht?

»Meinst du, ich bin jetzt auch infiziert wie Ian?«, fragte sie aus einem ersten Impuls heraus. Doch dann besann sie sich auf das, was Redrubi gesagt hatte.

Keine Angst, Kätzchen, ich werde dich nicht zu einem Vampir machen. Du bist die Auserwählte, also wird dein magisches Blut meinen Liebsten zum Leben erwecken.

Die Tochter der Geisterkönigin, jene fiese rothaarige Bitch, die mit ihnen spielte, als wären die Bewohner der magischen Welt nur Schachfiguren, lediglich Staubkörner in der Zeit, hatte Lyra fast zärtlich mit »Kätzchen« angesprochen.

Wieso?

War das wieder eines ihrer Spielchen gewesen oder steckte mehr dahinter?

Im Nachhinein glaubte Lyra, etwas wie Dankbarkeit in Redrubis Augen gesehen zu haben.

»Keine Ahnung, ob du jetzt infiziert bist, Kätzchen. Sag du es mir!«, erwiderte Miranda und half ihr beim Ausziehen. Fürsorglich hielt sie Lyras geschwächten Körper unter der Dusche, wusch ihr strähniges Haar und trocknete sie anschließend ab.

»Ich bin dankbar, dass du noch lebst. Und ich hoffe, das bleibt so!«, murmelte Miranda wenig später, als sie Lyras Haar in ein frisches Handtuch wickelte und ihr eine Zahnbürste reichte. »Fürs Erste wäre ich glücklich, wenn du dir den Grind von den Zähnen schrubbst. Du riechst echt widerlich aus dem Mund.«

Da war er wieder, Mirandas Sarkasmus. Wenigstens etwas Vertrautes, das Lyras Herz wärmte. Ihre Tante öffnete die Badtür und wies die Rabenbrüder an, etwas Essbares aufzutreiben. Während sie sprach, schaute sie zurück zu Lyra und fragte: »Das hier ist zwar nicht die AIDA, aber der Smutje an Bord kocht nicht schlecht. Hast du Appetit auf was Besonderes?« Miranda bedachte sie mit einem durchdringenden Blick und fügte dann hinzu: »Blut, Menschenfleisch oder so?«

Lyra grinste, obwohl ihr nicht unbedingt nach Scherzen zumute war. Eine Sekunde horchte sie in sich hinein und wollte erspüren, ob da tatsächlich der monströse Drang war, ihre Zähne in etwas anderes als ein Kaninchen oder Reh zu rammen. Nein, da war nichts. Sie schüttelte den Kopf und versuchte es mit einem Lächeln. »Nee, ein rohes Stück Tier würde mir reichen.«

»Jungs, sie ist immer noch eine Katze und kein Vampir. Also schaut mal, ob ihr in der Bordküche ein halbes Rind auftreiben könnt … ein Huhn vielleicht oder rohen Fisch.«

»Ja, roh! Der Bratenduft bringt mich sonst gleich wieder zum Kotzen«, rief Lyra aus dem Bad und ließ sich müde auf der Toilette nieder. Egal, was die Rabenbrüder ihr brachten, sie musste es tapfer in sich hineinstopfen, dem Würgereiz trotzen und wieder zu Kräften kommen. Ihr Trip in die Marble Arch Caves war ein Desaster gewesen, völlig sinnlos. Sie hatten weder Blut noch Gewebeproben vom alten Cathán. Ganz im Gegenteil, der vergnügte sich jetzt mit Redrubi irgendwo. Und der junge Cathán spielte Gott und erschuf seine Armee der Untoten. Hatte er deshalb nur Teile des Urvampirs mitgenommen, weil Redrubi genau wusste, dass sie mit Lyras Blut ihren Liebsten zum Leben erwecken konnte?

Aber was wollte der junge Cathán mit den Armen und Beinen des Urvampirs? Er war kein Wissenschaftler wie Lyras Großvater, sondern ein beschissener Fanatiker. Allerdings hatte sich etwas verändert, eine durchaus wichtige Variable im Spiel der Götter. Der junge Cathán wollte sich an seinem Bruder rächen, ja. Aber er inszenierte diesen Krieg doch auch, weil er glaubte, auf diese Weise Redrubi für sich zu gewinnen. Er wollte in die Fußstapfen seines Namensvetters treten. Nur ging das jetzt nicht mehr, da der alte Cathán wieder lebendig war.

Alive, alive, oh ...

»Ach du heilige Scheiße!«

»Was?«, fragte Lyra und leckte sich die Finger ab. Die Rabenbrüder hatten tatsächlich rohes Fleisch auftreiben können. Es war zwar gefroren gewesen, aber Miranda hatte es mit ein paar Flämmchen aus ihren Fingern aufgetaut. Lyra lehnte sich satt zurück und schaute ihre Tante an, die hektisch auf dem Display ihres Smartphones herumwischte.

»Du weißt schon, dass die Internetgebühren auf hoher See ein Vermögen kosten?«, brummte Arnar und schaute angewidert zu den blutigen Resten des toten Tieres auf Lyras Teller. Diese tauchte ein weiteres Mal ihre Finger hinein und leckte das Blut ab. Dabei zwinkerte sie Dagur zu, der sich ein Lachen verkneifen musste. Lyra hatte erst Hannibal Lecter imitiert, dann Bram Stokers Dracula in theatralischer Geste. Nein, sie spürte keine Gier nach menschlichem Blut, dafür mit jedem Bissen Rind, wie die Kraft in ihren Körper zurückkehrte. Und deshalb gab sie sich der guten Laune hin und trieb ihre Scherze mit Dagur und Arnar, der sie immer noch skeptisch beäugte.

»Keine Angst, ich werde dich nicht fressen.« Jetzt nahm Lyra den Teller und leckte ihn ab. Das wollte sie schon immer mal tun, und heute war ein guter Tag dafür.

»DU wirst uns vielleicht nicht fressen, aber …«, murmelte Miranda, die plötzlich leichenblass war.

»Was ist denn los?«, wiederholte Lyra ihre Frage. Die gute Laune war wie weggeblasen. Eine düstere Vorahnung durchfuhr sie wie ein eisiger Windzug. »Was ist passiert?«

Miranda reichte ihr wortlos das Telefon.

Das Grauen geht um in Spitzbergen!

31. Dezember: Auf der norwegischen Inselgruppe scheinen Monster ihr Unwesen zu treiben. Die örtliche Polizei ging lange Zeit von einem tollwütigen Tier aus, das seit mehreren Monaten immer wieder Menschen tötete. Doch jetzt fanden die Beamten am Isfjord ein Massengrab mit etwa dreißig zum Teil völlig entstellten Leichen, die in den kommenden Tagen in Longyearbyen obduziert werden. Bewohner der angrenzenden Küstenstädte Barentsburg und Longyearbyen sagten aus, sie würden in der Nacht Wölfe heulen hören.

Wie passt das zusammen? Wölfe in Spitzbergen? Es gibt Polarfüchse, Rentiere und Eisbären, aber keine Wölfe und vor allem kein Tier, das ein Massengrab ausheben kann.

Die Angst geht um auf dem Archipel zwischen norwegischem Festland und Nordpol. Hier, wo das Klima rau ist, die Nächte besonders lang sind und die Dunkelheit herrscht. Die Behörden der Regionen verhängten eine vorübergehende Ausgangssperre.

»Ach du heilige Scheiße!«, wiederholte jetzt Lyra die Worte ihrer Tante.

»Sag ich doch!« Miranda nahm ihr das Telefon wieder ab. »Und dieser Scheiß ist noch nicht alles. In Nordirland wurde eine Blutbank ausgeraubt.«

Lyra hob den Blick. »Was? Meinen die uns?«

Miranda schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben doch nur sieben Beutel in Bray geklaut und nicht in Nordirland, sondern im freien Teil der Insel, das nicht unter britischem Protektorat …«

»Jaja, ich weiß.« Lyra stand auf und ging zum Schrank, wo sie vorhin einige Kleidungsstücke und eine Tasche entdeckt hatte. Ihr Handy musste dort irgendwo sein. Sie fand es nicht und schaute sich in der Kabine um. Zwischen den beiden schmalen Betten war eine Art Nachttisch, wo die Wasserflasche stand, aus der Lyra getrunken hatte. Darunter war ein Schubfach, sie riss es auf und fand ihr Telefon. Der Akku war leer.

»Haben wir ein Ladekabel?« Sie schaute zu Miranda, dann zu den Zwillingen. Dagur nickte, verschwand aus der Kabine und kam kurz darauf zurück. Lyra nahm das Ladekabel dankbar entgegen, stöpselte es in ihr Handy und den Stecker in eine Dose, die zum Glück kompatibel war. Während sie ungeduldig darauf wartete, dass der Akku so weit geladen wurde, dass sie ihr Handy anschalten konnte, hörte sie Miranda zu, die einen weiteren digitalen Zeitungsartikel vorlas.

»Aus dem City Hospital in Belfast wurden in der Nacht zum 29. Dezember mehrere hundert Blutkonserven gestohlen. Der Northern Ireland Blood Transfusion Service hat auf dem Gelände seinen Hauptsitz. Im Auftrag des Gesundheitsministeriums beliefert die unabhängige Sonderagentur alle umliegenden Krankenhäuser mit Blut und Blutprodukten und ist zudem mit der Sammlung, Prüfung und Verteilung von über 55.000 Blutspenden pro Jahr betraut. Erste Vorwürfe werden laut, dass der gemeldete Diebstahl auf ein Kartell zurückzuführen ist, das mit dem für viele schwerkranke Menschen lebenswichtige Blut enorme Mengen Geld verdient. Trotz verstärkter Sicherheitsvorkehrungen kam es in der Nacht zum 31. Dezember zu einem weiteren Einbruch. Ein Augenzeuge will bemerkt haben, wie eine dunkle Gestalt die massive Stahltür des Bluttresors mit bloßen Händen aus den Angeln gerissen haben soll. Diese und weitere Aussagen von Mitarbeitern des Northern Ireland Blood Transfusion Service geben den zuständigen Polizeibeamten Rätsel auf.«

 

»Ich muss nicht Einstein sein, um zu kapieren, wer die Blutbank ausgeraubt hat. Schöne Scheiße!«, konstatierte Lyra, die jetzt ihr Handy einschaltete. »Wenigstens hat der alte Cathán so viel Anstand und saugt keine Menschen aus wie dieser Blödmann in Spitzbergen. Aber ein Gutes hat das vielleicht …«

Lyra betrachtete das Display, da waren diverse Anrufe in Abwesenheit von ihrer Mutter und Ian, zahlreiche E-Mails, jede Menge Spam und eine Messenger-Nachricht bei Facebook. Nanu? Sie hatte den Account vor Jahren angelegt und fast genauso lange nicht mehr dort nachgesehen. Facebook war tot. So tot wie die armen Seelen in diesem Massengrab am Isfjord.

»Was meinst du?« Miranda wischte immer noch auf ihrem Handy herum. Offenbar suchte sie weitere Schauernachrichten, die sich mit jener deckten, die sie gerade vorgelesen hatte.

»Also …« Lyra räusperte sich, ihr Gedanke hatte sich gerade noch schlüssig angefühlt, aber nun. »Ich kenne das nur aus Twilight, aber vielleicht ist es in der realen irren Welt ähnlich.« Sie machte eine Pause. Irgendwie klang das verdammt schräg.

»Rück schon raus, Kätzchen!«, machte Miranda ihr Mut und schaute von ihrem Handy auf.

»Also wenn die magische Welt in Gefahr ist, und das ist sie gerade, wenn also …« Sie rieb sich die Stirn. Es fiel Lyra immer noch schwer, sich zu konzentrieren. Der hohe Blutverlust und vier Tage Koma hätten bei normalen Menschen wahrscheinlich einen bleibenden Hirnschaden verursacht. Na ja, zum Glück war sie kein Mensch und nicht normal. Dennoch waren die Folgen des Traumas spürbar. Die Kopfschmerzen ließen langsam nach, die Lebensgeister kehrten zurück, nur in ihrem Hirn war immer noch ein großer Haufen Watte.

»Geht es dir schlechter?«, fragte Dagur besorgt.

Lyra seufzte und schaute zu den Zwillingen. »Nee, alles gut. Das wird schon. Also, was ich meine …« Sie setzte sich aufrecht hin und zwang sich, den Gedanken festzuhalten und klar zu formulieren. »Miranda, du sagtest, dass dieses hohe magische Gericht nicht direkt einschreiten darf, weil die Götter im Spiel sind. Richtig?«

Ihre Tante nickte und schenkte Lyra jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. »Richtig. Der Exempli Gratia Magicis darf sich nur einmischen, wenn …« Jetzt schien bei Miranda der Groschen gefallen zu sein. »Na klar, Kätzchen! Du hast vollkommen recht. Die Mitglieder des Hohen Rates dürfen nur einschreiten, wenn jemand aus der magischen Welt Mist gebaut hat. Nun, das ist jetzt wohl mehr oder weniger amtlich. Götter hin oder her, es ist ihre Pflicht, jetzt einzuschreiten.« Wieder wischte Miranda hektisch über das Display ihres Smartphones. »Ich werde die Artikel gleich mal deiner Großmutter schicken. Mal sehen, was sie sagt.«

»Was sie sagt?« Lyra wusste zwar seit einigen Tagen, dass ihre Großeltern mütterlicherseits, also die Eltern von Miranda und Miriam, noch lebten. Sie hatte es auf dem Weg zu den Marble Arch Caves erfahren, nur keine Zeit gehabt, länger darüber nachzudenken oder ihre Tante eingehend auszuquetschen. Jetzt aber …

»Kann ich mit ihr sprechen, mit meiner Großmutter?«

Miranda schaute sie eine Weile nachdenklich an, schürzte dann die Lippen und tippte weiter. »Ich habe deinen Großeltern bereits mitgeteilt, dass du wieder unter den Lebenden weilst und offenbar kein Vampir bist.«

»Das beantwortet nicht meine Frage. Gib mir bitte ihre Nummer oder E-Mail-Adresse!«, forderte Lyra mit einem pampigen Ton in der Stimme. Die alte Wut war wieder da. Warum konnte ihre Familie nicht so sein wie andere? Was war jetzt schon wieder verkehrt?

»Ich werde sie darüber informieren, dass du mit ihnen sprechen willst.«

Lyra sprang auf, wurde aber an ihrem Wutausbruch gehindert, als ein heftiger Knall die angespannte Stille zerriss. Vor dem Bullauge war ein Leuchten zu sehen. Instinktiv duckte sich Lyra. Ein weiterer Knall dröhnte über ihnen, ein weiteres Leuchten. Sie schaute zu den anderen, Arnar grinste, Dagur ebenfalls.

»Kätzchen, du wirst deine Großeltern kennenlernen. Versprochen! Aber nicht jetzt. Jetzt wollen wir Silvester feiern, so gut es hier auf dieser verrosteten Brotbüchse möglich ist.« Miranda legte ihr Handy in die Tasche ihrer Jeans und zog Lyra in die Arme. »Alles zu seiner Zeit. Ich weiß, dass Geduld nicht gerade dein zweiter Vorname ist, aber deine Großeltern sind … na ja …«

»Was?«, brüllte Lyra über den nächsten Silvesterkracher hinweg, der gerade an Deck gezündet worden war. Ihr neues magisches Feature machte es möglich, dass sie das Frachtschiff auf dem Ozean von außen betrachten konnte. »Sie sind also doch tot oder Geister oder was?«

»Irgendwie schon«, erwiderte Miranda und beugte sich zum Bullauge, vor dem weitere Raketen explodierten und den nachtschwarzen Himmel in ein surreales Licht tauchten. »Die Mitglieder des Exempli Gratia Magicis müssen der irdischen Lebensweise entsagen, bevor sie dieses höchste Amt antreten. Sie müssen loyal gegenüber allen magischen Wesen sein, weshalb es ihnen untersagt ist, in Kontakt zu ihrer Familie oder Freunden zu treten«, flüsterte Miranda dicht an Lyras Ohr. »Dass ich sie in all den Jahren auf dem Laufenden gehalten habe, verstößt im Grunde schon gegen die strengen Auflagen des Rates. Aber wir werden einen Weg finden. Vertrau mir!«

Lyra wischte sich energisch über das immer noch blasse Gesicht. Wie sehr sie es hasste, wenn die Wahrheit ätzend war und darüber hinaus nur bruchstückhaft an sie weitergegeben wurde. Aber angesichts dieser Tatsache, dass ihre Großeltern quasi gezwungen waren, im kontaktlosen Nirwana zu leben, musste sie sich wohl mit jener E-Mail zufriedengeben und ihrer Tante vertrauen, die für sie das geltende Recht bereits übertrat. Andererseits war das mit dem Vertrauen so eine Sache. Jahrelang wurde sie von ihrer Mutter belogen, auch wenn Lyra damit allmählich ihren Frieden machte. Aber wie sollte sie Miranda vertrauen, die siebzehn Jahre lang lediglich ihre Hauskatze Merci gewesen war und offiziell als tot gegolten hatte?

»Das ist doch alles Scheiße!«, murmelte sie resigniert. »Silvester ebenfalls. Ich hasse Silvester und all die aufgesetzte Fröhlichkeit. Wir haben keinen verdammten Grund zu feiern!«

»Doch, Kätzchen, den haben wir«, entgegnete Miranda und drückte sie fest an sich. »Du bist am Leben, wir sind am Leben. Also lass uns an Deck gehen, bevor die Jungs da draußen alle Böller verschossen haben.«

Mürrisch ließ sich Lyra von ihrer Tante aus der Kabine ziehen. Die Rabenbrüder folgten ihnen, verschwanden dann aber in der Nachbarkabine.

»Hey, ihr müsst mitkommen! Einer für alle, alle für einen!«, rief Lyra den Zwillingen hinterher, die mit mehreren Sektflaschen bewaffnet zurück auf den Gang traten. »Klar kommen wir mit, aber kein Silvester ohne Sprudelwasser.« Mit jeweils einer Flasche in jeder Hand schritten Arnar und Dagur voran und stimmten ein Lied an, das Lyra vage bekannt vorkam.

»Soon may the Wellerman come, to bring us sugar and tea and rum. One day, when the tonguin’ is done. We’ll take our leave and go …«, sangen die Rabenbrüder aus voller Kehle und stampften den Takt mit ihren kleinen Füßen, als sie die Treppen zum Deck hinaufpolterten.

»Das ist ein Seemannslied, der Wellerman-Song. Hundertsechzig Jahre alt, aber irgendwie nicht totzukriegen«, kommentierte Miranda und half Lyra, deren Knie sich immer noch wie Pudding anfühlten.

Die frische Luft tat gut, die Stimmung an Deck verscheuchte Lyras trübsinnige Gedanken und auch ihre körperliche Schwäche trat in den Hintergrund, als die Männer der Besatzung in den Shanty-Song einstimmten. Miranda hielt Lyra ihr Handy hin, wo sie den Text fand. Die Männer stampften den Takt, der so ansteckend war, dass sie nicht anders konnte, als mitzusingen.

There once was a ship that put to sea

The name of that ship was the Billy o’ Tea

The winds blew up, her bow dipped down

Blow, me bully boys, blow.

Soon may the Wellerman come

To bring us sugar and tea and rum

One day, when the tonguin’ is done

We’ll take our leave and go.

She had not been two weeks from shore

When down on her a right whale bore

The captain called all hands and swore

He’d take that whale in tow.

Soon may the Wellerman come

To bring us sugar and tea and rum

One day, when the tonguin’ is done

We’ll take our leave and go.

Raketen stiegen in den mondlosen Himmel, ein Lichtermeer ergoss sich über dem Ozean. Lyra ließ sich von der ausgelassenen Stimmung mitreißen, sang aus voller Kehle und tanzte erst mit Miranda, dann mit den Rabenbrüdern und schließlich mit sämtlichen an Deck befindlichen Seemännern, von denen einige gar nicht so grausig aussahen wie in ihrer Vorstellung eines Kapitän Ahab aus Moby Dick. Weitere Lieder wurden angestimmt, Whiskey in the Jar, natürlich die gute alte Molly Malone und der Whiskey floss, als die Sektflaschen leer waren. Genau wie zahllose Tränen flossen. Tränen des Glücks und des Trotzes. Noch nie hatte Lyra ein Silvester wie dieses erlebt, aber sie war auch noch nie von einer Göttertochter gebissen worden.

Alive, alive, oh …

Ja, sie war am Leben. Anders als Molly Malone, aber der Geist des Überlebenswillens klang über die wogende See wie ein Omen.