#4 MondZauber: VERGELTUNG

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Aus der Reihe: MondZauber #4
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Gefühlschaos

Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel über die blauen Weiten des Ozeans. Die Freiheit war nirgendwo intensiver spürbar als auf hoher See. Lyra genoss den frischen Wind und die Stille an Deck, welche nur vom lauten Dröhnen des Schiffsmotors begleitet wurde. Ein neuer Tag hatte begonnen, ein neues Jahr. Was es wohl bringen würde?

Im Gegensatz zum letzten Silvestermorgen fühlte Lyra heute weniger den sonst so vertrauten Neujahrsblues. War es tatsächlich erst ein Jahr her, dass sie sich den Schädel kahl rasiert hatte, um ihren Eltern zu zeigen, dass sie anders war?

Jetzt lachte sie über ihren aus heutiger Sicht völlig absurden Versuch, mit Äußerlichkeiten ihre Individualität zu manifestieren. Aber das gehörte zur Pubertät dazu, genau wie zum Erwachsenwerden die Erkenntnis, dass Klamotten noch keinen Charakter machten. Solche Äußerlichkeiten dienten immer einem bestimmten Zweck, das wusste Lyra jetzt. Ihre schwarzen Schlabber-Outfits sollten ein Schutz sein, den sie irgendwann nicht mehr brauchte. Tiefe Dekolletés und hohe Schuhe polierten das eigene Selbstbewusstsein auf und konnten darüber hinaus für so manche Überzeugung oder Ablenkung dienlich sein. Und dann gab es eben noch praktische Kleidung. Die Seemänner trugen dunkle Overalls, auf denen nicht jeder Schmierölfleck gleich zu sehen war. Keiner von ihnen würde auf die Idee kommen, im weißen Leinenanzug oder rosa Tutu den Maschinenraum des Frachtschiffs zu betreten. Kurzum: Nicht jedes T-Shirt und auch nicht jede Glatze kam einem Statement gleich, auch wenn Lyra noch vor einem Jahr vehement davon überzeugt war.

Ein Jahr, dachte sie und trat grinsend an die Reling. Wie naiv sie doch gewesen war. Damals hatte sie nicht den leisesten Hauch einer Ahnung gehabt, was die Zukunft bringen würde. Aber im Nachhinein war man schließlich immer klüger.

Aus einem Impuls heraus stieg Lyra auf die Reling und breitete die Arme aus wie einst Kate Winslet auf der Titanic. Nicht alles war schiefgelaufen im letzten Jahr. Ihre Höhenangst hatte sich zum Beispiel in Luft aufgelöst. Noch vor ein paar Monaten wäre es undenkbar gewesen, dass Lyra einfach so während großer Fahrt hier stand, dem Wind trotzte und sich nicht vor Angst in die Hosen machte. Ein Glücksgefühl mischte sich in ihre Bestandsaufnahme. Lächelnd stieg sie zurück aufs Deck und legte beide Hände auf das kalte Metall der Reling. Die Ärmel ihres Sweatshirts rutschten hoch und Lyras Lächeln erstarb. Die Zahnabdrücke der Göttertochter waren trotz ihrer magisch ausgeprägten Selbstheilungskräfte immer noch sichtbar. Vielleicht blieben sie als Narben zurück, als Zeichen, als Stigma wie bei Harry Potter.

»Das ist doch Bullshit!«, sagte sie zu sich selbst und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Beim Blick über die Weiten des Ozeans meldete sich das Tier in ihr. Wie gern würde sie ihrem Kopf eine Auszeit gönnen und als Katze in Ruhe schlafen. Aber wo auf dem Schiff sollte sie sich verstecken? Jeder Winkel an Deck war kameraüberwacht. Könnte sie sich als Luchs unter Deck verkriechen? Nein, das war keine Option. Das Tier in ihr wollte Freiheit, keinen stählernen Käfig.

Eine Weile genoss sie die warmen Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht und der Narbe an ihrem Handgelenk. Ihre neuen Sinne machten es möglich, dass Lyra die Fische um sich wahrnehmen konnte. Wie gern wäre sie jetzt einfach ins Wasser gesprungen und ihnen nachgejagt. Aber ein spontaner Sprung von Bord wäre nur schwer zu erklären gewesen, den Seemännern sowieso und auch Lyras Gefährten, die sich in den vergangenen Tagen schon genug Sorgen um sie machen mussten. Miranda und die Rabenbrüder schliefen wahrscheinlich noch, die Silvesterparty hatte erst im Morgengrauen geendet, als der Whiskey alle war.

Seufzend zog Lyra ihr Handy aus der Hosentasche. Sie war nicht ohne Grund an Deck gekommen, jetzt wollte sie endlich auf diese Facebook-Nachricht antworten.

Bist du es wirklich? Du siehst so anders aus.

Melde dich! Daris

In Venedig wusste die magische Welt also, dass etwas nicht stimmte. Oder? Weshalb sonst sollte Daris sich melden?

»Sicherlich nicht, weil er unsterblich in mich verliebt ist«, murmelte Lyra und tippte eine Antwort.

Ja, ich bin es.

Ruf mich an!

Lyra

Sie setzte ihre Handynummer darunter und schickte die Nachricht ab. Wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis Daris sie las, schließlich war Facebook etwas für Rentner. Lyra kannte niemanden in ihrem Alter, der diese Social-Media-Plattform nutzte. Andererseits hatte sie auch nie viele gleichaltrige Freunde gehabt – damals in der Schule.

Zumindest ihre erste Überlegung stellte sich als falsch heraus. Ihr Telefon klingelte. Wow! Sie hatte hier echt Empfang und es war wirklich Daris.

»Na? Wie geht es dir, meine Schöne?«

Er klang so vertraut und doch so fremd. Bilder fluteten Lyras Kopf … sie und Daris in diesem Club, in ihrem Apartment …Venedig kam ihr vor wie ein Traum. Daris ebenfalls.

»Hallo, Daris!«, flüsterte sie mit monotoner Stimme. Lyra hatte keine Ahnung, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Was sie verband, war ein Flirt gewesen. Nicht mehr. Oder?

»Wie geht es dir?«, wiederholte Daris seine im Grunde banale Frage, die Lyra aber keinesfalls einfach beantworten konnte. Wie ging es ihr? Sie hatte keine Ahnung. Nicht in diesem Augenblick. Ihr Herz hämmerte laut gegen ihre Brust. Was war das … Aufregung, Freude, Liebe?

»Ich dachte, du könntest vielleicht meine Hilfe gebrauchen«, kam es von Daris, als Lyra nicht antwortete. Wie sollte ihr dieser charmante Typ in diesem globalen Schlamassel helfen? Moment! Er war ein Faun, ein Satyr, ein Lupercus, ein Wolfsabwehrer. Auf der kleinen Terrasse ihres Apartments in Venedig hatte Daris ihr davon erzählt, dass er einen hochfrequenten Laut erzeugen konnte, der Hunde oder Wölfe in die Flucht schlug. Damals war ihr das ziemlich egal gewesen, denn seine körperlichen Reize überzeugten seinerzeit weitaus mehr als dieser Umstand, der jetzt hingegen durchaus hilfreich sein konnte.

»Lyra, bist du noch dran? Der Empfang ist echt mies. Wollen wir später …?«

»Nein, alles gut. Daris, du wärst tatsächlich eine große Hilfe. Woher weißt du, dass …?«

Die Verbindung war wirklich schlecht, es knarzte in der Leitung, Daris war kaum zu verstehen. Er sprach davon, dass niemand so genau wusste, woher die Botschaft kam, aber die magische Welt in Gefahr sei und viele dem Aufruf folgten, nach Irland zu reisen, um dort gegen eine Armee untoter Werwölfe zu kämpfen.

»Nina ist mit den Nymphen schon unterwegs. Sie können schwimmen und haben es leicht. Zwar müssen sie über die Straße von Gibraltar und damit einen Umweg in Kauf nehmen, aber die Mädels werden in etwa vier Tagen an der südlichen Küste Irlands ankommen.«

Lyra hörte zwar nur bruchstückhaft, was Daris sagte, aber sie kam aus dem Staunen kaum heraus. Auch wenn der Anlass wenig Grund zur Freude gab, war es doch ein schönes Gefühl, dass da draußen magische Wesen bereit waren, sie als Verbündete zu unterstützen. Sogar Nina, die damals sagte, dass es nicht ihr Krieg sei.

Was oder wer hatte sie umgestimmt?

»Die Nachricht, dass ein großer Kampf bevorsteht, der uns alle betrifft, macht seit Tagen die Runde. Es wird erzählt, dass du die Auserwählte bist, die all das beenden kann. Ich wusste, du bist einzigartig, meine Schöne.«

Daris war immer noch so charmant, so wunderbar einnehmend. Lyra überlegte fieberhaft, was sie ihm antworten sollte. Bei all dem Irrsinn konnte sie jetzt kein zusätzliches Gefühlschaos gebrauchen und den Faun in ihre Welt lassen, in der Ian doch ihr Herz gehörte. Andererseits war es vielleicht gut, einen weiteren Freund an ihrer Seite zu wissen. Ein wirrer Gedanke formte sich in Lyras Kopf und ohne weiter darüber nachzudenken, rief sie: »Komm bitte direkt nach Island. Ich bin auf dem Weg dorthin.«

Für einen Moment kniff sie die Augen zusammen. Was hatte sie da geplappert? Warum bestellte sie ihren Ex-Lover dorthin, wo ihre große Liebe Ian mit dem Leben rang? Hatte sie nicht schon genug Stress? Würde Daris überhaupt kommen?

»Schick mir einen Standort, ich buche den nächsten Flug.«

Die Funkverbindung brach ab.

Scheiße! Was hatte sie nur getan?

Wieder regte sich das Tier in ihr. Sie brauchte einen klaren Kopf. Nur wie? Lyra konnte sich hier an Deck nicht in einen Luchs verwandeln, als Katze konnte sie auch nicht ins Wasser springen – das Tier in ihr würde vielleicht einfach fortschwimmen, seinen Instinkten folgen und nie wieder zurück an Bord finden.

Aber der Hunger war groß, das Jagdfieber, der Drang nach Freiheit, die Gier nach Erlösung. Alles in ihr sehnte sich nach der Flucht vor den eigenen Gedanken und Gefühlen.

Komm zu mir!, hörte sie ein Flüstern aus dem Meer. Etwas rief nach ihr … etwas Dunkles, Verführerisches.

»Kätzchen, alles gut?« Miranda stand plötzlich neben ihr und spürte offenbar, dass Lyra mit ihren Gedanken woanders war. Konnte sie ihrer Tante erzählen, was in ihr vorging? Nein! Wie denn? Lyra konnte dieses plötzliche Gefühlschaos selbst kaum fassen, geschweige denn beschreiben.

»Ich muss mich bewegen«, sagte sie stattdessen. »Das Tier in mir braucht dringend Auslauf«, was nicht wirklich gelogen war. Über das Flüstern sagte Lyra nichts, vielleicht war ihre verkorkste Wahrnehmung auch nur ein Indiz, dass sie langsam durchdrehte.

»Äh, das ist jetzt echt ungünstig«, brachte es ihre Tante auf den Punkt. Miranda schaute sich um und überlegte offenbar, wie sie ihrer Nichte helfen konnte. »Hier sind überall Kameras, wobei … Heute hat Danny Schicht auf der Brücke, den könnte ich schon von den Überwachungsmonitoren ablenken. Im Grunde schaut da wahrscheinlich während der Überfahrt sowieso kaum jemand drauf, die sind eigentlich für den Hafen, wo verdammt viel geklaut wird.«

 

»Miranda, hör bitte auf zu quasseln und hilf mir!« Lyras Bitte war eine Mischung aus Jammern und Drohung. Gleich würde der Luchs aus ihr herausbrechen, was sie irgendwie verhindern musste.

»Lenk diesen Danny ab und schick bitte die Rabenbrüder an Deck. Ich …« Lyra schluckte, sie spürte bereits die Reißzähne an ihren Lippen. Was war nur los mit ihr? Beherrschte sie nicht längst das Tier in ihr und konnte genau bestimmen, wann und wo sie sich verwandelte? Mit eisernem Griff hielt sie sich an der Reling fest, konzentrierte sich auf die Wellen, die stetig an den Bug des Frachters knallten.

»Kätzchen, das Schiff hat volle Fahrt, in etwa zwanzig Minuten werden wir die Küste Islands erreichen. Hab Geduld!« Miranda tätschelte Lyras Schulter und machte sich dennoch auf den Weg zur Brücke. Sie wusste offenbar genau, dass Lyra nicht warten würde, nicht warten konnte.

Geduld! Klar, unter normalen Umständen hätte sie es vielleicht fertiggebracht, geduldig zu warten, bis das Schiff Island erreicht hatte und sich erst dann hoch oben auf der schneebedeckten Caldera des Vulkans Katla auszutoben. Nur jetzt konnte Lyra das Tier in ihr nicht mal mehr fünf Minuten unterdrücken. Und in Island konnte sie auch nicht einfach los zum Mýrdalsjökull, sie musste zu Ian, der sie hoffentlich noch wiedererkannte. Und sie musste zu ihrem Großvater, brauchte Gewissheit, dass sie nicht zu einem Vampir wurde oder verrückt.

Komm zu mir!

Etwas Dunkles, Mächtiges schien von ihr Besitz zu ergreifen. Und dieses Gefühl wurde mit jeder Sekunde stärker, das Tier in ihr mutierte zur Bestie.

Scheiße!

Lyra hörte die Rabenbrüder hinter sich. Sie war nicht länger allein, würde also im weiten Ozean kaum verloren gehen, falls ihr Verstand aussetzte. Mit einem Blick zur Brücke, wo Miranda laut kicherte und mit diesem Danny flirtete, kickte Lyra ihre Schuhe gegen eine Containerwand, zerrte erst die Jacke, dann Hose, Shirt und Unterwäsche von ihrem bebenden Körper und stürzte sich in die eiskalten Fluten des Atlantiks.

Geboren aus dem Wasser

Stille umfing sie. In den Fluten des Ozeans, im Körper der Katze fühlte Lyra kein Chaos, keinen Zwiespalt. Hier hatte sie keine Angst, vor der Welt und sich selbst zu versagen, die helle und die dunkle Seite in Einklang zu bringen. Das Meer empfing sie mit all seiner majestätischen Kraft, seiner Ruhe und ursprünglichen Gelassenheit. Der Luchs war nicht in seinem Element und doch gehörte Lyra hierher. Sie war geboren aus dem Wasser und dem Feuer.

Das Meer war ihr Zuhause.

Als der Luchs die Lichter des Leuchtturms von Dyrhólaey sah, verwandelte er sich zurück. Lyra schwamm in menschlicher Gestalt weiter. Sie erkannte die zu schwarzem Basalt verzauberten Kobolde, die Reynisdrangar. Dort hatte sie mit Redrubi gesprochen, dort hatte sie sich von Ian verabschiedet … und jetzt war sie wieder hier.

Heimat ist, wo dein Herz wohnt.

Ihres wohnte bei Ian.

Dieser Gedanke ließ ihre Arme schneller ins Wasser tauchen. Lyra schwamm, obwohl die Kräfte sie längst verlassen hatten. Im Grunde grenzte es an Wahnsinn, was sie hier tat. Das Wasser war eiskalt, ihre Haut schmerzte, als würden Millionen Nadeln in sie stechen. Ihre Muskeln waren taub, in ihrer Lunge brannte es. Hektisch warf sie einen Blick zurück, dann nach links. Der Frachter war verschwunden. Er steuerte den Hafen von Reykjavik weiter westlich an.

Scheiße!

Jetzt war Lyra auf sich allein gestellt. Was hatte sie nur zu diesem Blödsinn getrieben? Sie verwandelte sich zurück in den Luchs, aber auch das Tier in ihr hatte keine Kraft mehr. Sie waren eins, nährten sich aus einem Körper in unterschiedlicher Gestalt. Lyra breitete die Arme aus, blickte hinauf zum Himmel und ließ sich treiben. Nur einen Moment wollte sie sich erholen, Kräfte sammeln.

Du bist wie ich, ich bin wie du, hörte sie die Stimme der Göttertochter. War Redrubi hier? Hatte sie nach ihr gerufen?

Etwas riss Lyra in die Tiefe. Ihr menschlicher Körper glitt in die Dunkelheit.

Vielleicht wird auch dir die Liebe zum Verhängnis. Gib auf dich acht und entscheide weise!

Nur tröpfchenweise gelangten die Worte in Lyras Verstand. Jede ihrer Zellen gierte nach Leben. Immer weiter schwebte sie dem Abgrund entgegen.

Was, wenn sie sich einfach treiben ließ?

Sie wollte keine Entscheidungen treffen, weder stark noch weise sein. Viel leichter wäre es doch, jetzt einfach aufzugeben, loszulassen. Nur ein Atemzug und das salzige Wasser würde ihre Lunge okkupieren.

Doch dann dröhnte die Melodie des irischen Volkslieds durch die Düsternis.

In Dublin’s fair city

Where the girls are so pretty

I first set my eyes on sweet Molly Malone.

Lyra war, also würde sie eine Geige spielen hören. Da waren Stimmen, jede Menge Stimmen, die jene inoffizielle Hymne der Stadt Dublin sangen, die für den Überlebenswillen der Menschen dort stand.

Alive, alive, oh

Lyra öffnete die Augen. Nein, sie würde nicht aufgeben. Panisch ruderten ihre Arme, drängten ihren Körper zur Wasseroberfläche.

Sie musste atmen!

Aber der Weg zum lebensspendenden Sauerstoff war weit. Über ihr war nichts als Schwärze, unter ihr ebenso. In den dunklen Fluten hatte sie die Orientierung verloren. Wo war oben und unten?

Angst überrollte Lyra, nahm sie gefangen und hielt ihren Körper im eisernen Griff. Ihre Arme fühlten sich tonnenschwer an, trotzdem bewegte sie ihre Muskeln, schwamm in jene Richtung, von der sie glaubte, dass es oben war. In ihrer Lunge brannte es, als wäre Säure darin.

Sie musste atmen, musste leben!

Ein Schatten kam auf sie zu, wurde größer. Etwas Glattes berührte ihre Haut, drückte sich gegen ihren viel zu schwachen Leib. Wie in einem Fahrstuhl sauste Lyra durch die Fluten und durchbrach endlich die Wasseroberfläche. Prustend rang sie nach Luft, sog sie gierig in ihre brennende Lunge.

Was war das? Sie konnte nicht schwimmen. Unter ihr fühlte sie dieses glatte Etwas, das sich erneut in Bewegung setzte. Instinktiv drehte sich Lyra um, griff nach einem schwarzen Dreieck, das wie eine Finne aussah. Tatsächlich, sie ritt auf dem Rücken eines Orcas. Wie irre war das denn?

Immer wieder versank Lyras Verstand in der Dunkelheit des nahenden Todes. Nur mit Mühe konnte sie sich an der Flosse des Schwertwals festhalten, der im stetigen Rhythmus mit ihr unter Wasser tauchte. Die Basaltfelsen der Reynisdrangar waren jetzt direkt vor ihr. Lyras sensible Augen fanden einen roten Punkt am Ufer, dann zwei.

Ihre Hände lösten sich von der Flosse des Wals. Gewissheit durchströmte Lyra. Nein, sie würde heute nicht sterben. Anstelle des Orcas erhob sich wie von Zauberhand ein Wasserstrudel, der sie bis an den Strand von Vík í Mýrdal manövrierte.

»Was ist es doch gut, Freunde zu haben«, hörte Lyra die Stimme von Freyja. Ihr letzter Gedanke galt der nordischen Hexe, die den Orcas dabei half, sich im menschlichen Wahnsinn aus Bohrinseln und Offshore-Parks zurechtzufinden. Als sich warme Hände auf ihren eiskalten Körper legten, ließ Lyra los und gab sich erschöpft der Ohnmacht hin.

Sie war zu Hause.

Wunder & Wissen

»Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?«

Lyra blinzelte, ihr Bewusstsein rauschte zurück in das Hier und Jetzt. Über ihr grelles Licht, um sie eine weiche Decke, die Stimme ihrer Mutter.

Nein, sie war nicht tot.

Alive, alive, oh

»Ich hoffe nicht«, murmelte sie und blinzelte erneut. »Die Geister meinen es gut mit mir, sonst wäre ich nicht hier, oder?«

Jetzt öffnete Lyra die Augen, sah ihre Mutter, ihren Vater und ihren Großvater.

»Wo ist Ian?«

Lyra setzte sich auf, schaute sich um. Ihr wurde schwindlig. Mühsam schluckte sie, ihre Kehle war staubtrocken. Wie lange hatte sie geschlafen?

»Du musst dich ausruhen!«

Die Bemerkung ihrer Mutter ignorierend, stand Lyra auf, hievte sich von der Liege hoch. Sie trug eine Jogginghose, dicke Socken und ein Sweatshirt, ihr Haar war immer noch feucht. Lange konnte sie also nicht geschlafen haben. Das war gut. Sie fühlte sich gut. Na ja, nicht optimal gut, aber auch nicht schlecht.

»Ausruhen kann ich mich, wenn ich tot bin«, erwiderte sie mürrisch und stellte sich aufrecht hin. Der Boden unter ihren Füßen wankte, was natürlich nicht sein konnte. Wahrscheinlich war ihr Gleichgewichtssinn nach dem Trip durch die kalten Fluten außer Kontrolle.

»Wo ist Ian?«, wiederholte Lyra ihre Frage und blickte in sorgenvoll dreinschauende Gesichter. Niemand sagte etwas. Warum? War er etwa? Nein, das konnte nicht sein, durfte nicht sein!

Hektisch scannten Lyras Augen ihre Umgebung. Sie war im Labor ihres Großvaters, durch die offene Tür konnte sie seinen Schreibtisch mit den Monitoren sehen. Der Raum, in dem sie sich mit ihrer Familie befand, war klein und schlicht eingerichtet – wie ein Zimmer auf einer Krankenstation. Etwas wacklig auf den Beinen lief sie durch die offene Tür und orientierte sich. Da war ein Geruch oder vielmehr ein beißender Gestank, vertraut und doch widerlich, die seltsame Mischung aus Ian und Verwesung.

Lyra folgte ihrer Nase, lief in den hinteren Teil des Labors und fand eine weitere Tür. Sie war verschlossen, von außen mit einem massiven Riegel gesichert, darüber ein mit Gittern versehenes Guckloch. Sie spähte hindurch und fand ihren Liebsten, der nur noch entfernt an den Ian erinnerte, den sie vor einer Woche hier zurückgelassen hatte.

»Ich bin wieder da, jetzt wird alles gut«, flüsterte sie durch die Gitterstäbe und glaubte sich selbst kein Wort. Die Gestalt regte sich. Ihr Äußeres war menschlich und auch nicht, eher das eines wandelnden Toten.

Lyras Großvater trat an ihre Seite und schaute ebenfalls durch das etwa vierzig mal vierzig Zentimeter große Guckloch. Die Gitter waren auf beiden Seiten angebracht, dazwischen konnte Lyra eine Glasscheibe erkennen, die winzige Luftlöcher aufwies. Durch sie strömte der beißende Geruch nach Ian und Vergänglichkeit. Er sah furchtbar aus, nur noch ein Schatten seiner selbst.

»Lebt er noch? Also …«

Ihr Großvater nickte. »Noch! Die Infektion ist fortgeschritten, auch wenn es erstaunlich lange gedauert hat. Ian ist zäh, aber …«

»Er wird sterben, oder? Und dann als Monster erwachen«, sagte Lyra und wischte sich Tränen von den Augen. »Unser Trip in die Marble Arch Caves war umsonst gewesen. Alles war umsonst!«

Sie spürte die Hand ihrer Mutter. Miriam streichelte ihr übers Haar, strich eine Strähne hinter das Ohr ihrer Tochter. »Nichts war umsonst, du hast etwas viel Wertvolleres aus Irland mitgebracht.«

Argwöhnisch drehte Lyra den Kopf und schaute zu ihrer Mutter. Diese schenkte ihr ein Lächeln. Es war freudlos und doch voller Hoffnung.

»Noch wissen wir nicht, ob es wirkt, aber …«

»Was?«, unterbrach Lyra ihre Mutter und schaute zum Alpha des isländischen Rudels.

»Großvater, was?«

Er gab ihr zu verstehen, ihm zu folgen. Sie liefen zurück zum Schreibtisch. Der Alpha zeigte auf einen der Monitore, wo eine Art Animation lief, die Lyra entfernt an ihren Biologieunterricht erinnerte.

»Als du ohnmächtig warst, habe ich dir Blut abgenommen und es untersucht. Nachdem die Tochter der Geisterkönigin dich gebissen hat, wollte ich sehen, ob du ebenfalls infiziert bist.«

»Und?«, fragte Lyra, die daran dachte, dass sie sich schon irgendwie anders fühlte, seit sie auf dem Frachtschiff erwacht war.

»Dein Blut wäre eine Herausforderung für jeden Humangenetiker«, bemerkte ihr Großvater und schaute auf die Animation. Lyra kapierte wieder mal nichts. Da war ein kugeliges Etwas – die Darstellung eines Virus, wenn sie sich richtig an den Biologieunterricht erinnerte. Und dann waren da noch Dinger, die aussahen wie seltsam verdrehte Ypsilons.

 

»Es ist unglaublich, aber offensichtlich wahr«, begann ihr Großvater.

»Was?«, fragte Lyra ungeduldig. Ian konnte jeden Augenblick sterben, sie hatten keine Zeit für langatmige Erklärungen.

»Redrubis Biss«, meldete sich jetzt ihre Mutter zu Wort. »Er könnte dich immer noch verwandeln, du hast Virus im Blut, aber eben auch Antikörper.«

Miranda war ebenso Medizinerin wie der Alpha, zwar auf einem komplett anderen Fachgebiet, aber dennoch schienen die beiden ein gutes Team zu sein.

»Antikörper?«

»Ja, jede Menge«, fügte der Alpha hinzu und deutete auf den Monitor. »Es wird leider ein bisschen dauern, bis ich sie extrahiert und aufbereitet habe, um sie Ian zu injizieren.«

»Wie lange?« In Lyra keimte ein Gedanke.

»Das ist schwer zu sagen, ein paar Tage.«

»So lange hat Ian nicht mehr, oder?«

Ihr Großvater senkte den Blick und seufzte. »Lyra, ich weiß es nicht. Das hier ist Wissenschaft, keine Magie.«

»Tacheles! Wie lange wird es noch dauern, bis Ian stirbt und …?«

Der sonst so wortgewandte und kluge Mann schüttelte resigniert den Kopf. Es war ihm anzusehen, dass er lediglich mutmaßen konnte. »Es wird knapp werden, sehr knapp.«

Diese Aussage reichte Lyra. Der aufkeimende Gedanke manifestierte sich in ihrem Kopf und ließ sie handeln. Vielleicht war es falsch, vielleicht zu überstürzt, aber Ian hatte verdammt noch mal keine Zeit mehr. Sie stürmte los, riss am eisernen Riegel und öffnete die Tür zu seinem Gefängnis. »Macht sie von außen zu!«, brüllte Lyra und hörte den ängstlichen Schrei ihrer Mutter.

»Was machst du denn, Kind?«

»Das einzig Richtige«, murmelte Lyra und nahm wahr, wie der Riegel von außen vorgeschoben wurde.

»Sie hat recht, Miriam«, sagte ihr Großvater. »Für die Impfung sind Lyras Antikörper Gold wert, nur für Ian wird sie zu spät kommen.«

»Aber …«

Lyra ignorierte die zitternde Stimme ihrer Mutter, hockte sich vor Ian, der schwitzend und vor Schmerzen gekrümmt auf einem Bett lag. Zärtlich strich sie ihm das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Ein Knurren folgte.

»Er hat seit Tagen hohes Fieber, nichts schlägt an. Wir haben alles versucht, sogar Wadenwickel«, kommentierte der Alpha.

Lyra legte eine Hand auf Ians Stirn, sie war heiß. Sein Körper war verkrampft, rang mit dem Fieber und offenbar qualvollen Schmerzen. Ihre Hand streichelte seinen Rücken, wanderte hinab zu seinem Becken. Vorsichtig zog sie die Hose von seinem Hüftknochen. Das Wolfsmal war noch braun, hatte aber bereits einen roten Rand. Ian verwandelte sich, seine Zellen starben. Nur mit frischem Blut konnten sie am Leben erhalten werden, wenn er tot war. Untot. Ein Zombie. Eine blutrünstige Bestie.

Sie musste dem jetzt ein Ende bereiten.

Was hatte Redrubi in der Höhle gesagt?

Meine Mutter gab mir die Macht der Heilung und die Unsterblichkeit mit auf den Weg.

Das hatte sie doch gesagt, oder?

Keine Angst, Kätzchen, ich werde dich nicht zu einem Vampir machen.

Die Tochter der Geisterkönigin hätte sie töten oder ihr die Bürde der Unsterblichkeit auferlegen können. Beides hatte sie nicht getan, sondern ihr etwas geschenkt.

Aber die guten Dinge haben immer ihren Preis.

Ja, das hatte Redrubi gesagt. Was auch immer sie damit meinte, war Lyra in diesem Moment egal. Die Zeit war nicht auf ihrer Seite, die Wissenschaft stieß an ihre Grenzen, nicht aber die Magie. Deshalb beugte sich Lyra jetzt über Ian, hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange, packte dann seinen Kopf, drehte ihn zur Seite und rammte ihre Reißzähne in seinen Hals. Herzhaft biss sie sich in die eigene Hand und formte eine Faust. Abwechselnd ließ sie ihr Blut in Ians Mund sowie die perforierte Vene an seinem Hals sickern, die sich aufgrund seiner noch intakten Selbstheilungskräfte immer wieder schloss, genau wie sein Mund. Er warf den Kopf beiseite, etwas in ihm sträubte sich gegen diese Behandlung. Doch Lyra hielt seinen Unterkiefer fest im Griff, drückte seinen Mund auf und biss erneut in seinen Hals, um mehr von ihrem Blut in seinen Körper zu bringen und damit die Antikörper.

»Ich habe noch etwas von deinem Blut. Soll ich es ihm injizieren?«, fragte ihr Großvater vor der Tür.

»Nein«, erwiderte Lyra entschlossen. »Das hier kann und muss mit Magie funktionieren.«

Fast manisch wiederholte sie die Prozedur und hoffte auf ein Wunder. In ihren Ohren dröhnte Redrubis Stimme.

Schatten entsteht durch Licht. Deshalb sorgten die Götter dafür, dass irgendwann jemand kommen würde, der mich und den Fluch der Macha stoppt. Aber bilde dir nicht ein, dass sie es taten, um Unheil von der Menschheit abzuwehren.

»Aber vielleicht von Ian. Ich brauche ihn doch«, flüsterte Lyra, ballte ihre Faust und ließ Tropfen für Tropfen die Hoffnung in den Mund ihres Liebsten fließen.

Die Götter spielen gern, bis sie dessen überdrüssig sind und die Regeln ändern. Und wenn sie es tun, kann ich es auch.

»Oder ich, Bitch!«, murmelte Lyra und verschloss Ians Mund mit einem Kuss. Kraftlos legte sie sich neben ihn, hielt seine Hand und beobachtete jede seiner Regungen. Sein Gesicht wirkte wächsern, als wäre er längst tot. Aber da war ein rasselndes Geräusch in seiner Lunge, sein Brustkorb hob und senkte sich, wenn auch nur sehr schwach.

Lyra hörte ihre Mutter weinen, sah ihr blasses Gesicht hinter den Gitterstäben an der Tür. Welche Ängste sie ausstehen musste, konnte Lyra nur erahnen. Erst jetzt verstand sie wirklich, wie es ihrer Mutter all die Jahre ergangen sein musste, weshalb Miriam das biedere Leben bei den Hertzbergs vorgezogen und die vielen Demütigungen ertragen hatte.

Bisweilen ist die Logik unserer Taten nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, auch wenn wir aus tiefstem Herzen handeln. Lyra umfing die Gewissheit, das Richtige getan zu haben. Selbst dann noch, als sich Ians Körper aufbäumte und er qualvoll schrie.

Alles, was ihr jetzt noch blieb, war der Glaube.

Alles, was ihm jetzt noch half, war ein Wunder.