Schattenkinder

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Schattenkinder
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© 2020 – e-book-Ausgabe

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Zell/Mosel

Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel

Tel 06542/5151 Fax 06542/61158

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89801-900-2

Lektorat: Christine Kaula

Ausstattung: Stefanie Thur

Foto Cover: Jean-Pierre Dumont

Die Patrouille der Kängurus (1944)

mit Pierre Thonnar (stehend, zweiter von rechts)

Autorenfoto: Arne Houben

Marcel Bauer

Schattenkinder

Eine Kindheit im Krieg

Rhein-Mosel-Verlag


Für meine Enkel Luc und Max

Hintergrund

1940 lebten im Königreich Belgien 100.000 bis 110.000 Juden. Die meisten von ihnen waren in den 30er Jahren als illegale Einwanderer und Flüchtlinge aus Mittel- und Osteuropa ins Land gekommen. Nach dem Sieg über die Westmächte und die Besetzung Belgiens durch die Wehrmacht gerieten sie in die Mühlen der NS-Vernichtungspolitik. 56 Prozent aller Juden blieb die Deportation in ein Arbeits- oder Vernichtungslager erspart, weil sie mit Hilfe der belgischen Bevölkerung untertauchen konnten.

Diese in Europa beispiellose Rettungsaktion gelang dank des selbstlosen Einsatzes von einfachen Bürgern und der Verantwortlichen von 225 privaten und kirchlichen Einrichtungen. So gründete Louis-Joseph Kerkhofs, Bischof von Lüttich, mit Hilfe des Rechtsanwaltes und Notars Albert Van den Berg ein eigenes Netzwerk zur Rettung jüdischer Kinder. Sie wurden unter falschem Namen in Internaten, Klöstern, Ferienheimen und Hospitälern versteckt. Im Bistum Lüttich, das damals den Provinzen Limburg und Lüttich entsprach, überlebten so achtzig Prozent der Juden.


Die belgische Provinz Lüttich 1940-1944

Personen

Joshua Rozenberg alias Pierre (Pierrot) Thonnar

Roro, sein Plüschtier

Ariel und Elsa Rozenberg, Joshuas Eltern

Menahim (Mendel) Rozenberg alias Jean-Marie Thonnar, sein Bruder

Hanna und Nathan Goldstein, Cousins von Ariel Rozenberg

Leewi, Hirsch, Bad-Sebah und Elias genannt Fred, Nathans Kinder aus erster Ehe

Benjamin (Ben) alias Jos, gemeinsamer Sohn aus zweiter Ehe

Siegmund und Gerda Meyer, Kusine von Elsa Rozenberg, geb. Meyer

Hedwig und Emil, ihre Kinder

Jean-François und Florentine Stevens, geborene Dupuis

Annie und Jean, ihre Kinder

Geneviève Dupuis, Stevens Schwägerin

Albert Goor, Annies Verlobter

Louis-Joseph Kerkhofs, Bischof von Lüttich

Max-Albert Van den Berg, Notar und Rechtsanwalt

Pierre Coune, dessen Sekretär

Sr. Amanda, Franziskanerin von der hl. Familie

Marcel Stenne, Pfarrer von Stoumont

Robert und Leonie Schmitz, geborene Stenne, seine Schwester

Mojsesz (Moshe) Schargorodski alias Arnaud Pirenne, genannt Bouboule

Charles Chavez und Oscar Evrard, Erzieher

Charles-Albert de Harenne, Bürgermeister

Ernest Natalis, Grundschullehrer

Dr. Léon Robinson, Landarzt

Sr. Germaine Martin, Oberin der Vinzentinerinnen

Joachim Peiper, Kommandant der gleichnamigen SS-Kampfgruppe

Die Namen einiger Personen, die in diesem Buch vorkommen, wurden auf Wunsch von Angehörigen geändert.

Prolog

Dies ist die Geschichte einer jüdischen Kindheit im Krieg. Von allen unschuldigen Opfern des Zweiten Weltkrieges sind die Kinder die beklagenswertesten, weil sie nicht verstanden, was ihnen geschah. Auch ist die Erinnerung an sie nicht so lebendig wie die an andere Opfer, weil sie zu jung waren, um Spuren zu hinterlassen.

Während die meisten Menschen sich darum sorgten, selber zu überleben, gab es einige, die nicht nur an sich und an die dachten, die ihnen nahe standen, sondern an Kinder, deren Angehörige zwischen die Mühlsteine der Vernichtung geraten waren. Dass in Belgien mehr Kinder als in anderen Ländern der Schoah1 entkamen, ist der Verdienst von Männern und Frauen, von denen die meisten anonym geblieben sind. An einige möchte dieses Buch erinnern.

Die Deutschen hatten für das besiegte Land, das sprachlich und kulturell zerrissen war, nur Verachtung übrig. Da es dort unverhältnismäßig viele Israeliten gab, sprachen sie vom »völkischen Mülleimer Europas«. Die Geringschätzung sollte sich rächen. Vom ersten Tag der Besatzung an regte sich Widerstand, der alle Schichten der Bevölkerung erfassen sollte. Im April 1943 ereignete sich ein Vorfall, der im besetzten Europa einmalig war: drei Studenten stoppten auf freiem Feld einen Transportzug nach Auschwitz und befreiten einige Hundert Juden aus plombierten Viehwaggons.

Die Deutschen hatten sich von Anfang an entschlossen gezeigt, das kleine Land von Juden zu säubern. Im Oktober 1940 hatte eine allgemeine Judenzählung dafür die Voraussetzungen geschaffen. Alle Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern mussten eine detaillierte Namensliste der gemeldeten Juden vorlegen. Demnach lebten in Belgien 60.000 »Glaubensjuden«, davon 55.000 als illegale Ausländer. Auch wenn die amtliche Zählung überaus mangelhaft war, verfügten die Nationalsozialisten damit über eine Kartei mit Todeskandidaten. Laut einem internen Bericht des deutschen Sicherheitsdienstes gab es im Königreich Belgien jedoch viel mehr Juden als die belgischen Behörden eingestanden. Schon 1938 waren es mindestens 90.000. 1939 war deren Zahl noch einmal sprunghaft auf geschätzte 116.000 angewachsen.

1941 richtete die NS-Führung in Brüssel eine Zelle der Sicherheitspolizei ein, um die Judenpolitik nach deutschem Muster voranzutreiben. Als die sogenannte Endlösung anlief, glaubte die Sipo-SD mit der Deportation der Juden leichtes Spiel zu haben, denn die Maßnahme sollte angeblich nur staatenlose Juden betreffen und die belgischen Juden verschonen. Um die Öffentlichkeit zu täuschen, sprachen die Besatzer zudem nicht von einer Deportation, sondern von einer Evakuierung, die als Arbeitseinsatz getarnt war und möglichst unauffällig ablaufen sollte.

In der Brüsseler Zentrale der Gestapo war man verwundert und verärgert, dass die Maßnahme nicht den erhofften Erfolg brachte. Ausgenommen in Antwerpen, wo Bürgermeister Leo Delwaide mit den Deutschen kollaborierte, beteiligte sich keine städtische Behörde am Judenfang. Offenbar schienen die Belgier keinerlei Ressentiment gegen die Juden zu hegen, obwohl der größte Teil von ihnen illegal im Lande war. Die Schuld daran gab der Kopf des Brüsseler Büros SS-Obersturmführer Kurt Asche der einflussreichen katholischen Kirche und der weitverbreiteten Freimaurerei.

Auffallend war, dass neben den Kommunisten, die seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, die entschlossensten Gegner der Nationalsozialisten waren, auch viele Christen sich am Rettungswerk der Juden beteiligten. Dabei hatte die belgische Amtskirche in den ersten Jahren der Besatzung wenig Interesse an der sogenannten Judenfrage gezeigt. Kardinal Joseph Ernest Van Roey von Brüssel und Mechelen, unter dessen Fenster in der Residenz sich die Endlösung quasi abspielte, geißelte in seiner Korrespondenz mit dem Vatikan zwar schonungslos den Antisemitismus der Deutschen, setzte sich in seinen Demarchen bei der Besatzungsmacht aber lediglich für die getauften Juden ein.

Nach der Flucht der Regierung nach England und der Kaltstellung des Königs war die katholische Kirche die einzige im Land verbliebene Autorität. Die Bischöfe waren bemüht, das religiöse Leben sicherzustellen und größeren Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Sie vermieden daher jede öffentliche Kritik an den Besatzern, solange diese sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Kirche einmischten. In der Judenfrage blieb die katholische Kirche gespalten. Während viele Gläubige noch dem herkömmlichen Antisemitismus anhingen und die Juden wie eh und je als Gottesmörder betrachteten, suchten andere den religiösen Dialog mit dem »auserwählten Volk«.

Der Bischof von Lüttich Louis-Joseph Kerkhofs bewegte sich anfangs auf der vorsichtigen Linie des Episkopates – obwohl er in der Vorkriegszeit in Hirtenbriefen unverblümt vor dem Neuheidentum der Nationalsozialisten gewarnt hatte, was ihm in deutschsprachigen Teil seines Bistums herbe Kritik und heftige Proteste einbrachte. Als die Nationalsozialisten 1940 im Hinblick auf eine bevorstehende Invasion Englands 3.000 Juden aus Antwerpen in die Provinz Limburg, die zu seinem Bistum gehörte, evakuierten, forderte er die katholischen Gemeinden auf, den Vertriebenen beizustehen. Zum Jahreswechsel machte er einer verzagten Bevölkerung Mut, indem er seine Zuversicht aussprach, dass der Krieg noch nicht verloren sei.

Kerkhofs war im Volk beliebt. Obwohl er ein gebürtiger Flame war, sprach der wallonische Volksmund von »noss binamé – unser Vielgeliebter«. Als ihn 1942 Nachrichten erreichten, die keinen Zweifel daran ließen, dass die Nationalsozialisten die Vernichtung der Juden anstrebten, rückte er von der Beschwichtigungspolitik des Episkopates ab. In einem Rundbrief forderte er alle Priester seines Bistums dazu auf, den Schwächsten zu Hilfe zu eilen. Damit konnten nur die jüdischen Kinder gemeint sein, die überall herumstreunten. Bei Besuchen in Pfarreien erkundigte er sich bei Priestern und Ordensleuten, welchen Beitrag sie für die Rettung des Landes leisteten. Er ermutigte sie, entlaufene Zwangsarbeiter, geflüchtete Kriegsgefangene und rassisch Verfolgte aufzunehmen.

Kerkhofs ging selber mit gutem Beispiel voran. So oft er konnte, nutzte er seine Stellung, um politisch oder rassisch Verfolgten zu helfen. Seinen Dienstwagen, den er aufgrund seines diplomatischen Status behalten durfte, benutzte er zum Transport von Flüchtlingen und illegalen Waren. Wenn er vom Stadtkommandanten die Erlaubnis erhielt, den berüchtigten Block 24 in der Lütticher Festung zu besuchen, wo die politisch Verfolgten auf ihr Urteil warteten, schmuggelte er Zigarren und Weinflaschen hinein, die nachher vom Gefängnisseelsorger Mathieu Voncken an die Inhaftierten verteilt wurden. Es war bekannt, dass der Bischof, der aus kleinen Verhältnissen stammte, keinen Bittsteller abwies und keinerlei Berührungsängste hatte.

 

Kerkhofs war ständig in Sorge um das Schicksal der »Hebräer«, wie er im Sinne des Apostels Paulus die Juden nannte. Er sah in ihnen die Nachkommen Abrahams, des Stammvaters des Glaubens. Um sie zu retten, war er bereit, mit dem kommunistischen Widerstand und dem jüdischen Untergrund zu kooperieren. Kerkhofs förderte nach Kräften den »Gebetsbund für Israel«, eine Bewegung, die von der Ordensgemeinschaft Unserer Lieben Frau von Sion ausging, die 1843 von einem konvertierten Juden Théodore Ratisbonne gegründet worden war. Ratisbonne betrachtete es als die Mission seines Ordens, »in der Kirche und in der Welt die Treue und die Liebe Gottes für das jüdische Volk zu bezeugen«. Der Gebetsbund für Israel war um die Jahrhundertwende eine weltweite Bewegung mit 100.000 Mitgliedern.

Für Louis-Joseph Kerkhofs war die Haltung der Kirche bezüglich der bedrängten Juden entscheidend für ihre Glaubwürdigkeit. Ohne die Juden namentlich zu nennen, äußerte er Kritik an der Judenverfolgung. Er hatte gute Gründe, vorsichtig zu sein, denn die belgischen Bischöfe hatten das Beispiel der benachbarten Niederlande vor Augen. Der Protest der beiden großen Kirchen und ein Hirtenbrief der katholischen Bischöfe gegen die Judenverfolgung im Juli 1942 hatten zu einer drastischen Verschlimmerung der Lage für die Juden geführt.

Kerkhofs handelte pragmatisch. Öfter las er auf der Straße Kinder auf, die sich herumtrieben und Gefahr liefen, von der Polizei wie herrenlose Hunde gejagt und einmal eingefangen, in ein Erziehungslager gesperrt zu werden, das einer Strafanstalt glich. Kerkhofs brachte etliche dieser Kinder in kirchlicher Einrichtungen unter. Drei rumänische Juden, die sich als fliegende Händler durchschlugen, ließ er unter falschem Namen als Studenten im Priesterseminar von Sint-Truiden einschreiben. Auf dem Speicher seiner Residenz ließ er ein jüdisches Paar verstecken, was insofern problematisch war, weil die beiden nur verlobt und nicht verheiratet waren.

Den belgischen Oberrabbiner Salomon Ullmann, der einen Hafturlaub aus dem KZ Breendonk zur Flucht genutzt hatte, nahm er als persönlichen Sekretär und Hauskaplan auf. Ullmann hatte sein Amt als Vorsitzender des Nationalen Judenrates niedergelegt, nachdem er erkannt hatte, dass der Judenrat nur ein willfähriges Instrument der deutschen Vernichtungspolitik war. Kerkhofs sorgte dafür, dass Ullmanns Frau und seine Töchter in Klöstern unterkamen.

Kerkhofs nahm sich auch anderer Persönlichkeiten an wie des Vorstehers der Lütticher Synagoge und seiner Familie, die er im Wallfahrtsort Banneux am Rande der Ardennen verstecken ließ. Louis-Joseph Kerkhofs war ein tatkräftiger Förderer des Wallfahrtsortes, zu dem in der Vorkriegszeit trotz der Reisebeschränkungen viele deutsche Katholiken pilgerten. Er sah in den Marienerscheinungen vom Januar 1933 einen Fingerzeig Gottes. Ähnlich wie die Ereignisse von Fatima im Jahre 1917 als Warnung vor dem Bolschewismus verstanden wurden, sah er in denen von Banneux eine Verbindung zu Deutschland. In dem Moment, als Adolf Hitler und die Nationalsozialisten im Deutschen Reich die Macht an sich rissen, richtete die Jungfrau der Armen eine Botschaft des Friedens und des Gebetes an alle Nationen.

Anders als die Unterbringung von Kindern erforderte die von Erwachsenen besondere Vorsichtsmaßnahmen, denn die NS-Behörden hatten 1940 für alle Erwachsenen Personalausweise eingeführt, was bis dahin in Belgien unüblich war.

Falsche Papiere und geheime Unterkünfte besorgte der juristische Berater des Bischofs, der Notar und Rechtsanwalt Max-Albert Van den Berg. Seinen Vorrat an gefälschten Ausweisen verbarg dieser in seiner Kanzlei im Futter eines Ledersessels. Bei der Ausstellung von Pässen für die untergetauchten Juden musste Van den Berg darauf achten, dass die Fälscherwerkstatt nirgendwo Namen und Geburtsdaten von Kindern vermerkten, damit die deutschen Sicherheitsbehörden ihnen nicht auf die Spur kamen.

Nach den Razzien in Antwerpen und Brüssel im Spätsommer 1942 hatte sich ein Komitee zur Verteidigung der Juden (CDJ) gebildet. Die jüdische Untergrundorganisation begann damit, verlassene und herumstreunende Kinder einzusammeln. Denn den deutschen Judenfängern und ihren lokalen Helfershelfern waren zwar viele Erwachsene ins Netz gegangen, aber nicht unbedingt deren Kinder.

Wenn nachts jemand an ihre Türe klopfte, brachten manche Eltern ihre Kinder in vorbereitete Verstecke – in der Hoffnung, dass sich nachher jemand ihrer annehmen würde. Juden, die auf offener Straße oder an ihrem Arbeitsplatz aufgegriffen wurden, verschwiegen beim Verhör, dass sie daheim Kinder hatten. Andere hatten sich frühzeitig von ihren Kindern getrennt und sie in die Obhut von Freunden oder Nachbarn gegeben. In Belgien gab es Tausende solcher verlassenen und verlorenen Kinder, deren Überleben am seidenen Faden hing.

Eine Schlüsselrolle bei der Rettung von tausenden Kindern spielte Andrée Geulen, die aus katholischem Umfeld kam, aber schon als Kind glaubte, herausgefunden zu haben, »dass es keinen Gott geben konnte« und sich daher früh der kommunistischen Bewegung angeschlossen hatte.

Als an ihrer Schule, wo sie als pädagogische Praktikantin arbeitete, die ersten Kinder mit einem gelben Stern auftauchten, war sie so schockiert, dass sie ihren Beruf an den Nagel hing und als Erzieherin in ein jüdisches Waisenhaus wechselte. Als die Gestapo dort die Direktorin, ihren Ehemann und alle jüdischen Kinder festnahm, beschloss sie, etwas dagegen zu unternehmen.

Sie trat dem Comité de Défense des Juifs (CDJ) bei. Dort machte sie Bekanntschaft mit Ida Sterno, einer gebürtigen Rumänin, die im CDJ für die Unterbringung und Betreuung der verlassenen Kinder zuständig war und Ausschau nach einer verlässlichen und unverdächtigen Partnerin hielt. Bald sprach man im jüdischen Untergrund von »einem blonden Engel mit blauen Augen«.

Geulen und Sterno gingen allen verfügbaren Adressen nach, um ausgesetzte und verwaiste Kinder einzusammeln und sie dem Roten Kreuz und dem Nationalen Kinderhilfswerk zu übergeben, die sie wiederum an private und staatliche Einrichtungen weiterreichten oder bei Familien in Pflege gaben.

Als alle Mittel und Möglichkeiten des CDJ erschöpft schienen, wandte sich das Komitee an die katholische Kirche, die über eine Vielzahl von sozialen und karitativen Werken verfügte. Der Kontakt kam über Priester zustande, die dem Widerstand angehörten und ähnliche Hilfsnetze betrieben.

Der Benediktinermönch Henri Reynders (Dom Bruno) baute mit dem Segen seines Ordens ein Netzwerk auf, das 390 jüdischen Kindern das Leben retten sollte. Der Jugendvikar Joseph André unterhielt auf dem Engelsplatz von Namur direkt gegenüber der örtlichen Kommandantur ein Auffanglager für verwahrloste Kinder, das bald zu einer Anlaufstelle jüdischer Kinder wurde. Dom Bruno und Abbé André standen ständig in Kontakt mit dem Komitee zur Verteidigung der Juden, obwohl deren führende Köpfe Kommunisten oder linke Zionisten waren. Der Einsatz der beiden Priester diente dem Bischof von Lüttich als Vorbild für die Stiftung eines eigenen Netzwerks zur Rettung der Kinder.

Die Nationalsozialisten täuschten sich nicht, wenn sie in ­Louis-Joseph Kerkhofs einen ihrer schlimmsten Widersacher sahen. Die Abteilung der deutschen Sicherheitspolizei in Lüttich, die mit der Judenfrage betraut war, war im gleichen Büro untergebracht wie die, die für die Überwachung der katholischen Kirche zuständig war. Wiederholt hatte sich SS-Gruppenführer Eggert Reeder, Stellvertreter von Generalleutnant Alexander von Falkenhausen, dem Chef der deutschen Militärverwaltung, bei Kardinal Van Roey über dessen feindselige Umtriebe beschwert. Doch der Kardinal ließ den eigenwilligen Mitbruder gewähren.

Im Juli 1942 ergriff Bischof Kerkhofs erste Maßnahmen zur Rettung jüdischer Kinder. Mit der praktischen Durchführung des Hilfsnetzes beauftragte er seinen Vertrauten, den Rechtsanwalt Van den Berg. Der Junggeselle genoss als hochdekorierter Kriegsinvalide hohes Ansehen. Außerdem war er ein rühriges Mitglied des Gebetsbundes für Israel, dessen Sekretär er war. Als Verantwortlicher der Sozialwerke im Bistum, zu denen viele karitative und kulturelle Einrichtungen gehörten, verfügte er über organisatorische Erfahrungen. Van den Berg nahm Kontakt zum Komitee zur Verteidigung der Juden auf, das sich kurze Zeit später im August 1942 bildete.

Van den Berg konnte sich auf freiwillige Helfer stützen, von denen viele aus dem Umkreis des Gebetsbundes kamen und die bereit waren, für die Rettung der Juden Kopf und Kragen zu riskieren. Bei ihnen handelte es sich in erster Linie nicht um politische Überzeugungstäter und notorische Weltverbesserer, sondern meistens um einfache, anständige Leute, die nicht tatenlos zusehen wollten, wie andere Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Abstammung diskriminiert, verfolgt und mit dem Tode bedroht wurden.

Mit Hilfe seines Sekretärs Pierre Coune legte Van den Berg – nach einem Modell, das Andrée Geulen für den CDJ entwickelt hatte – ein Register mit Namenslisten der versteckten Kinder an. Fünf Listen wurden an unterschiedlichen Stellen versteckt. In einem Heft war der Name des Kindes mit einer persönlichen Chiffre vermerkt, in einem anderen der neue Name mit dem Geburtsdatum. Im dritten Heft waren Name und Anschrift der Eltern, im vierten die der Gastfamilien oder ihrer Unterkünfte. Im fünften Heft, das Van den Berg im Kamin seines Hauses versteckte, waren noch einmal die Namen der Gastgeber mit den jeweiligen Chiffren aufgeführt.

Das bedeutete, dass jedes Kind eine neue Identität brauchte. Da der Jurist Van den Berg in Lüttich gut vernetzt war, konnte er sich beim Einwohnermeldeamt die nötigen Dokumente besorgen. Die Behörden waren in der Regel zu jeder Schandtat bereit, wenn dies den Besatzern zu schaden versprach. Kennkarten für Kinder waren leicht zu erstellen, da es nur eines amtlichen Stempels und zweier Zeugen bedurfte. Seine Vorräte an amtlichen Dokumenten deponierte der Anwalt an Orten, die nur Eingeweihten bekannt waren.

Van den Berg ging hohe Risiken ein, indem er sich an Rettungsaktionen beteiligte. Als 1942 in Banneux eine Razzia drohte, half er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein Dutzend jüdischer Kinder in die Wälder von St-Remacle zu bringen, um sie so lange der Résistance zu übergeben, bis neue sichere Quartiere gefunden waren. Nach seiner Verhaftung 1943 übernahmen sein Schwager Michel Fosny und seine Ehefrau Germaine, eine Schwester Van den Bergs, die Leitung der Organisation.

Die Zahl der Schattenkinder, die in christlichen Familien und in kirchlichen Einrichtungen überlebten, ist umstritten. Einige Quellen sprechen von mindestens 3.800. Neben Van den Berg gab es noch andere kirchliche Netzwerke wie das der oben genannten beiden Priester und das der Journalistin Jeanne de Moulienaere in Brüssel. Auch die katholischen Orden versteckten Hunderte von Kindern.

Die Entscheidung des CDJ, die Kinder in die Obhut der Kirche zu geben, sollte nach dem Krieg zu einem unrühmlichen Gerangel zwischen Synagoge und Kirche um das Seelenheil der geretteten Kinder führen. Die einen pochten auf die Kraft des Blutes, die anderen beriefen sich auf die Freiheit des Geistes.

Die Argumente, die beide Seiten ins Feld führten, waren stichhaltig. Die einen verwiesen auf die Notlage der Kinder und darauf, dass die Täuflinge auch nach kirchlichem Verständnis die Einwilligung ihrer Eltern bedurft hätten. Die anderen sagten, dass das bei den herrschenden Zuständen schwierig gewesen sei und gaben an, die Konversionen seien aus freiem Willen erfolgt, weil viele Kinder und Jugendliche auch nach jüdischem Gesetz volljährig waren.

Louis-Joseph Kerkhofs erkrankte 1950 so schwer, dass er bis zu seinem Tod im Jahre 1961 seine Amtsgeschäfte nicht mehr ausüben konnte. So blieb ihm die hässliche Auseinandersetzung, die sich in jenen Jahren um die scheinbare oder wirkliche Bekehrung von Schattenkindern entspann, erspart. Unabhängig von diesem peinlichen Streit wurden nach jahrelangen Querelen alle Protagonisten, auch die umstrittensten unter ihnen, von Israel in die Liste Yad Vaschems der »Gerechten unter den Völkern« aufgenommen. Die Rettung der jüdischen Kinder war nicht nur ein Verdienst einzelner couragierter Christen sondern das Ergebnis einer Maßnahme der Kirchenleitung, die die Rettungsaktion plante und durchführen ließ.

 

Als mit Beginn der Razzien viele Kinder dringend ein sicheres Versteck brauchten, bot sich der Wallfahrtsort Banneux als Auffanglager an, weil dort seit Ausbruch des Krieges viele Pilger- und Pflegeheime leer standen. Zwei der fünfzig bis sechzig Schattenkinder, die im Spätsommer 1942 nach Banneux kamen, waren der elfjährige Joshua Rozenberg und sein zwei Jahre älterer Bruder Menahim.