Schattenkinder

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Im Rückblick kam es Joshua vor, als habe die Reise nicht siebzehn Stunden sondern eine Ewigkeit gedauert. Seinen Plüschhasen hatte er zwischen die Koffer auf dem Gepäckständer gesetzt, damit er aus luftiger Höhe alles genau verfolgen konnte, was sich im Zugabteil abspielte.

Mendel hatte seinem Bruder das Denk- und Ratespiel »Schiffe versenken« beigebracht. Mendel kommandierte die deutsche, Joshua die englische Kriegsflotte. Es gelang Joshua auf Anhieb, einen Zerstörer Mendels sowie eine Fregatte zu versenken. Als er dann auch noch das Prunkstück von Mendels Flotte, das Schlachtschiff der Bismarck-Klasse, traf, war Mendel erbost. Er beschuldigte Roro, von seiner hohen Warte aus Joshua die entsprechenden Tipps zu geben und verlangte, dass er seinen Platz wechselte. Bevor der Streit zwischen den Jungen eskalierte, schritt der Vater ein.

Bei der nächsten Fahrscheinkontrolle entdeckte ein Schaffner den Hasen in der Gepäckablage, sprach von einem blinden Passagier und verlangte dessen Fahrschein zu sehen. Während der Vater auf Polnisch eine Entschuldigung stammelte und schon nach seinem Portemonnaie griff, weil er mit einer saftigen Ordnungsstrafe rechnete, lachte der Beamte auf und sagte, es sei alles nur ein Scherz gewesen. Joshuas Vater war trotzdem verärgert. Er meinte, das blöde Stofftier bereite nur Scherereien und mache die Familie lächerlich. Joshua schloss daraus, dass er umsichtiger sein müsse, um Roro keinen unnötigen Gefahren auszusetzen.

Als sie den Schlesischen Bahnhof in Berlin erreichten, fanden sie sich in einem Fahnenmeer wieder. Im Hinblick auf die Olympischen Sommerspiele waren die Bahnsteige nicht nur mit der olympischen Fahne und der Hakenkreuzflagge, sondern mit den Fahnen aller teilnehmenden Nationen geschmückt. Aus Lautsprechern dröhnte die olympische Hymne. Die Besucher, die zum Fest der Völker anreisten, sollten einen guten Eindruck vom Dritten Reich bekommen. Alles sollte festlich und freundlich wirken.

Über Hannover erreichten sie die Hansestadt Bremen. Übermüdet, aber erleichtert verließen sie den Centralbahnhof. Wie der Vetter es beschrieben hatte, befanden sich auf dem Vorplatz des Bahnhofes die Haltestellen der Straßenbahnlinien 2 und 3, die zum Bremer Ostertor fuhren. Bis zur Humboldtstraße, wo die Meyers wohnten, waren es nur noch einige Fußminuten.

Der Besuch bei der deutschen Verwandtschaft hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. Konsul Meyer und seine Familie bewohnten ein repräsentatives Stadthaus aus der Gründerzeit. Die Eingangshalle war so groß, dass man darin hätte Federball spielen können. Der Hausherr erwartete sie wie ein Feldherr auf der Empore zum Obergeschoss. Konsul Meyer war eine Respekt einflößende Erscheinung, hochgewachsen und herrschaftlich im Auftreten. Er trug einen etwas aus der Mode gekommenen Zwirbelbart, wie Kaiser Wilhelm ihn getragen hatte.

Der Konsul empfing die polnischen Gäste im Jagdzimmer. Der große Raum auf der Beletage war unterteilt: auf der einen Seite stand ein Billardtisch, der so groß und hoch war, dass ­Joshua kaum über den Rand gucken konnte. In der Mitte lagen in einem dreieckigen Rahmen neun weiße Kugeln bereit, davor eine rote Kugel. An den Kreidewürfeln konnte man erkennen, dass es schon lange her war, dass jemand gespielt hatte.

An den Zimmerwänden hingen Jagdtrophäen, Hirsch- und Rehgeweihe sowie der mächtige Kopf eines Keilers. Eigentlich, klärte der Hausherr seine Gäste auf, sei er immer noch ein leidenschaftlicher Waidmann, aber seit dieser fette Parvenü von Göring Reichsjägermeister geworden sei und das christliche Kreuz im Geweih des Hirsches durch ein Hakenkreuz habe ersetzen lassen, mache ihm das Weidwerk keine Freude mehr.

Seine Frau erzählte hinter vorgehaltener Hand, dass man ihren Mann nach Einführung des Arierparagrafen aus der Lüneburger Jägerschaft ausgeschlossen habe, was er nicht verschmerzt habe.

Auf der anderen Seite des Raumes gab es eine Leseecke mit Polstermöbeln. Die Wände waren ganz mit Bücherregalen zugestellt. Gegenüber stand ein Flügel, auf dem die Tochter des Hauses ihre Partituren übte. Über dem Klavier hing eine Fotogalerie. Auf einem Foto war die Tochter Hedwig bei ihrer Konfirmation zu sehen, ein anderes zeigte den Hausherrn in der Uniform eines Leutnants des Infanterieregiments »Bremen«. Auf seiner Brust prangte das Eiserne Kreuz, das ihm für Tapferkeit vor dem Feind verliehen worden war. Als er die fragenden Blicke der Jungen bemerkte, begann der Konsul lang und breit von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen.

Als Reservist hatte er sich im August 1914 freiwillig gemeldet. Er war mit dem 1. Hanseatischen Regiment an die Westfront gezogen und hatte bei Noyon in Nordfrankreich seine Feuertaufe bestanden. Sein Regiment habe im Stellungskrieg schwere Verluste erlitten, was seiner Überzeugung, dass er für eine gerechte Sache kämpfte und am Ende den Sieg davontragen werde, nichts anhaben konnte. Leider war es aber anders gekommen. Die Schuld dafür wies Meyer unfähigen Politikern zu, die den kämpfenden Truppen in den Rücken gefallen seien.

Meyers Ehefrau Gerda war eine geborene Scholl und stammte aus gutem hanseatischem Hause. Neben Hedwig gab es noch den jüngeren Sohn Emil, ein aufgeweckter Junge in Joshuas Alter. Die Kinder begegneten ihren Eltern voller Respekt und redeten sie nur in der dritten Person an.

Emil hatte einen goldbraunen Teddybären, der Petsy hieß, ein drolliges Kerlchen, das allerlei lustige Geschichten zu erzählen wusste und immer zu Späßen aufgelegt war. Sehr stolz war das Bärchen auf den Knopf in seinem linken Ohr. Das zeichne ihn vor allen anderen Teddybären aus, klärte er den Plüschhasen auf. Die beiden freundeten sich an, obwohl Roro von Natur aus eher reserviert war.

Als Vertreter des hanseatischen Bürgertums und Mitglied des Deutschen Kaffeevereins war der Konsul sich seiner gesellschaftlichen Stellung bewusst. Um diese zu betonen, gab er sich Mühe, wie ein preußischer Junker zu näseln und redete in der Familie vorzugsweise Bremer Schnack, den örtlichen Dialekt. Man merkte ihm an, dass es ihn einige Überwindung kostete, Jiddisch zu reden, das er nur mangelhaft beherrschte. Von Mendel und Joshua ließ er sich mit »Oheim« anreden. Die Jungen mochten diesen deutschen Onkel wegen seiner überheblichen und herablassenden Art nicht sonderlich. Sie machten sich einen Spaß daraus, ihn abends auf ihrem Zimmer zu parodieren und nachzuäffen.

Meyers Frau war sehr viel umgänglicher als ihr Mann. Sie verstand sich auf Anhieb gut mit Joshuas Mutter. Während die Männer in der Bibliothek über hohe Politik redeten und die Kinder im Garten spielten, hielten die Frauen nebenan ihren Kaffeeklatsch. Da Joshuas Mutter von Hause aus gut Deutsch sprach, konnten sie sich zwanglos unterhalten.

Gerda Meyer klagte darüber, dass sie ohne Haushaltshilfe auskommen mussten, weil es Juden durch die Nürnberger Rassengesetze verboten war, Nicht-Juden als Hauspersonal anzustellen. Noch schmerzlicher seien die beruflichen Einschnitte, die ihr Mann in seinem Geschäft erfahren habe. Man habe ihn im Rahmen der Arisierung gezwungen, seine Anteile am Unternehmen, das seinen Namen trug, zu einem Schleuderpreis zu veräußern. Aber man habe ihn nicht entlassen, sondern auf einen untergeordneten Posten abgeschoben, weil er über viele Kontakte ins Ausland verfügte, die über die Jahre gewachsen waren und die für das Unternehmen unerlässlich waren.

Sie sagte, das antisemitische Klima, das sich selbst in der feinen hanseatischen Gesellschaft breitmache, mache ihrem Mann zu schaffen. Er leide sehr unter den Anfeindungen, die er auf offener Straße erfuhr. Hatten früher die Nachbarn artig den Hut gezogen, wenn sie dem Herrn Konsul begegneten, titulierten Lausbuben aus der Nachbarschaft ihn nun ungestraft als »Saujuden« oder »Judensau«. Vermutlich war diese Demütigung ein Grund dafür, dass Meyer sich auf seine jüdischen Wurzeln besann und bereit war, seinen entfernten Verwandten eine finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.

Siegmund Meyer erging sich gerne in weitschweifigen Erörterungen, die er mit zahlreichen historischen Bemerkungen und Anekdoten spickte. Ariel Rozenberg war ein dankbarer Zuhörer, umso mehr als er nicht alles verstand, was der Konsul zum Besten gab. Ungeachtet der widrigen Tagespolitik bezeichnete der Konsul sich als deutscher Patriot. Was seine persönliche Zukunft betraf und die Situation der Juden im Reich, blieb er zuversichtlich. Der Nazi-Spuk werde irgendwann vorüber sein. Danach würden wieder geordnete Zustände im Reich einkehren.

Seine Überzeugung stützte sich auf die Beobachtung, dass neuerdings alle antisemitischen Parolen aus dem Stadtbild entfernt worden waren. Es fänden auch keine Übergriffe gegen Juden oder jüdisches Eigentum mehr statt. Zu den Olympischen Spielen präsentiere sich Deutschland als gastfreundliches, weltoffenes Land. Alles sei auf einmal viel entspannter. Jüdische Sportler, die aus der deutschen Nationalmannschaft entfernt worden waren, seien mit allen Ehren wieder aufgenommen worden. Deutschland sei eben eine Kulturnation, und daran würden »diese Banausen aus den bayerischen Bergen«, die derzeit in Berlin das Sagen hätten, auf Dauer nichts ändern.

Dass Meyers zur Schau gestellte Gelassenheit nur gespielt war, sollte der Metzger Rozenberg an den Umständen ersehen, mit der die Geldübergabe stattfand. Statt eine Bank aufzusuchen, begleitete er den Konsul auf den Söller des Hauses, wo dieser unter einer losen Bohle des Fußbodens sein mobiles Kapital verborgen hatte. In einer Schuhschachtel hatte er Bargeld, ausländische Devisen sowie Wechsel und Aktien gehortet. Zur Erklärung sagte er, die Reichsregierung habe Devisenstellen eingerichtet, mit dem Ziel, die Juden auszuplündern. Hier dagegen sei sein Geld sicher und gut angelegt. Dieses Geld würden diese Brüllaffen nicht kriegen, betonte er, als er Rozenberg eine beträchtliche Summe in ausländischer Währung aushändigte.

 

Abschließend ließ er Rozenberg einen Schuldschein unterschreiben. Da es immer öfter vorkam, dass aus dem Ausland angewiesene Beträge an jüdische Firmen oder Privatpersonen von der deutschen Bankaufsicht unter fadenscheinigen Vorwänden kassiert wurden, vereinbarten sie, dass Rozenberg die monatlichen Raten für den Kredit nicht nach Deutschland überweisen, sondern auf ein belgisches Sperrkonto einzahlen sollte.

Nachdem die Mutter die Geldscheine ins Futter ihrer Jacke eingenäht hatte, traten die Rozenbergs voller Optimismus ihre Reise ins »Gelobte Land« an. Von Bremen ging es über Köln nach Aachen. In einem Branchenbuch, das in der Bahnhofshalle auslag, fanden sie die Anschrift eines Gasthofes im Ostviertel von Aachen. Dort wollten sie übernachten, um in Ruhe die Lage an der deutsch-belgischen Grenze zu erkunden.

Die Wirtin der Pension »Zum Postillion« erwies sich als rabiate Person. Bevor sie die Gäste über die Schwelle ließ, wollte sie die Reisedokumente prüfen. Als sie polnische Pässe sah, setzte sie eine Miene auf, die offenes Missfallen bekundete. Bevor sie den Zimmerschlüssel aushändigte, verlangte sie Vorkasse. Die Einrichtung des Fremdenzimmers war bescheiden. Neben einem Doppelbett gab es zwei Kinderbetten, die für einen Siebenjährigen wie Mendel zu knapp bemessen waren. Immerhin gab es in dem Zimmer fließend Wasser.

Im Zimmer unterhielten sie sich nur im Flüsterton. Die Mutter schärfte den Jungen ein, den Raum nur auf leisen Sohlen zu verlassen. Wenn sie zur Toilette auf dem Flur müssten, sollten sie sich vorher vergewissern, dass die Luft im Treppenhaus rein sei. Ihr war aufgefallen, dass die Herbergsmutter ständig auf der Lauer lag und keine Gelegenheit ausließ, um ihre Kinder auszufragen und zu behelligen.

Am nächsten Morgen verließen die Rozenbergs getrennt die Pension. Während die Mutter und Joshua die Kleinbahn nahmen, um den Aachener Dom zu besuchen, machten der Vater und Mendel sich auf die Suche nach den Eifeljuden. Da Mendel aus seiner Schulzeit in Lodz noch einige Brocken Deutsch sprach, hatte sein Vater, der nur Polnisch und Jiddisch sprach, gemeint, dass er ihm bei der Suche behilflich sein könne. Er hatte seiner Frau versprochen, am Abend zurück zu sein.

Mit dem Zug ging es von Aachen nach Düren. Dort nahmen sie die Eifelbahn. Die erste Station war Euskirchen, eine Stadt, die im »Jiddischen Wort« wegen ihrer prächtigen Synagoge als Zentrum jüdischen Lebens beschrieben worden war. Als sie vom Bahnhof die Straße zum Alten Markt hinuntergingen, fanden sie dort eine seltsame Schautafel, auf der Namen und Fotos von Juden sowie Namen von »Judenknechten« und »Volksverrätern« geheftet waren. Der Pranger jagte ihnen einen solchen Schrecken ein, dass sie beschlossen, schleunigst umzukehren und sich gleich in die nächste Ortschaft zu begeben.

Den Ort Hellenthal unmittelbar an der belgischen Grenze hatte der Kantor in seinen Briefen mehrmals erwähnt. Als sie mit dem Schienenbus dort eintrafen, waren die Geschäfte bereits geschlossen. Sie sahen, dass auf einigen Rollläden Davidsterne gepinselt waren.

Als sie ein altes Mütterchen sahen, das über die Straße humpelte, drängte Rozenberg seinen Sohn dazu, sie anzusprechen. Ob sie den Viehhändler Karl Haas kenne, fragte Mendel. »Sitt der ooch Jüdde?«, erwiderte die Frau. Sie hatte es nicht böse gemeint, aber Mendel war erschrocken. »Nee, nee«, stammelte er: »Nix Jüd, Polack.«

»Ah, e sue is dat«, nickte die Alte. Dann zeigte sie mit dem Finger auf die Kölner Straße. »Do önne want d’r Haas.«

Tatsächlich gab es am Ende der Straße an einem Haus, das unbewohnt schien, eine Hausklingel mit diesem Namen. Nach mehrmaligem Klingeln öffnete ein Mann mittleren Alters die Tür.

Als er sah, dass es sich um Fremde handelte, wollte er die Tür gleich wieder schließen. Rozenberg hatte gerade noch Zeit den Friedensgruß »Schalom12, Schabbat Schalom« zu sagen. Es war an einem Freitag, und da es bereits dunkelte, war nach jüdischem Verständnis bereits der Sabbat angebrochen.

Als der Mann den vertrauten Gruß hörte, schaute er sich kurz um, um sicher zu gehen, dass sie niemand beobachtete. Dann zog er den Mann und das Kind zu sich ins Haus. »Kommen Sie herein«, sagte er auf Jiddisch. Er führte sie in eine Wohnküche und sagte, er müsse sich in Acht nehmen: die Nachbarn würden jeden Besucher bei der Polizei melden. Daran könne man sehen, dass die ständige Hetze gegen die Juden und die Gräuelpropaganda der Nazis ihre Wirkung zeige.

Haas schenkte Rozenberg einen Wacholderschnaps ein und fragte ihn nach seinem Anliegen. Als der erwähnte, er habe wunderbare Sachen über die Eifeljuden gelesen, wiegelte der Viehhändler ab. In der Eifel gebe es fast keine Juden mehr. Ihre Zeit sei abgelaufen. Von den dreihundert Glaubensjuden, die es noch vor ein paar Jahren alleine in Euskirchen gegeben habe, seien nur noch einunddreißig übrig. Und die seien von der Kreisverwaltung in sogenannte Judenhäuser gesperrt worden.

Alles habe damit angefangen, dass die Behörden auf den Viehmärkten getrennte Plätze für jüdische und arische Händler eingerichtet hätten. Von amtlicher Seite habe es geheißen, das sei notwendig, weil die Juden notorische Betrüger seien, die man besser kontrollieren müsse. Dann sei es immer öfter zu Handgreiflichkeiten der SA gekommen. Wenn die jüdischen Händler nicht freiwillig ihren angestammten Platz geräumt hätten, habe man nachgeholfen. Seinen Freund Andreas Baer von der Baumstraße, der im Krieg das Eiserne Kreuz bekommen habe, habe man grundlos zusammengeschlagen. Er habe selber mit ansehen müssen, wie die Braunen ihn gezwungen hätten, Schweinefleisch zu essen.

Rozenberg sagte, der Kantor der Synagoge von Lüttich habe ihm seinen Namen genannt, weil er von anderen Juden wisse, dass er ihnen geholfen habe, über die Grenze zu gelangen. Dem Viehhändler war es sichtlich unangenehm, das zu hören. Nein, das tue er schon lange nicht mehr. Das sei zu gefährlich. Die Grenze sei stark gesichert und nicht mehr so durchlässig wie vor zwei oder drei Jahren. Sein Bruder sei kürzlich als Judenschlepper enttarnt worden und dafür in einem Konzentrationslager gelandet.

Beim dritten Glas Wacholder schilderte Haas die Lage an der Grenze. Früher sei der Handel mit Flüchtlingen in der Eifel ein florierendes Gewerbe gewesen. Ganze Berufssparten, Fuhrunternehmen und Transporteure hätten sich als »Judenfänger« und »Kommunistenschieber« eine goldene Nase verdient. Ohne viel nachzufragen hätten sie gegen gutes Geld politisch und rassisch Verfolgte über die Schmugglerpfade nach Belgien geleitet. Bauern, die jenseits der Grenze Wiesen oder Äcker besäßen, hätten Flüchtlinge unter Heuhaufen oder Zuckerrüben versteckt und mit Pferdekarren über die Grenze gebracht, wo sie von belgischen Komplizen in Empfang genommen worden waren. Selbst NS-Parteigenossen und Nutznießer des Regimes hätten vom lukrativen Judenhandel profitiert, denn die Schanzarbeiter am »Westwall« und die Bauarbeiter an der braunen Ordensburg »Vogelsang« hätten sich rege daran beteiligt, um ihr mageres Salär aufzubessern.

Damit sei es nun vorbei. Die Preise, die professionelle Schleuser inzwischen verlangten, hätten astronomische Höhen erreicht: Für eine Passage würden Kopfprämien von 1.000 bis zu 10.000 Reichsmark verlangt. Früher hätte man für einen Juden höchstens ein paar Hunderter gefordert. Nun würden die Flüchtlinge regelrecht ausgeplündert, ohne dass diese sicher sein konnten, dass die Schlepper ihre Versprechen hielten. Sie nähmen ihnen nicht nur ihr gesamtes Bargeld ab, sondern auch Schmuck, Uhren und sonstige Wertsachen. Das nenne man im Volksmund »den Hut rund gehen lassen«. Er warnte Rozenberg dringend davor, sich mit solchen Leuten einzulassen.

Der Viehhändler wirkte resigniert. Er sagte, seine Familie sei bereits »nach drüben abgehauen«, und er werde ihnen bald nachfolgen, denn es gebe hier für ihn kein Auskommen mehr, seitdem sie ihn aus der Metzgerinnung geworfen hätten. Er müsse noch ein paar Dinge regeln, dann werde er verschwinden.

Inzwischen war es Nacht geworden, und Mendel war bereits am Tisch eingeschlafen. Haas lud die Besucher ein, die Nacht bei ihm zu verbringen. Für eine Rückreise nach Aachen sei es eh zu spät. Auch sei es nicht ratsam, die Nacht auf dem Bahnhof zu verbringen, und die wenigen Pensionen und Hotels, die es im Ort gebe, würden wegen der Grenznähe von der Gestapo überwacht. Die Rozenbergs nahmen das Angebot dankbar an.

* * *

Niedergeschlagen trat Rozenberg am nächsten Morgen die Rückreise nach Aachen an. Als sie in der Pension eintrafen, fand er seine Frau völlig aufgelöst vor. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, weil sie nicht wie versprochen am Abend zurückgekehrt waren. Umso glücklicher war sie, Vater und Sohn wohlbehalten in ihre Arme schließen zu können. Für die beiden Söhne waren solche Emotionen ein ungewohntes Schauspiel.

Die Mutter berichtete aufgeregt, dass sie während seiner Abwesenheit mit der Pensionswirtin aneinandergeraten sei. Die habe ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie keine harmlosen Reisenden, sondern flüchtige Juden seien. Solcherlei dulde sie nicht in ihrem Haus. Sie habe mit der Polizei gedroht. Nach einigen Beschimpfungen habe sie ein überraschendes Angebot gemacht. Sie kenne da jemanden, der könne ihnen helfen über die Grenze zu kommen: wenn sie bereit wären, dafür den entsprechenden Preis zu zahlen! Obwohl Haas ausdrücklich vor solchen Judenfängern gewarnt hatte, beschlossen die Eltern, auf das Angebot einzugehen.

Am Abend fand sich der Schlepper in der Pension ein. Der Mann machte einen ungepflegten und gemeinen Eindruck. Rozenberg war auf der Hut und entschlossen, sich nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Das Gespräch verlief in angespannter Atmosphäre. Während die Mutter dolmetschte, lauerte die Wirtin im Hintergrund.

Der Mann begann damit, die Gefahren an die Wand zu malen, die ihnen drohten, wenn sie sich ohne ortskundige Führer auf den Weg machen sollten. Die größte Gefahr ginge nicht von deutschen Zöllnern, sondern von belgischen Gendarmen aus. Wer sich von denen in der Grenzzone erwischen lasse, werde sofort ins Reich abgeschoben. Und sie wüssten ja, was ihnen dann blühte. Selbst, wenn sie es auf die andere Seite schaffen würden, wären sie noch nicht in Sicherheit. Die Bewohner der Grenzgebiete sympathisierten mit den Nationalsozialisten. Sie würden sie verraten und der Gendarmerie ausliefern.

Rozenberg war verunsichert: Von solchen Schwierigkeiten hatte der Viehhändler nichts berichtet. Er wollte den Schlepper auf die Probe stellen und fragte, wie er es denn anstellen werde, um sie unbemerkt über die Grenze zu bringen, wo doch alles hermetisch abgeriegelt sei. Der Schleuser lächelte maliziös, beugte sich vor und begann zu flüstern: Es gebe immer noch ein Schlupfloch an der Grenze, ein Nadelöhr, das weder die Deutschen noch die Belgier hätten schließen können. Ob sie jemals von der Vennbahn13 gehört hätten? Rozenberg horchte auf: eine Vennbahn? Was war damit?

Der Mann erläuterte, diese Bahnstrecke sei eine von den verrückten Sachen, die in Versailles ausgeheckt worden wären. Die Bahn stamme aus preußischer Zeit und führe quer durch die Eifel. Sie verbinde das Aachener Kohlerevier mit dem luxemburgischen Stahlrevier. Um den Deutschen zu schaden, habe man die Vennbahn zusammen mit den Kreisen Eupen und Malmedy Belgien zugesprochen.

Seitdem schlängele sie sich als belgische Staatsbahn wie ein Bandwurm fünfzig Kilometer weit durch deutsches Staatsgebiet. In den Zügen gebe es streckenweise kein deutsches Personal, da einige Bahnhöfe auf belgischem Hoheitsgebiet lägen. Wenn sie sich am Bahnhof in Aachen als Wanderer und Sommerfrischler ausgeben würden, würde niemand Verdacht schöpfen. Den Rest würde er besorgen.

Rozenberg witterte Morgenluft: Das war es! Er schlug die Warnungen des Viehhändlers in den Wind und fragte den Schlepper, was eine Passage kosten würde.

Alles hinge von der Höhe der Gage ab, sagte der süffisant: je höher das Honorar wäre, umso besser der Service. Manche Kunden habe er schon komfortabel mit dem Taxi über die Grenze chauffiert. Er schaute Rozenberg etwas herablassend an. Wie viel er denn zu investieren gedenke?

Der Metzger bot 1.000 Reichsmark an, für alle vier wohlgemerkt. Der Schlepper grinste abfällig, erhob sich und tat so, als wolle er den Raum verlassen. Da packte Rozenberg ihn beim Ärmel, drückte ihn wieder auf den Stuhl und sagte, er verdoppele das Angebot. Schließlich wurden beide sich bei 2.200 Reichsmark handelseinig: 600 RM pro Erwachsenen, 500 RM für jedes Kind. Hinzu kam eine Provision von 350 RM für die Wirtin. Das Honorar solle vor Antritt der Reise bar gezahlt werden.

 

Auf dem Zimmer berichteten die Eltern den Söhnen, die aufgeregt gewartet hatten, dass alles geregelt sei. Morgen Abend würde ein Mann sie über die Grenze bringen. Dann wären sie in Sicherheit.

Allerdings dämpften die Eltern die Freude der Jungen, indem sie mitteilten, der Schlepper habe verlangt, dass sie ihr gesamtes Gepäck zurücklassen müssten, um keinen Argwohn zu erregen. Die Wirtin habe sich angeboten, es in Verwahr zu nehmen, wobei die Mutter sich keine Illusion machte, dass sie je etwas wiedersehen würde. Joshua fürchtete schon, er müsse Roro zurücklassen, aber die Mutter beruhigte ihn, davon könne keine Rede sein. Der Vater bestand darauf, die Trompete mitzunehmen. Mendel musste sie in seinen Rucksack stecken und dafür seinen Metallbaukasten zurücklassen.

In der Nacht hatte es geregnet. Als sie sich auf dem Regionalbahnhof Aachen-Brand einfanden, trafen sie auf dem Bahnsteig auf eine Gruppe Wanderer, die angeblich genau wie sie selber die Eifel erkunden wollten. Alle schienen auf den gleichen Wanderführer zu warten. Auch die Rozenbergs wunderten sich, dass sie den Schleuser nicht sahen.

Schließlich stellte sich ihnen kurz vor der Abfahrt ein Mann vor, der vorgab, im Auftrag des Herrn Soundso zu kommen, der leider verhindert sei. Es sei aber alles geregelt: Wie besprochen seien die Eisenbahner, sowohl die deutschen wie die belgischen, eingeweiht und hätten ihre Provisionen schon kassiert. Niemand werde sie behelligen. Allerdings habe er Fahrscheine für die gesamte Strecke, also von Aachen bis nach Luxemburg, lösen müssen, und diesen Aufschlag müssten sie extra bezahlen.

Zähneknirschend fügte auch Rozenberg dem Geld, das er schon abgezählt in seiner Hosentasche hatte, noch einige Scheine hinzu. Ihm blutete das Herz, denn er wusste, dass es ihm für eine Geschäftsgründung fehlen würde. Nachdem der Mann diskret nachgezählt hatte, überreichte er die Fahrscheine und gab allen Anweisungen über den Verlauf ihrer anstehenden Reise.

In Monschau, an der 13. Haltestation, sollten sie aussteigen. Dort erwarte sie ein Kurier, der sie über die nahe Grenze bringen werde. Im Bewusstsein, dass sie einem Betrüger auf den Leim gegangen waren, bestiegen sie den Zug. Mendel schlug dem Vater vor, den Kerl bei der deutschen Polizei anzuzeigen, aber der meinte, das sei keine gute Idee.

Unterwegs gaben sie sich Mühe, wie harmlose Reisende zu wirken. Die Söhne spielten Karten, die Eltern blätterten in deutschen Zeitschriften. Mendel hatte sich bei dem Ausflug in die Eifel erkältet und hörte deshalb nicht auf zu husten und zu schniefen, was den Vater auf Dauer nervös machte. »Reiß dich zusammen«, fuhr er ihn an, »willst du unbedingt, dass wir auffallen?«

Aber die Sorge war unbegründet, denn auf der gesamten Strecke begegnete ihnen kein Schaffner. Aus dem Zug konnten sie beobachten, dass auf den Bahnhöfen, die sie passierten, abwechselnd deutsche Schutzpolizisten und belgische Zöllner patrouillierten und die aussteigenden Reisenden kontrollierten.

Die Landschaft, die an ihnen vorüber zog, veränderte sich zusehends: Heide- und Moorflächen lösten die Wiesenlandschaft ab. Die Sonne stand schon tief am Horizont, als sie die Halte­station Monschau erreichten.

Der kleine Bahnhof, der eine belgische Enklave in Deutschland bildete, lag oberhalb des Städtchens an einem Flachhang, der mit Ginster und Dornengestrüpp bewachsen war. Es gab ein Wartehäuschen, in dem sich eine größere Menschengruppe drängte. Alle waren sommerlich gekleidet, als ginge es auf einen Jahrmarkt oder in den Biergarten: Die Frauen trugen luftige Kleider, die Männer offene Hemden. Einige hatten Wanderstöcke dabei, trugen grüne Knickerbocker und Jägerhüte mit Gamsbart. Die Frauen hatten leichtes Schuhwerk an den Füßen, einige sogar Stöckelschuhe. Ein junges Paar hatte einen geflochtenen Picknickkorb dabei, der mit einem Küchentuch abgedeckt war und aus dem verdächtige Geräusche drangen, die sich als das Gequäke eines Säuglings entpuppten.

Nachdem man sich gegenseitig gemustert und festgestellt hatte, dass alle auf den gleichen Betrüger hereingefallen waren, beratschlagten sie gemeinsam, was zu tun sei.

Den meisten schien es ratsam, nicht länger zu verweilen, sondern sich alleine auf den Weg zu machen, weil sie sonst unweigerlich einer deutschen Zollstreife in die Hände fallen würden. Eine kleinere Gruppe wollte weiterhin an der Station ausharren, in der Hoffnung, dass der Kurier doch noch auftauchen werde. Da niemand eine Landkarte besaß, übergab die größere Gruppe die Führung einem jungen Mann, der behauptete, das Gelände zu kennen. Man brauche nur der Bahnlinie zu folgen und sich irgendwann nach Westen wenden.

Bei leichtem Nieselregen zogen sie los. Elsa Rozenberg nahm ihren Jüngsten bei der Hand und drückte seine Hand so fest, dass es Joshua wehtat. Sie ließ nicht zu, dass er sich auch nur einen Fußbreit von ihr entfernte. Immer wenn er zu straucheln drohte, fing sie ihn auf.

Bald begann es zu dunkeln, und die Flüchtlinge begannen auf den Gleisen zu torkeln. Öfter rutschten sie auf nassen Bahnschwellen aus und stolperten über den Schotter, wobei etliche sich blutige Knie und Ellbogen holten. Wer so unvorsichtig war und den Bahndamm verließ, riskierte die Böschung hinab zu rutschen und in einem Wassergraben zu landen. Vor allem für die Frauen mit ihrem schlechten Schuhwerk war der Marsch beschwerlich. Immer wieder mussten die Männer warten, damit Frauen und Kinder aufschließen konnten.

Der junge Mann führte sie an eine Stelle, wo die Bahnstrecke angeblich die Staatsgrenze bildete. Nun hieß es, über Wiesenzäune zu steigen und durch Büsche und Hecken zu kriechen. Jedes Mal, wenn ein verdächtiges Geräusch sie aufschreckte, suchten sie Deckung. Joshuas Mutter warf sich auf den Boden, zog Joshua zu sich herab. Sie drückte dabei sein Gesicht so tief ins Gras, sodass er kaum noch Luft bekam. Doch jedes Mal stammten die Geräusche nur von Rindern, die neugierig nachschauten, wer da mitten in der Nacht durch die Wiesen schlich. Zu ihrem Glück begegneten sie keiner Menschenseele.

Nach einer Weile stießen sie auf ein Ortschild mit einem deutschen Adler: »Gemeinde Mützenich – Kreis Monschau«. Sie waren im Kreis gelaufen. Erschrocken kehrten sie um und tasteten sich wieder durch das Gehölz, aus dem sie gerade gekommen waren. Schließlich gelangten sie über einen Karrenweg auf eine Lichtung.

Als die Wolkendecke kurz aufbrach, konnten sie im Mondlicht eine baumlose Ebene erkennen. »Schaut her, das ist das Hohe Venn«14, sagte der junge Mann: »es gehört schon zu Belgien. Wir haben es geschafft!« Alle fassten wieder Mut, auch wenn der Weg noch mühsamer wurde, als der Steig auf einmal aufhörte.

Joshua spürte, dass der Boden unter seinen Füßen zu wabbeln und zu schwabbeln begann. Hin und wieder federte irgendetwas seine Schritte ab, aber bald gluckste in seinen Schuhen das Wasser. Es ging nur noch durch Sumpf und Morast. Statt über Bahnschwellen stolperten sie nun über Grasbüschel. Sie wateten durch Pfützen und Rinnsale, die in Tümpeln und Wasserlöchern mündeten. Vom Regen völlig durchnässt schlotterten sie vor Kälte. Die kleinen Kinder begannen zu wimmern.

Sie waren am Ende ihrer Kräfte, als unverhofft die Umrisse eines Bauernhofes auftauchten. Einige Männer pirschten sich heran, um sich zu vergewissern, dass sie die Grenze passiert hatten und wirklich in Belgien waren. Als sie näher kamen, schlug ein Wachhund an. Im oberen Stockwerk ging ein Licht an, und ein Mann mit einem Gewehr spähte aus einem Fenster, um zu sehen, wer da in Nacht und Nebel Einlass begehrte.