Buch lesen: «1918 - Wilhelm und Wilson», Seite 13

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„Das nehmen wir auf, Louis“, ruft Edward House voller Begeisterung aus.

„Die Politik der freien Märkte möchte ich indes auch in Woodys Dutzend-Punkte-Plan haben. Davon würden nämlich gleich mehrere wichtige Nationen profitieren: Wir natürlich, die Briten als Handelsmacht und dann selbstverständlich auch die Deutschen als Industrienation. So könnte der freie Welthandel mit geregelten Zugängen auch in die kolonialen Räume der Europäer für alle anderen, die weniger zu beherrschen haben als Briten und Franzosen, akzeptabel werden. Übrigens bin ich der Auffassung, dass koloniale Entschädigungen für die Deutschen der probate und der einzige Weg sein dürften, auf irgend einen Quadratmeter ihres Reiches zu verzichten. Sollten sie am Ende nach Volksabstimmungen auf Teile Elsass-Lothringens oder vielleicht sogar auch Posens verzichten müssen, dann geht das im Guten nur mit Hilfe einiger gehöriger kolonialer Kompensationen. Und Clemenceau wird sich darauf womöglich gar nicht so schweren Herzens einlassen.“

Nachdem Edward House gesprochen hat, ist es Brandeis ein Bedürfnis, die schon vor vielen Wochen vom Präsidenten genannte Idee eines Bundes der Völker und Nationen zu durchleuchten. Schließlich sind Amerikas Verbündete in diesem Krieg die größten Kolonialmächte der Erde. Sie werden es nicht hinnehmen, die Verfügungsgewalt über ihre ausgreifenden Territorien internationaler Kontrolle zu unterwerfen. Etwas anderes wäre es natürlich, falls es Woody gelänge, einen Völkerbund durchzusetzen, der den Krieg ächtete und die Großmächte dazu brächte, auf Krieg zu verzichten - oder zumindest so lange, bis ein internationales Schiedsgericht zu Konflikten zwischen den Staaten einen Vermittlungsvorschlag unterbreitet hätte. Als der oberste Bundesrichter Louis Brandeis voller Eifer seine Überlegungen über völkerrechtliche Ambitionen zum Besten gibt, ist der Präsident wie gefangen. Edward House spürt gleich wieder dieses enorme Herzblut, dass Woodrow Wilson in sein Konzept vom Bund der Nationen hineinlegt. So kommt es, dass die drei Herren in eine tief schürfende Betrachtung jenes Bundes eintreten, Edward House und selbst der Präsident sich dabei die eine oder andere Randbemerkung notieren und die zuweilen hitzige Diskussion selbst vom Lunch, den die Küche des Weißen Hauses in einem benachbarten Salon serviert, nicht unterbrochen, geschweige denn abgewürgt wird.

Recht beiläufig, während die Vorspeise serviert wird, erwähnt Louis Brandeis eine bemerkenswerte Begebenheit während seines Weihnachtsaufenthaltes bei Verwandten in New York. Der britische Generalkonsul in New York, Lord Melroy, habe berichtet, vor Weihnachten von Graf von Bernstorff besucht worden zu sein. Edward House merkt auf, denn er weiß: Bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Deutschen Reich am 3. Februar 1917 war Bernstorff Botschafter in Washington. Dann wurde er selbstverständlich ins Reich zurückgerufen. Was ist der Grund für seine Amerikareise gewesen? Danach fragt er sogleich Brandeis.

„Nein, so richtig hat von Bernstorff die Katze nicht aus dem Sack gelassen. Allerdings versuchte er auch erst gar nicht den Anschein einer rein privaten Reise zu erwecken. Besuche bei alten Freunden, Kollegen anderer Botschaften und eben auch Geschäftspartnern aus New York nannte er als erstes. Dann aber sagte er sinngemäß Folgendes: Die militärische wie die zivile Reichsleitung habe zur Zeit ein gesteigertes Interesse daran, mehr über Amerikas Kriegsvorbereitungen für das Jahr 1918 zu erfahren. Und noch wichtiger sei es für manche Herren in Berlin zu wissen, ob der Präsident wohl wie 1916 oder 1917 noch vor dem Kriegseintritt wieder für eine Friedensoffensive gut sei.

„Ich hakte bei Melroy nach und fragte, welche Herren Bernstorff wohl gemeint habe. Der Generalkonsul schwieg zunächst. Das lag vielleicht daran, dass er meine Erwartung in der von ihm verursachten Stille genoss. Endlich bemerkte er ohne die geringste Intonation in seiner Stimme: Für die Regierung Seiner Majestät, des Königs von England und des Kaisers von Indien, ist es ebenso interessant wie für den Präsidenten der Vereinigten Staaten, wenn, oder besser dass es zumindest einige maßgebliche Herren in Berlin gibt, die nicht allein auf den Zusammenbruch der Russen spekulieren und anschließend alles auf eine große Offensive im Westen setzen. Mister Brandeis, stellen sie sich nur vor, die Deutschen verlegen im kommenden Jahr 70 Divisionen, mehr als eine Million Mann von Russland nach Frankreich und greifen uns dort an. Wer weiß, wie das ausgeht? Britannien wird durchaus kriegsmüde. Da könnte ich mir einen Verhandlungsfrieden besser vorstellen als noch 1916.

Ich reagierte erschüttert. Melroy hielt ich entgegen, wir hätten keine Aussicht auf einen fairen Frieden mit dem Reich, wenn der Kaiser und Hindenburg aus einer Position der Stärke in die Verhandlungen einstiegen. Doch der Generalkonsul wehrte mit einer laschen Handbewegung ab. Sie glauben gar nicht, welche realistischen Gedanken sich die weltoffenen Herren in Berlin über das amerikanische Militärpotenzial machen. Ich wette, da geht etwas!“

Oberst House kann seine Spannung nicht mehr verbergen. Er rutscht etwas unruhig in seinem Sessel hin und her, dabei knetet er die Hände zur Selbstberuhigung ineinander.

„Jetzt aber raus mit der Sprache, Louis. Wer ist es, der in Berlin für gut zu gebrauchen ist? Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass Ludendorff zu den Weltbürgern dort zählt oder der Kaiser persönlich Graf Bernstorff auf die Reise nach New York geschickt hätte.“

Woodrow Wilsons Gesichtsausdruck verrät, dass er ähnliche Überlegungen anstellt, doch der Präsident zügelt seine Ungeduld und dokumentiert staatsmännische Gelassenheit, indem er nichts weiter unternimmt, als Eddy House das Feld zu überlassen und Brandeis auffordernd anzublicken. Dem Blick hält Louis Brandeis gerade einmal zwei Sekunden stand.

„Es waren nicht Hindenburg und Ludendorff, aber auch nicht Graf Hertling oder Kühlmann, die Bernstorff gespickt haben mit Ideen zu einer amerikanischen Initiative. Es war überhaupt kein Mitglied der Regierung. Aber dennoch sprach er mit zwei bedeutenden Männern, mit zwei Spitzenvertretern der Wirtschaft, die wiederum über die Rückendeckung von zwei noch bedeutenderen Männern aus der Politik verfügten.“

„Sicher? Oder eher Gerüchte, Hoffnung, Legendenbildung?“

Edward House Einwurf erscheint Brandeis so despektierlich, dass er jeden Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Quelle ausräumen möchte.

„Nun, zu aller erst: Lord Melroy ist ein höchst vertrauenswürdiger Mensch. Auf ihn lasse ich nichts kommen.“

Oberst House wirft entwaffnet die Oberarme nach vorn und gibt sich gestikulierend geschlagen.

„Melroy hat die gleiche hohe Meinung von Bernstorff wie ich von Melroy.

Bernstorff nun beruft sich auf ein Kamingespräch in der Grunewalder Villa des Präsidenten der AEG, Herrn Doktor Walther Rathenau, an dem nur noch der berühmte Hamburger Reeder Albert Ballin teilnahm. Ich wiederum kenne Ballin von einer seiner ausgiebigen USA-Reisen. 1911 begegneten wir uns in Boston, hielten seitdem Briefkontakt und schätzen uns sehr. Ballin ist als Reeder natürlich ein Verfechter der offenen Meere, des freien Handels. Sein Freund Rathenau ist einer der mächtigsten Vertreter der deutschen Exportindustrie, deren Frontbranchen schließlich Chemie und Elektro sind.“

„Na ja, das gibt mir bisher nicht mehr als die Erkenntnis, dass diese Herren im Gegensatz zu den Junkern und Stahlbaronen mit ihren Kriegszielen unseren Vorstellungen sehr viel näher liegen dürften. Doch das besagt wenig über ihren Einfluss auf die Machthaber.“

„Du hast völlig recht, lieber Woody. Für die politische Dimension der Bernstorffschen Informationen ist Folgendes entscheidend: Rathenau und Ballin sind Berater von Stresemann und mehr als das, sie sind seine Freunde. Der Volkswirt Doktor Gustav Stresemann ist seit Juli Fraktionsvorsitzender der Nationalliberalen im Reichstag. Die wiederum sind die größte Regierungspartei und die politische Heimat aller auch nur irgendwie bedeutenden Industriellen des Reiches. Sie üben auf die Regierung einen größeren Einfluss aus als die Konservativen, das Sammelbecken der Junker.“

Oberst House fällt Brandeis ins Wort mit all seinen Zweifeln an der Berechenbarkeit der Machtverhältnisse in Deutschland.

„Ich habe aber gehört, die Militärs hörten viel lieber auf die Imperialisten von der Ruhr mit Stinnes und Hugenberg – auch Nationalliberale – als auf die Modernisierer von der Weltmarktfraktion in derselben Partei. Also heißt die Devise: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Stresemann ist nicht Reichskanzler und zusätzlich auch noch Vorsitzender einer innerlich hochgradig gespaltenen, vor der Zerreissprobe stehenden Industrieund Unternehmerpartei.“

„Hör mir bitte erst einmal bis zum Ende zu, Eddy. Bestimmt ist Stresemann nicht die Macht, die dem Reichskanzler die Politik diktiert. Aber Stresemann ist – ja das ist inzwischen sicher – der wichtigste Berater des Kronprinzen aus dem parlamentarischen Raum.“

Woodrow Wilson scheint genug von all zu optimistischen Einschätzungen über den Einfluss der Modernisierer in der Reichshauptstadt zu haben.

„Ach herrje, der Kronprinz! Der ist voraussichtlich noch schlimmer als sein Vater, was die Forderungen nach Land betrifft. Wilhelm soll Ludendorff nach dem Munde reden. Wenn das so ist, dann nützen alle Einflüsse eines Stresemanns gar nichts!“

Der Ausruf des Präsidenten bringt Brandeis kurzzeitig aus dem Konzept. Wie gerne hätte er jetzt in aller Ruhe seinen Gedankengang ausgebreitet und vollendet. Doch es hilft ja nichts. Woodrow ist hier der Chef. Also gilt es, ihn und nur ihn zu überzeugen. „Lieber Woodrow, es ist ein wenig anders. Bernstorff hat Melroy berichtet, dass die drei Herren Kronprinz Wilhelm, Generalquartiermeister Ludendorff und Stresemann unter vier Augen und auch unter sechs Augen miteinander sprächen. Das sei in 1917 des Öfteren geschehen. Von seiner Erziehung, seinen Werten ist Wilhelm erst einmal näher beim preußischen Heer als bei der Exportindustrie. Aber dieser Doktor Stresemann hat es offenbar verstanden, beim Kronprinzen den Keim des Zweifels auszusäen: Wird es dem mächtigen Deutschen Reich tatsächlich gelingen, alle seine Feinde militärisch restlos zu besiegen? Das schlösse inzwischen sogar mit ein, Briten und Amerikaner komplett aus Frankreich hinauszubefördern. Tritt dieser eher unwahrscheinliche Fall nun aber nicht ein, braucht das Reich einen Ausweg – wir würden sagen die Exit-Strategie. Das Reich braucht selber einen Friedensplan, der Verhandlungen erlaubt und in diesen dem Reich die Aussicht auf die Durchsetzung substanzieller Punkte ermöglicht. Bernstorff meint jedenfalls, beim Kronprinzen sei ein Denkprozess angestoßen worden, der vom Ende der denkbaren Ereignisse aus den ersten Monaten des Jahres 1918 her beginnt. Und am Ende steht nur für Ludendorff, dass die Armeen der Entente vor den Alpen aufgerieben werden. Für Stresemann dagegen steht dort ein großer internationaler Friedenskongress. In dem wird Deutschland einige Ziele durchsetzen können, aber eben nur dann, wenn sie in die moderne Weltordnung des 20. Jahrhunderts auch wirklich hinein passen.“

„Den Namen Stresemann werde ich mir ab jetzt merken!“

Der Präsident lächelt, faltet seine Serviette zusammen und erhebt sich vom Tisch, um den Speisesalon zu verlassen.

„Meine Freunde, im Oval Office warten noch einige große Aufgaben auf uns.“

Woodrow Wilson, Edward House und Louis Brandeis bedingen sich für gut zwei Stunden störungsfreie Ruhe und Arbeitsmuße aus. Aus Oberst House Feder fließt in dieser Zeit nahezu der vollständige, endgültige und druckreife Text der Wilsonschen 14 Punkte. Dann beraten die drei Freunde, wie die Friedensinitiative des Präsidenten der Weltöffentlichkeit passend und effektvoll übermittelt werden soll. Der Präsident verlangt einen Rahmen, der wie ein moralisches Fanal an die Krieg führenden Völker appelliert. Wenn schon der Inhalt seiner Friedensinitiative der Realpolitik und den diplomatischen Gepflogenheiten hohen Tribut zollt, so soll doch die Inszenierung für die Weltöffentlichkeit keine Wünsche, nämlich keinen seiner eigenen Wünsche offen und vor allem keinerlei Ansprüche der Verbündeten in London und Paris an demokratisch-freiheitlichem Pathos unerfüllt lassen. Louis Brandeis spricht laut denkend und bezeichnet eine Konferenz für die Washingtoner Presse als viel zu wenig. Edward House sinniert darüber, eine große Zahl geladener Gäste zu versammeln und ihnen die 14 Punkte vorzutragen. Dem Präsidenten gefällt das alles noch nicht.

„Am kommenden Dienstag nimmt der Kongress zum Jahresbeginn wieder seine Plenarsitzungen auf. Wie wäre es denn, wenn wir, die Ritter der Demokratie in diesem Krieg, vor dem amerikanischen Parlament das neue Friedensangebot offerierten? Die Idee ist schon ganz gut, aber so eine gewöhnliche Sitzung des Abgeordnetenhauses allein genügt mir eigentlich noch nicht.“

„Setz doch eins drauf, Woody. Lade doch das Abgeordnetenhaus und den Senat zu einer gemeinsamen Sitzung ein. Was könnte es Erhabeneres geben als Symbol und Repräsentation der amerikanischen Demokratie, als dass der Präsident vor beiden Kammern des Kongresses spricht!“

Der Vorschlag von Edward House wird sofort vom Präsidenten und auch von Louis Brandeis für gut befunden und angenommen. Für heute sind die drei Freunde sehr mit sich, mit dem Outcome ihres Treffens, ihrer Arbeit zufrieden. Es folgt die Verteilung der Aufgaben unter Einbezug des persönlichen Referenten des Präsidenten sowie seiner Sekretärin. Erst um 19 Uhr fühlt sich Woodrow Wilson von der Last der Vorbereitungen befreit, deren Organisation noch zwischen ihm und seiner Rede vor dem Kongress am 8. Januar gestanden hat.

Nachdem seine Mitarbeiter das Oval Office verlassen haben, bleibt der Präsident noch eine kurze Weile am Schreibtisch sitzen. Sein Blick richtet sich scheinbar starr auf die gegenüberliegende Wand, von der aus Woodrow Wilson der Staatsgründer George Washington von einem Porträt in stolzester Haltung anlächelt. Ganz unmerklich, dann klar und deutlich legt sich auch ein Lächeln auf seine Züge. Leise murmelt er nur für sich:

„Wir Amerikaner waren doch immer schon selbstbewusst genug, in guter Partnerschaft, aber doch auch im Eifer, unseren eigenen Weg zu finden, den Europäern einfach nicht alles so selbstverständlich nachzumachen!“

Jetzt greift der Präsident zu seinem schweren, schwarzen Füllfederhalter mit der weichen, breiten Miene. Als letzte Zeilen für seinen baldigen Auftritt vor dem Kongress schreibt er in fein säuberlicher Handschrift auf ein blütenweißes Blatt Papier, so dass er selbst kaum das Streichen der Füllermiene über die Blattoberfläche zu hören vermag:

„… Wir hegen keine Missgunst gegenüber deutscher Größe. Und da befindet sich nichts in diesem Programm, das sie schmälert.

Wir wünschen sie nicht zu beeinträchtigen oder in irgendeiner Weise den legitimen Einfluss und die Macht der deutschen Nation zu hemmen.

Wir streben nicht danach, weder mit Waffengewalt noch mit gegen sie gerichteten Handelsverträgen, deutsche Größe zu bekämpfen. Das gilt, falls die deutsche Nation willens sein möge, sich ihrerseits mit uns und den übrigen den Frieden liebenden Nationen der Erde zu verbinden in einem Vertragswerk, das gekennzeichnet ist von Gerechtigkeit, Recht und einem Achtung gebietenden Umgang miteinander.

Wir wünschen uns, dass die deutsche Nation einen Platz der Gleichheit unter den Völkern der Erde akzeptieren möge, der neuen Welt, in welcher wir jetzt bereits leben, anstelle eines Platzes der Herrschaft, der Überlegenheit.“

Mit diesem breiten Lächeln, voller Gelassenheit, voller Selbstzufriedenheit und Gewissheit, das unbedingt Richtige zu tun, schraubt Woodrow Wilson die Schutzkappe auf seinen Füllfederhalter und lässt sich ganz allmählich und entspannt in das tiefe Sitzpolster und in die hohe Rückenlehne seines Schreibtischsessels sinken.

7 Friede mit Russland

Wie durch einen schweren dunklen Schleier, der im Wind schwingt, nehme ich Bewegung vor meinen Augen wahr. Es treten Geräusche hinzu. Augenscheinlich ist mein Patientenzimmer randvoll mit Ärzten und Pflegepersonal gefüllt, die sich in mehr als nur Zimmerlautstärke unterhalten. Ich selbst bin ganz ruhig, so als bräuchte ich zum Leben nicht einmal mehr die rudimentärsten Körperfunktionen, wie das Atmen oder das Schlucken oder das Schlagen der Augenlieder. Als Nächstes geht mir auf, dass diese Untätigkeit nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein muss. Ich zwinge mich dazu, meine Erinnerung an Wilsons Erzählung über den Januar 1918 hinter mir zu lassen und in die Gegenwart des Septembers 1929 einzutauchen. Am besten wird wohl sein, Sinn erfassend den Gesprächsfetzen der eifrig um mein Wohlergehen besorgten Beschäftigten der Charité etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz allmählich schälen sich aus dem Geräuschwirrwarr die Stimmen von Professor Kraus und des jungen, freundlichen Stationsarztes heraus. Eine dritte Stimme erkenne ich. Es ist diejenige der resoluten Oberschwester, die dennoch nichts militärisches an sich hat. Kraus verlangt danach, dass man ihm Infusionen aufziehe und reiche. Der Stationsarzt misst scheinbar unaufhörlich und abwechselnd meinen Puls und Blutdruck. Die Oberschwester gibt knappe, präzise, dabei kaum laut geäußerte Anweisungen an das übrige Pflegepersonal im Raum. Aus einem Satzfetzen entnehme ich die Information, dass wir uns am späten Nachmittag des 30. Septembers befinden. Somit ist es einen Tag her, dass der Kaiser mich hier in der Charité besuchte.

Ganz vorsichtig öffne ich erst das linke, dann das rechte Auge. Mir starrt Kraus ins Gesicht. Auf mich wirkt es durchaus emotional und erleichtert als er ausruft:

„Herr Reichsaußenminister! Wie schön es ist, ihnen wieder in die wachen Augen blicken zu dürfen! Wir waren bisweilen nicht sehr hoffnungsvoll. Sie drohten uns zu entgleiten, denn, nun ja, sie hatten einen schweren Schlaganfall und wir mussten sie reanimieren. Bitte sorgen sie sich jetzt um überhaupt nichts, sondern erholen sie sich und kommen sie ein wenig wieder zu Kräften. Wir werden unentwegt ihre Körperfunktionen überwachen und sie mit Medikamenten versorgen, die das Herz-Kreislaufsystem so gut wie möglich stabilisieren werden.“

Ich lächele Professor Kraus an und möchte etwas sagen. Doch dies gelingt mir nach schmaler Öffnung der Lippen nicht. Mein Lächeln erstirbt.

„Ganz normal, ganz normal, lieber Doktor Stresemann. Das sind Wortfindungsstörungen, wie sie nach jeder Art der neurologischen Abnormalität auftreten, oftmals nur kurzzeitig. Die Sprache kommt am schnellsten wieder, wenn sie sich jetzt selbst so umfassend wie möglich schonen.“

Professor Kraus blickt den Stationsarzt an. Der wendet sich sogleich an mich.

„Wir haben ihre Gattin umgehend verständigt, Herr Reichsaußenminister, nachdem wir ihren Schlaganfall in den frühen Morgenstunden diagnostizierten. Sie wollte gleich kommen. Auf Anraten des Herrn Professors konnte ich sie allerdings davon überzeugen, dass es ihrem Gesundheitszustand mehr zum Wohle gereiche, wenn wir hier zuerst einmal unsere Arbeit leisten, sie betreuen und stabilisieren. Anschließend ist der Zeitpunkt für Besuch wieder gekommen. Schlafen sie sich jetzt erst einmal einige Stunden aus. Das entspannt. Wenn sie dann aufwachen, werden wir ihre Gattin fernmündlich unterrichten und ihr gerne die Möglichkeit einräumen, ins Klinikum zu ihnen zu gelangen.“

In meinem Kopf formt sich mühsam die Frage: Nur meine Frau verständigt? - Aussprechen kann ich die Worte nicht. Vielleicht sahen meine Gesichtszüge gerade eben verzweifelt oder ringend aus. Das genügte offenbar der Oberschwester, um annähernd zu erahnen, welcher Gedanke mir kam. In einem sehr kurzen Blickkontakt holt sie sich das Einverständnis des Chefarztes ein zu sprechen.

„Es haben weitere Personen in den letzten Stunden angefragt, ob sie Besuch empfangen könnten. Wir haben das selbstverständlich zu ihrem Wohle zurückgewiesen. Die fraglichen Personen waren ihr Sohn Wolfgang und erneut Seine Majestät, Herr Reichsaußenminister. Der Chef des Zivilkabinetts Seiner Majestät brachte die übergroße Ungeduld Seiner Majestät zum Ausdruck und trug uns auf, ihnen im Moment der Rückkehr ihres Bewusstseins die allerherzlichsten Wünsche zur Genesung auszurichten.“

Ich danke der Oberschwester mit einem kaum sichtbaren Nicken, einem deutlich kontrollierter ausgeführten Wimpernschlag und einem Hauch von Lächeln um meine Mundwinkel. Das genügt Professor Kraus für eine knappe Aufmunterung.

„So gefallen sie mir gleich wieder besser. Kopf hoch! Es geht wieder aufwärts! Verlassen sie sich darauf, dass wir alles unternehmen werden, das in unserer Macht steht, um ihnen zu helfen.“

Ich nicke ein weiteres Mal aus lauter Dank und schließe mit einem Schmunzeln die Augen. Für eine kurze Weile setzt sich der Geräuschpegel aus Stimmen in meinem Zimmer fort. Daraufhin tritt Stille ein. Ich sehe nur weiß. Meine Erinnerung gleitet durch die Zeiten.

Alles weiß sah ich ebenfalls am Nachmittag des 8. Januar 1918, als ich aus dem Fenster meines Büros im schräg gegenüber liegenden Reichstagsgebäudes blickte. Der Himmel war hellgrau. Wegen des Schneefalls wurde die Straßenbeleuchtung bereits gegen 14.30 Uhr eingeschaltet. Nach den Feiertagen war ich am 7. Januar in den Arbeitsalltag zurückgekehrt und las aufmerksam die Presse des europäischen Auslandes. Wien, Bern, Rom, Paris und London natürlich. Aus Petersburg drangen nur spärliche Nachrichten über die Hintergründe für die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen durch die Bolschewiki an unser Ohr.

Ich dachte zurück an das vorgestrige Telefonat mit seiner kaiserlichen Hoheit, dem Kronprinzen. Wilhelm höchst persönlich rief mich aus Schloss Cecilienhof in Potsdam am Tag vor seiner Rückreise an die Front an und teilte mir mit, wie geradlinig und aufmunternd der Kronrat vom 3. Januar verlaufen sei. Äußerst zufrieden zeigte er sich mit der einhelligen Handlungsmaxime von militärischer wie ziviler Reichsleitung, die Rückkehr der Russen an den Verhandlungstisch in Brest-Litowsk binnen Wochenfrist zu erzwingen. Anderenfalls stand nunmehr die harte Drohung im Raum, die am 14. Dezember eingestellten Kampfhandlungen wiederaufzunehmen. Das beherzte Auftreten Seiner Majestät habe, so der Kronprinz, mächtigen Eindruck auf den Reichskanzler und den Chef der Obersten Heeresleitung gemacht. Generalfeldmarschall von Hindenburg und Generalleutnant Ludendorff hätten ohne Murren den Befehl entgegengenommen, die Vorbereitungen für eine schnelle Besetzung russischen Gebietes zu treffen und zwar in dem Umfange, in dem wir den russischen Staat zukünftig nach Osten abgedrängt sehen wollten. Das schlösse zur Not die Besetzung Livlands und der Ukraine vollständig ein.

Ferner ließ sich Wilhelm II. von Ludendorff zum Stand der Generalstabsplanungen für eine Offensive im Westen berichten. Der Generalquartiermeister habe sich augenscheinlich regelrecht darauf gefreut zu diesem Thema vortragen zu dürfen. Er schilderte die Kampfkraft unserer Truppen in den buntesten Farben und nannte die Hoffnung, bis zu 100 Divisionen mit gut 1,5 Millionen Mann Mannschaftsstärke im Osten frei zu bekommen. Graf Hertling und Außenstaatssekretär Kühlmann meldeten Zweifel an, den riesigen osteuropäischen Raum dann noch mit den verbleibenden geringen Truppenkontingenten beherrschen zu können. Ludendorff habe sich daraufhin ein wenig unverbindlich aus der Affäre gezogen. Einerseits könne man die Österreicher um Unterstützung bitten. Andererseits sei die Truppenreduzierung doch ohnehin nur für kurze Zeit vorgesehen. Denn nach dem Sieg im Westen könnten schließlich Teile der Ostarmee im Herbst schon wieder in der Ukraine stehen, falls sich das als notwendig erweisen sollte.

Ich dankte seiner kaiserlichen Hoheit beinahe überschwänglich für seinen ausführlichen und farbenfrohen Bericht über die Sitzung des Kronrats. Dennoch blieb bei mir nach dem Telefonat ein fader Beigeschmack zurück. Die deutschen Kräfte waren arg begrenzt! Zwar stimmte die Qualität unseres hervorragenden Heeres nach wie vor. Aber das quantitative Übergewicht unserer Feinde nahm stetig zu. Das Ausscheiden Russlands aus dem Krieg würde dringend erforderlich werden, um in Frankreich eine möglicherweise bereits in 1918 von den Amerikanern getragene Offensive abzuwehren. Sicher würde es besser sein, dem Feind zuvorzukommen. Aber an jenem 8. Januar kam mir erstmals die Überlegung, dass eine Westoffensive die heute durchaus noch beeindruckenden deutschen Kräfte notwendigerweise schmälern musste. Würde das Reich früher oder später abwägen müssen, ob es klüger sein würde, alles in den Kampf zu werfen und dabei unsere Reserven aus dem Osten womöglich gefährlich zu verheizen? Oder aber ob es besser sein dürfte, dem Feind irgendwie eindrucksvoll die Zähne zu zeigen, aber unsere noch sehr starken Truppen eventuell eher dafür aufzusparen, dem immer mächtiger aufmarschierenden Feind den Vormarsch in Nordfrankreich wirkungsvoll verwehren zu können? Diese Abwägung fesselte mich. So schreckte ich auf, als der Pressereferent unserer Fraktion, der junge und sehr gedankenschnelle Karl Naumann, energisch gegen meine Bürotüre klopfte und um Einlass bat, um mir etwas mitzuteilen. Die Fernschreiber aus Washington meldeten Folgendes: Präsident Wilson habe heute Vormittag eine Rede vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses gehalten und darin eine neuartige Initiative zur Beendigung des Krieges ergriffen. Das Ziel des Präsidenten sei die Erreichung einer Friedenskonferenz auf Grundlage seines Manifestes. In 14-Punkten habe Präsident Wilson allgemeine und auch detaillierte Forderungen erhoben. Pressereferent Naumann sei jetzt darum bemüht, jene 14 Punkte zu recherchieren und dann den vollständigen Text der Proklamation zu erhalten.

Etwas benommen drückte ich unserem jungen, sehr guten und engagierten Pressereferenten meinen Dank für die umgehende Information aus. Die widersprüchlichsten Gefühle übermannten mich. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und stützte vor innerer Anspannung, die sich bis zur Erschöpfung steigerte, den Kopf in meinen beiden Händen auf. Hatte ich es doch gewusst: Die Amerikaner würden etwas Neues unternehmen! Das war an sich gut, weil es neue Anknüpfungspunkte für Gespräche schuf, wenngleich kaum zu erwarten war, dass man allen von Wilsons Kriegszielen selbst bei großzügigster Interpretation der Inhalte würde aus deutscher Sicht zustimmen können. Und ich ging einen Schritt weiter: Meine um die Westoffensive kreisenden Gedanken verstärkten in mir die Gewissheit, dass die deutsche Reichsleitung alles Erdenkliche tun sollte, um Wilsons Angebot zu analysieren. Das würde uns wohl zu der Erkenntnis gelangen lassen es sei gut, zwar vielleicht nicht heute oder morgen, aber sehr wohl nach einem Angst erfüllenden Säbelrasseln unserer 100 Divisionen Verstärkung aus dem Osten einen kreativen und vielleicht gar maßvollen eigenen Vorschlag für die Aufnahme von Verhandlungen zu unterbreiten.

Die Inszenierung Wilsons, seine Initiative in eine große Rede vor Repräsentantenhaus und Senat zu kleiden, imponierte mir und machte deutlich, dass dieser Präsident es wohl niemals würde lassen können oder auch nur wollen, sein Handeln als einen welthistorischen Kreuzzug für die Verbreitung der Demokratie herauszustellen. Dieser Propaganda würden wir Monarchisten in Deutschland vielleicht nie ganz das Wasser reichen können. Umso wichtiger war für mich am Abend des 8. Januar 1918, als ich vom Reichstag kommend bei meiner lieben Käte zu einer wärmenden und stärkenden Hühnerbrühe eingetroffen war, dass in Deutschland das allgemeine und gleiche Wahlrecht bald und uneingeschränkt zum Zuge käme. Als eine parlamentarische Monarchie würden wir mit Amerika sehr viel leichter auf Augenhöhe verhandeln können als eine Monarchie, die in den Staaten stets denunziert würde als Regime der Junker, Militärs und Zechenbarone. Für den kommenden Tag war die erste Sitzung meiner Fraktion im neuen Jahr anberaumt. Es gab wichtige Entwicklungen zu erörtern: Den Kronrat, Wilsons 14 Punkte, vielleicht auch Neuigkeiten von den Verhandlungen in Brest-Litowsk. Schließlich war Lenins vertrauter Leo Trotzki dort als Verhandlungsführer der Bolschewiki am 7. Januar eingetroffen, um Joffe abzulösen. Mich überfiel die Müdigkeit, als ich in meinem Arbeitszimmer zu Hause Aufzeichnungen für meine morgige Sitzungsleitung machte. Anschließend schlief ich in der Gewissheit tief und fest ein, dass 1918 das bislang wohl wichtigste Jahr des noch jungen 20. Jahrhunderts zu werden versprach. Chancen und schier unlösbare Aufgaben lagen dabei sehr nahe beieinander. Der darauf folgende Tag sollte ein wichtiger Tag für meine Verarbeitung der Nachricht von Wilsons 14 Punkten werden. Ich konzentriere mich darauf, was sich im einzelnen damals ereignete, nachdem ich am Morgen des 9. Januar 1918 in den Reichstag gefahren war.

Oberst von Gilsa stürmt in den Sitzungssaal der Nationalliberalen Fraktion und direkt auf mich zu. Er ist einer der typischen Parteigänger der Schwerindustrie aus dem Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet. In seinem Fall ist das sogar gänzlich offenkundig und aller Welt bekannt, da er in einer Zeit ohne Reichstagsmandat unmittelbar vom Oberhausener Konzern Gutehoffnungshütte eine Vergütung bezog. So wundert es niemanden in meiner Fraktion, wenn von Gilsa und andere bei Kriegszieldiskussionen stets den schärfsten Ton anschlagen, die umfassendsten territorialen Forderungen erheben und es vor allem auf das französische Erzbecken von Longwy / Briey abgesehen haben. Jedenfalls berichtet mir von Gilsa über ein Telefonat, dass er gestern spät mit seinem Kameraden Oberst Bauer von der OHL in Spa geführt habe.

„Dieser Trotzki ist eine Unverschämtheit und ein Teufelskerl in einer Person! Bei der Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen führt er unsere Delegation offensichtlich an der Nase herum. Ellenlange Reden über die zugegeben beklagenswerte Lage der arbeitenden Massen in Russland lässt er enden in der Erwartung baldiger Arbeiterunruhen auch bei uns im Reiche. Und auf die Frage nach den Friedensbedingungen, die seine Regierung zu akzeptieren bereit sei, geht er mit keinem Sterbenswörtchen ein. Genauso schlimm ist indes, dass die Arbeiter im Industriegebiet an der Ruhr tatsächlich in vielen Werken mit der heutigen Frühschicht in den Ausstand getreten sind. Ich versicherte mich darüber gleich fernmündlich. Die Zentralverwaltung der Gutehoffnungshütte in Oberhausen wusste schon von Arbeitsniederlegungen bei Thyssen in Hamborn und bei Hoesch in Hörde. Auch bei Krupp soll es los gehen. Nur bei der GHH selbst blieb alles vorläufig noch ruhig.“

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Altersbeschränkung:
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Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
1251 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783874683647
Rechteinhaber:
Автор
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