Pommerles letztes Schuljahr

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Pommerles letztes Schuljahr
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Magda Trott POMMERLES LETZTES SCHULJAHR

1
Freuden winken

Die Turmuhr schlug gerade acht, als Pommerle das Hirschberger Gymnasium betrat. Mit lauten Zurufen wurde sie von den Klassenkameradinnen, die vollzählig zur Stelle waren, empfangen. »Pommerle wäre beinahe zu spät gekommen! – Das ist doch sonst nicht deine Sache!«

Das sechzehnjährige blonde Mädchen mit den blitzenden Blauaugen und dem vollen, rotwangigen Gesicht lachte. »Ich komme nicht zu spät. Montag früh beginnt der Unterricht erst zehn Minuten nach acht.« Mit diesen Worten schlenderte Pommerle zu ihrem Platz. Dort lag ein kleines Sträußchen Herbstastern. »Einer deiner Verehrer«, rief ihr übermütig die schlanke Grete zu.

Pommerle sah sich im Kreise um. Am Katheder standen die sechs Schüler; sie nahmen keinerlei Notiz von ihren Kameradinnen. Sie waren eifrig in ein Gespräch vertieft.

»Heißen Dank dem, der mich mit den Blumen erfreute«, rief Pommerle hinüber, »ein zweitesmal wird es mich nicht erfreuen. Es geht auf Ultimo, und ihr habt alle wenig Geld. Laßt es also in Zukunft sein!«

Die Jünglinge schienen nichts zu hören. Nur das Gesicht des einen färbte sich dunkelrot. »Seht euch doch den Wilhelm an, wie er jetzt erröten kann!« rief die übermütige Karin Rauke.

Der Geneckte drehte den Mitschülerinnen den Rücken zu, aber die Mädchen brachen trotzdem in lautes Lachen aus. Nur Pommerle winkte abwehrend mit der Hand. Sie wollte nicht, daß einer ihrer Mitschüler beschämt werde.

»Ja, du hast es gut«, meinte Ilse Torlege, »bald findest du einen Bonbon unter deinem Pult, bald sind es Blumen. – Du hast eben keine Feinde, nur Freunde!«

»Das wäre schlimm«, gab Pommerle zurück. »Ein Mensch, der keine Feinde hat, hat auch kein Mark in den Knochen. Das ist ein Kriecher, und ich bin kein Kriecher. – ›Viel Feind – viel Ehr‹, sagt, ich glaube, Goethe!«

»Bei dir ist es immer Goethe, Pommerle! Ein anderer Dichter sagt doch auch mal was!«

»Ach ja, Goethe«, klang es kleinlaut von Pommerles Lippen. »Heute müßt ihr mir einen großen Liebesdienst erweisen. Ich habe das Gedicht, das wir für heute aufbekamen – nicht gelernt.«

»Red’ keinen Quatsch, Pommerle«, rief Ilse. »Du bist die einzige von uns, die immer lernt.«

»Ich habe es wirklich nicht gelernt. Gestern wollte ich es noch tun, da kam der Brief vom Jule. Über der Freude, die er mir machte, habe ich es vergessen. Erst heute früh habe ich wieder daran gedacht.«

»Der Jule – der Jule!« klang es übermütig im Kreise. »Jule, der fabelhafte Soldat mit dem silbernen Winkel! – Er sitzt doch in Glogau?«

»Wer ist denn Jule?« fragte eine Klassenkameradin, die erst kürzlich in die Sekunda des Hirschberger Gymnasiums eingeschult worden war.

»Jule ist Pommerles Kindergespiele, Freund, Verehrer. Jetzt Tischler in Glogau, war Unteroffizier beim Militär und bildete sich ein, alle Mädchen verrückt zu machen. Ein fauler Schlingel …«

»Halt, Karin, du darfst den Jule nicht schelten! – Ich will dir sagen, Irma, wer der Jule ist. – Als ich als kleines Mädchen von meinen jetzigen Eltern nach Hirschberg genommen wurde – meine Mutter war schon lange tot, mein Vater ertrank in der Ostsee –, war der Jule mein erster Helfer und Freund. Ein prächtiger, gutmütiger Bursche! Für meinen Vater, der, wie du weißt, Bücher über Steine und Gebirgspflanzen schreibt, schleppte er allerlei Gestein herbei. Gewiß, faul war er, gelernt hat er nicht viel in der Schule, aber ein tüchtiger Tischler ist er geworden. Und dieser Jule, der auch als guter Soldat galt, ist fest längerer Zeit in Glogau, bei Tischlermeister Rispe. Er hat dessen Tochter gesehen und will sich nun mit ihr verheiraten. Am achtundzwanzigsten Dezember ist Hochzeit, und dazu bin ich eingeladen!«

»Oh, fein«, rief Karin Rauke, »du hast es gut! Zu einer Hochzeit möchte ich auch gern mal fahren!«

»Ich habe mich über seinen Brief so sehr gefreut, daß ich alles vergaß. Sogar das Goethesche Gedicht habe ich nicht gelernt.«

»Ist nicht so schlimm«, beruhigte Ilse Torlege, »unser Studienrat fragt dich doch nicht. Er weiß, daß du immer gewissenhaft lernst. Den ersten Vers von dem Gesang der Geister, den kennt man ja.«

»Und den letzten kennen wir auch«, rief die faulste der Klasse, Maria Bergell. »Was dazwischen liegt, ist uns schnuppe!«

Ilse Torlege hatte sich an Pommerle herangeschlängelt. »Du, Pommerle«, sagte sie flüsternd, »ich habe heute auch noch eine riesige Freude für dich. – Na, du wirst staunen! Gestern wurde der Plan von meinen Eltern ausgeheckt. – Herrlich! – Wenn ich das Gedicht nicht schon am Sonnabend gelernt hätte, würde ich es heute auch nicht können.«

»Eine Freude für mich?«

»Eine riesige Freude!«

Pommerle klatschte übermütig in die Hände. »Da winken mir ja wieder mal eine Menge Freuden. – Komisch, bei mir kommt eine Freude nie allein! Erst das Sträußchen, dann die Einladung vom Jule und was hast du denn für eine Freude?«

Die Tür öffnete sich, Studienrat Sammtner trat ein. Die Sekundaner begaben sich an ihre Plätze, und bald herrschte tiefe Stille im Klassenzimmer. »Was hat er denn?« flüsterte Karin Pommerle zu. »Er ist so unruhig.«

»Wer weiß, wie er den Sonntag verbracht hat.«

Umständlich putzte Studienrat Sammtner seine goldene Brille, legte die Bücher zurecht, schlug sie wieder zu, dann erst begann er mit dem Unterricht. »Sie hatten den ›Gesang der Geister über den Wassern‹ zu lernen. Ich habe Ihnen dieses Goethesche Gedicht in der letzten Stunde ausführlich erklärt. – Maria Bergell, bitte, beginnen Sie!«

»Ausgerechnet ich …«, murmelte das junge Mädchen, warf der neben ihr sitzenden Klassenkameradin einen hilfesuchenden Blick zu und begann:

»Des Menschen Seele gleicht dem Wasser:

Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es.

Und – und – und …

So sag’ doch was, Edith!«

»Und wieder nieder, zur Erde muß es, ewig wechselnd.«

Maria Bergell reckte sich ein wenig höher: »Zum Himmel steigt es, zur Erde fällt es nieder Edith, wie war es?«

»Ich sehe mit Bedauern, Maria Bergell, daß Sie wieder einmal nichts gelernt haben. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Hanna Bender, die gewissenhaft alle Aufgaben erledigt. Lassen Sie sich von ihr beschämen. Hanna, bitte, sagen Sie das Goethesche Gedicht.«

Es war Pommerle, als gieße man einen Eimer kaltes Wasser über sie aus. Gewiß, sie lernte immer, es machte ihr auch Freude. Aber diesmal war eben Jules Hochzeitseinladung dazwischengekommen, und das Gedicht war vergessen worden zu lernen. Nein, nicht vergessen. Pommerle meinte, daß es schon einmal glücken werde. Man fragte sie so selten. – Nun hatte sie sich verrechnet. Studienrat Sammtner stellte sie als leuchtendes Vorbild hin, und sie wußte nichts als den ersten Vers und die letzten Zeilen.

War es nicht am richtigsten, wenn sie aufstand und ehrlich ihre Trägheit bekannte? Sollte sie sich von allen die Verse zurufen lassen? Man würde es gern tun, keiner ließ sie im Stich. Aber das war beschämend; Studienrat Sammtner merkte es sofort, wie er es auch bei Maria Bergell gemerkt hatte.

Karin begann plötzlich einen Zettel zu beschreiben. In größter Hast schrieb sie das Gedicht nieder, um diesen Zettel dann mit einer Stecknadel an den Rücken des vor ihr sitzenden Fritz zu heften. Aber soviel Zeit war ja nicht, um das ganze Gedicht niederzuschreiben.

Langsam, zögernd stand Pommerle auf. Ihr frisches Gesicht war dunkelrot:

»Des Menschen Seele gleicht dem Wasser:

Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es,

Und wieder nieder zur Erde muß es,

Ewig wechselnd.«

Ein Klopfen an der Tür ließ Pommerle einhalten. Außerdem wußte sie ja nicht weiter. Hilfesuchend blickte sie auf Karin, die noch immer schrieb. Der Briefträger betrat das Zimmer. »Herr Studienrat Sammtner?«

»Der bin ich!«

»Ich habe einen dringenden Brief, den ich nur persönlich abgeben darf.«

»Danke – danke! Ich habe diesen Brief schon seit einer Stunde erwartet. – Danke – danke!«

Der Postbote entfernte sich wieder. Der Studienrat wog den Brief nervös in der Hand. »Hanna Bender, bitte, fahren Sie fort!«

Es war Pommerle, als klapperten ihr die Zähne. Sie sah, wie Sammtner das Schreiben öffnete und sich in dessen Inhalt vertiefte. »Fang’ doch noch mal von vorne an«, raunte ihr eine Klassenkameradin zu.

»Des Menschen Seele gleicht dem Wasser:

Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es,

Und wieder nieder zur Erde muß es,

Ewig wechselnd.«

Da saß Pommerle schon wieder fest. Sie blickte gespannt auf den Studienrat. Der Brief schien von höchster Wichtigkeit zu sein. Undeutlicher als zuvor begann Pommerle, möglichst dumpf wieder den ersten Vers zu sagen.

Karin kicherte. »Wenn du das noch zweimal machst, und er merkt nichts, bist du gerettet.«

Der erste Vers wurde zum dritten Male wiederholt. Gerade als Pommerle fertig war, faltete der Studienrat das Schreiben zusammen und hob den Kopf. Da erinnerte sich Pommerle der letzten vier Zeilen und schmetterte mit erhobener Stimme:

»Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser!

Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!«

Das bekannte Zitat wußte Pommerle seit langem. Was würde nun der Studienrat sagen?

»Sehr gut, Hanna Bender. Ich wiederhole, Sie können sich ein Beispiel daran nehmen, Maria Bergell.«

Pommerles Herz begann zu hämmern. Es widerstrebte ihr, ein unverdientes Lob hinzunehmen. Schon öffneten sich ihre Lippen, um alles zu gestehen. Da wurde sie von Karin auf ihren Platz niedergezogen.

»Sei nicht dämlich, Pommerle, du lernst es ein anderes Mal!«

 

»Peinlich ist es!«

»Quatsch, Pommerle! Wer immer so gewissenhaft lernt wie du, kann sich einmal einen kleinen Schwindel leisten.«

Aber Pommerle litt während der ganzen Stunde an der Unwahrheit, und immer wieder kam ihr der Gedanke, dem Studienrat alles zu erzählen. Aber Karin und Ilse Torlege ahnten, was in Pommerle vorging. Als die Stunde beendet war, hatte Pommerle das abermals durchgesprochene Gedicht längst gelernt und hielt es nun selbst nicht mehr für nötig, ihr begangenes Unrecht einzugestehen.

»Jetzt kann ich es auch«, sagte Maria. »Ihr seht wieder einmal, wie zwecklos es ist, seine Freizeit zu opfern. Es genügt, wenn man in der Klasse aufpaßt. Und wenn ich wirklich diesen Gesang der Geister nicht kenne – was schadet das? Ich habe ohnehin für Geister nichts übrig! Ich halte mich lieber an Menschen von Fleisch und Blut!«

Am heutigen Tage hatte Pommerle Mühe, aufmerksam zu sein. Immer wieder mußte sie an Jules Einladung zur Hochzeit denken. Hinzu kam die Neugierde. – Welche Freude würde ihr Ilse Torlege in der großen Pause zu melden haben? Die Klassenkameradin machte dauernd Andeutungen, daß es sich um etwas Besonderes handle, etwas, was Pommerle noch nie erlebt habe.

»Ich habe eigentlich schon sehr vieles erlebt«, philosophierte Pommerle. »Als kleines Mädchen wurde ich von dem guten Professor Bender vom Ostseestrande nach Hirschberg geholt, aus dem Fischerkinde Hanna Ströde ist eine Hanna Bender, ein Pommerle, geworden. Ich durfte meine liebe Ostsee wiedersehen, ich durfte mit meinen neuen Eltern nach der Schweiz reisen. Vor fünfzehn Monaten bin ich mit Gartenbaudirektor Olfert von Erfurt im Auto durch schöne Gegenden gefahren, habe den herrlichen Park von Schwetzingen und andere sehenswerte Gärten bewundern dürfen. Immer habe ich Gutes und Liebes erfahren, jeder bereitete mir Freuden. Nun kommen noch neue Freuden hinzu. Ich bin vom Glück begünstigt. Ich werde eine tüchtige Gärtnerin werden, weil ich dazu Lust und Talent habe. – Was sagt Schiller? – ›Mir grauet vor der Götter Neide; des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil‹!«

»Was quasselst du schon wieder, Pommerle? Wovor graut dir?«

»Ach, Karin, ich bin heute voller Glück und Freude.«

»Ich glaube, du bist in deinen Jule restlos verliebt!«

»Nein, verliebt bin ich nicht. Aber ich liebe ihn wie einen Freund und Bruder, und auf die Hochzeit freue ich mich furchtbar!«

»Ilse sagte mir, sie habe nachher eine Freude für mich.«

»Für dich auch?«

»Ich kann’s mir schon denken. Wahrscheinlich kommen ihre Brüder Herbert und Wolf aus Breslau herüber. Du weißt, die beiden Studenten. Für den Herbert schwärme ich doch!«

»Natürlich kommen sie zu Weihnachten heim. Das wäre für die Familie Torlege eine Freude, aber nicht für mich.«

»Du bist ein merkwürdiges Mädel, Pommerle. Wir mit unseren sechzehn Jahren haben doch die Berechtigung, für Studenten zu schwärmen. Dir hat eben Jule den Kopf verdreht, einen anderen willst du nicht. Sogar den langen Anton läßt du abblitzen.«

Pommerle lachte. »Mir sind die Blumen lieber als die Jungen.«

»Lieber Gott, du kannst doch keine Tulpenzwiebel heiraten! Ich halte es für richtiger, schon mit sechzehn Jahren ein bißchen was fürs Herz zu haben. Das möbelt auf. Und die erste Zeit der jungen Liebe beginnt mit sechzehn Jahren. Also, richte dich danach.«

»Meinetwegen«, meinte Pommerle, »vielleicht kommt mal einer, den ich auf den ersten Blick liebe. Vorläufig habe ich noch keinen gefunden.«

»Weil dich alle lieben! Aber du bist kühl wie eine Gletscherjungfrau. Da nennt dich unser Bürgermeister nun das reizendste Mädchen von Hirschberg, aber dein Herz ist und bleibt kalt.«

Wieder lachte Pommerle. »Mein Herz ist nicht kalt, mein Herz ist voll von Glück und Freude. Wer hat es denn so gut wie ich? Wenn du meinst, man braucht etwas zum Lieben – oh, ich liebe meine Eltern, euch alle, viele gute Bekannte, meinen Garten, die Vöglein in der Luft und die Steine, über die mein Vater schreibt!«

»Pommerle, du bist ein Schaf!«

Endlich kam die große Pause. Karin und Pommerle neigten sich zu Ilse Torlege. Sie waren recht neugierig auf die Freude, die ihnen winkte.

»Also hört zu«, begann Ilse, »es wird etwas ganz Großes! Meine Eltern haben beschlossen, einen Maskenball zu geben. Platz genug haben wir in unserer Villa.«

»Einen Maskenball?« riefen Pommerle und Karin wie aus einem Munde. »Herrlich – göttlich!«

»Jawohl, es dürfen nur Masken herein. Jeder versteckt sein Gesicht unter einer Larve! Das gibt einen Spaß! Man kann allen denen, die man nicht leiden kann, ein Schnippchen schlagen. Ich habe mir das Fest von den Eltern zu Weihnachten gewünscht, und meine beiden Brüder, die in Breslau studieren, haben ebenfalls um das Maskenfest gebeten.«

»Wann ist es denn? – Bald?«

»Nein, Pommerle! Der Maskenball wird in die Faschingszeit gelegt.«

»O weh«, meinte Pommerle nachdenklich. »Zu Ostern ist Versetzung. Meine Eltern meinen, man dürfe sich in den Monaten vorher nicht zu sehr zerstreuen.«

»Du brauchst doch wegen der Versetzung keine Sorgen zu haben, Pommerle! Du bestehst ganz bestimmt. Und da wir alle abgehen, ist es nicht so schlimm.«

»Wann soll der Maskenball steigen?« drängte Karin. »Wahrscheinlich im Januar. Ich wollte es euch aber schon jetzt sagen, damit ihr euch zu Weihnachten ein schönes Kostüm wünschen könnt. Ich will mich ganz besonders hübsch machen. Also überlegt beizeiten, als was ihr gehen wollt.«

»Wer wird denn eingeladen?« forschte Karin.

»Die Eltern haben mir gesagt, ich kann zwei meiner besten Freundinnen einladen, und die seid ihr. Eure Eltern werden auch eingeladen, denn unsere Familien kennen sich seit vielen Jahren. Dann kommt Direktor Monno von der Zellwollfabrik mit seiner Frau, unser Bürgermeister und ein Freund meines Bruders Herbert. Soll ein fabelhafter Mann sein, ein schwarzlockiger Grieche. Herbert schwärmt von Enrico Madeni.«

»Du, Ilse, den reserviere für mich«, rief Karin, »ich fühle schon jetzt einen eigenartigen Schauer am Rücken hinabrennen, wenn ich den Namen Enrico Madeni höre.«

»Ich wollte den Enrico eigentlich für mich behalten. Du kannst meinen Bruder haben, für den schwärmst du doch auch.«

»Freilich – aber Enrico Madeni klingt besser als Herbert Torlege.«

»Last mir den Enrico, Karin. Wenn du aber meines Bruders überdrüssig bist, bekommst du den Scheitelaffen.«

»Wen?« fragte Pommerle.

»Ich wollte ja nicht, daß der Scheitelaffe und das Stinktier eingeladen werden. Aber Vater meinte, er müsse es tun. Na, wir brauchen uns ja um beide nicht zu bekümmern. Es sind noch genug andere junge Mädchen vorhanden, zu denen die beiden passen.«

»Wer sind denn Scheitelaffe und Stinktier?«

»Zwei Ingenieure aus der Fabrik. Der Scheitelaffe heißt eigentlich Doktor Alfons Versen. Er ist ein eitler Mensch, trägt die Haare in der Mitte gescheitelt. Tagsüber soll er sich drei- oder viermal den Scheitel neu ziehen. So nannte man ihn den Scheitelaffen.«

»Und das Stinktier, Ilse?«

Karin lachte übermütig. »Den kenne ich auch schon. Er bespritzt sich täglich mehrmals mit Wohlgerüchen. Das ist der Lorenz Brunner. Sonst ein netter Mensch, aber er stinkt eben immer nach Veilchen, Maiglöckchen …«

»Veilchen oder Maiglöckchen stinken nicht«, fiel Pommerle ein, »sie haben einen süßen Duft.«

»Na, da haben wir ja einen Tänzer für dich, Pommerle. Brauchst nur von Maske zu Maske zu gehen und zu riechen. Derjenige, der nach Wohlgerüchen stinkt, ist Ingenieur Lorenz Brunner.«

»Kannst dich ruhig in ihn verlieben, Pommerle, damit du auch mal was fürs Herz hast.«

»Das brauche ich nicht! Aber auf den Maskenball freue ich mich furchtbar. Noch nie habe ich einen Maskenball mitgemacht. Und die Eltern müssen auch maskiert erscheinen?«

»Alle dreißig Geladenen! Sonst wird keiner hereingelassen.«

»Da werde ich für Väterli und Mütterchen etwas Schönes ausdenken.«

»Unsinn, Pommerle«, tadelte Ilse, »du darfst die Maskenkleider deiner Eltern auch nicht kennen. Es macht viel mehr Spaß, wenn man seine Angehörigen sucht.«

»Dann sage ich auch nicht, als was ich gehe!«

»Nein, das muß strengstes Geheimnis bleiben!«

»Ja – dann kann ich mir doch das Kleid nicht zu Weihnachten wünschen.«

»Das brauchst du auch nicht. Du läßt dir ein Kleid außer dem Hause nähen, ziehst es dann heimlich an.«

»Herrlich, herrlich«, jubelte Pommerle. »Ilse, das ist wirklich eine große Freude, die uns wieder bevorsteht! Erst die Hochzeit des Jule, Ende Dezember. Kaum ist diese Freude ein wenig verklungen, bimmelt schon wieder eine neue: der Maskenball!«

»Wir werden schon unseren Spaß haben! – Ich sage euch ganz bestimmt nicht, was ich für ein Kleid wähle.«

So kamen die drei Freundinnen überein, die Vorbereitungen zu dem Maskenball mit aller Heimlichkeit zu betreiben. Den Eltern würden sie es freilich schon heute sagen, daß bei Fabrikbesitzer Torlege Anfang Januar ein solches Fest stattfände, zu dem dreißig Personen geladen waren.

Pommerle konnte heute das Ende des Unterrichts kaum erwarten. Dutzende von Maskenkleidern tauchten vor ihrem Geiste auf. – Als was sollte sie gehen?

Karin Rauke flüsterte Pommerle auf dem Heimwege zu: »Ich verrate zwar nicht, als was ich gehe, aber ich weiß es schon! Enrico Madeni ist Grieche, ich glaube, er wird sich einer schönen Griechin zuerst nähern.«

»Nun weiß ich ja, als was du gehst.«

Karin schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Ach, ich bin ein Dusel! Aber schwöre mir, Pommerle, daß du mich nicht verraten wirst. Weißt du, ich schwärme für Enrico Madeni! Ich fühle schon heute, daß er schicksalhaft in mein Leben eingreift.«

»Rede keinen Unsinn, Karin – du kennst ihn ja noch nicht!«

»Aber ich werde ihn kennenlernen. Du weißt, in der Schule habe ich von jeher für griechische Helden geschwärmt. Für diese schönen, gertenschlanken Männer mit den melancholischen Augen und der melodischen Stimme. Es wird ein wunderbares Fest werden!«

Pommerle hatte das Haus der Eltern erreicht. Schon als sie durch den Vorgarten eilte, ließ sie ihre ›Fanfare‹ ertönen. Es war eine Tonleiter aufwärts und abwärts.

Professor Bender hörte das Signal und schmunzelte. Sein Liebling schien wieder in recht froher Stimmung zu sein. Natürlich, die Einladung zu Jules Hochzeit wirkte wohl noch nach. Da stand Pommerle auch schon in seinem Zimmer. »Väterli – die Freuden werden eimerweise über mich ausgeschüttet! – Denke mal, wir gehen alle zum Maskenball!«

Stürmisch umschlang das junge Mädchen den Vater. Zärtlich erwiderte Bender die Liebkosungen der vor zehn Jahren von ihm angenommenen Tochter. Noch zu keiner Stunde hatte er es bereut, dieses prächtige Mädchen an Kindesstatt angenommen zu haben. Pommerle brachte Freude und Sonne in sein Haus, das sonst wahrscheinlich recht still gewesen wäre.

»Also eimerweise schüttet man die Freuden über dich aus?«

»Ja, Väterli! Ich freue mich auf die Hochzeit, freue mich auf den Maskenball! Ich werde noch ganz übersättigt werden!«

»Nach den Freuden kommen dann Pflichten und Arbeit, Pommerle.«

»Ja – Versetzung und Schulabgang, dann das Pflichtjahr – dann meine Lehrzeit als Gärtnerin. Ich finde, das sind auch Freuden, Väterli. Meinst du nicht?«

»Ja, Pommerle, wenn man treue Pflichterfüllung für Freude ansieht, ist es gut. Dann wird auch die schwerste Arbeit leicht. – Und nun sage mir endlich – was ist das für ein Maskenball?«

»Bei Fabrikbesitzer Torlege in der Villa«, sprudelte es heraus. »Dreißig Menschen werden eingeladen. Ihr und ich, Karin Rauke mit den Eltern, dann kommen die beiden Brüder der Ilse, die Studenten, der Bürgermeister, Direktor Monno und andere Leute, die wir auch kennen, und dann noch ein Grieche. Es soll ein fabelhafter Mann sein, schlank wie ’ne Tanne, mit schwarzen großen Sternenaugen und … hahaha, Väterli, der Scheitelaffe und das Stinktier!«

»Pommerle!«

»Stinktier klingt etwas gewöhnlich. Sagen wir: der Skunks! Weil er sich mit allerlei Wohlgerüchen einschmiert. Es ist ein Ingenieur aus der Torlegeschen Fabrik. Seinen Namen habe ich vergessen.«

»Und der Scheitelaffe?«

»Auch ein Ingenieur, der sich immerfort frisiert.«

»Ich finde es nicht gerade schön, Pommerle, daß ihr Lästermäuler junge Herren mit derartigen Ausdrücken belegt.«

»Ach, Väterli, sie haben dich ja auch mal den ›Klamotten-Bender‹ genannt, und du hast dich darüber nicht geärgert. Da wird es dem Scheitelaffen und dem Skunks auch nichts schaden. – Väterli, du mußt auch maskiert kommen. Was wirst du denn anziehen? Ich sage euch nicht, was ich anziehe. Ihr könnt mich dann suchen! Ach, es wird herrlich sein!«

 

»Hast du denn schon die Erlaubnis erhalten, Pommerle?«

Strahlend schaute sie in die Augen des Vaters. »Ich wünsche sie mir herzlich zu Weihnachten. Verdient habe ich die Freuden eigentlich nicht, denn heute habe ich einen riesigen Betrug verübt.«

»Was hast du denn angestellt?«

Pommerle berichtete ehrlich. Sie schob alle Schuld der Hochzeitseinladung in die Schuhe. »Nun«, meinte Professor Bender, »da wirst du wohl in der Freude auf das Maskenfest noch manchmal vergessen, deine Aufgaben zu erledigen?«

»Nein, Väterli, ich habe mich mächtig geschämt! Es war wirklich Pech, daß ich an die Reihe kam und er mich vorher lobte. Das war eine Gemeinheit des Schicksals! – Ja, ja, Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser, Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!«