Die Brille des Nissim Nachtgeist

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Die Brille des Nissim Nachtgeist
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Über dieses Buch

Lisette, eine junge Hamburgerin, emigriert im Sommer 1934 aus politischen Gründen nach ­Zürich, wo sie Arbeit und Un­ter­kunft in der ­Pension Comi findet. Diese wird vom russisch-jüdischen Ehepaar Paksmann geführt, das einst selbst geflüchtet ist und sich den immer zahl­reicher eintreffenden Flüchtlingen verbunden fühlt. In der Pension kommt auch Nissim Nachtgeist unter, Jurastudent aus Deutschland, der gerne Schauspieler geworden wäre und nun ­illegal Schweizer Berufsmäntel näht. Aber auch ­Signora Teresa mit den leuchtenden roten Haaren, Jüdin und ausgestossen aus der Kommunistischen Partei, Oberregierungsrat Eiser, der alle, die nach ihm angekommen sind, als ­persönliche Bedrohung empfindet und Vicky, «eine Achtel­jüdin» aus dem Rheinland, die samstags die ­Damen der Pension mit einer Schönheitspflege verwöhnt, leben hier.

Die Pension Comi hat es tatsächlich gegeben, und Lotte Schwarz erzählt die Geschichten der Menschen, die dort Vertreibung und Krieg zu überstehen und jene im Gastland geforderte seelische Schwerarbeit zu leisten versucht ­haben: «Hoffen, warten, dankbar bleiben.»


Lotte Schwarz (1910–1971), wuchs in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie in Hamburg auf. Erst Dienstmädchen, später Biblio­thekarin. Engagierte sich bei den Guttemplern, der Frauenbewegung und den antistalinistischen Roten Kämpfern. 1934 emigrierte sie in die Schweiz, wo sie zunächst wieder als Dienst­mädchen arbeitete. Von 1938 bis 1948 Biblio­­thekarin im Schweize­rischen Sozialarchiv in Zürich. Danach freiberuflich als Werbe­texterin und Autorin tätig.

Lotte Schwarz

Die Brille des Nissim Nachtgeist

Roman

Die Emigrantenpension Comi in Zürich 1921–1942

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christiane Uhlig

Limmat Verlag

Zürich

In Abrahams Schoss

Die Ankunft stand im Zeichen der Geduld: «Pension Comi», sagte eine singende Stimme ins Telefon, «nein, Frau Paksmann ist noch nicht zurück aus dem Spital, bitte, wollen Sie sich noch einen Tag gedulden?»

Pension Comi – ein lustiger Name, der für meine Ohren ungarisch tönte. Ich verliess die Telefonkabine in der Bahnhofshalle, nahm meinen Koffer und ging auf die breite Strasse zu, die Bahnhofstrasse, wie mir Paul gesagt hatte, und die direkt zum See führe.

Mit den Augen des Dienstmädchens sah ich, dass hier gepflegt wurde, was sich pflegen liess. Für die kommende Nacht musste ich ein billiges Hotel finden; woran sollte ich erkennen, dass es billig ist, wenn alle gleich sauber waren? Die Strasse verbreiterte sich gegen den See zu einem Park, in dem musiziert wurde. Ich war den freundlichen Tönen, die mir nun in den Melodien der Barcarole entgegen kamen, schon eine Weile gefolgt. Um einen erhöhten, überdachten Pavillon standen viele Leute, die den Musikern und ihrem wippenden Dirigenten Beifall klatschten. Das Klatschen glich dem knatternden Anflug von Tauben. Ich zögerte, mich unter die Leute zu mischen, und steuerte auf eine Bank zu, die etwas entfernt stand. Die Bank stand vor grossen, mit Buchsbaum bepflanzten Beeten, in die ein findiger Gärtner – in Buchsbaumbuchstaben – «Nationalbank» geschnitten hatte.

… Schöne Nacht, o Liebesnacht, o …, auf den Beifall hin wiederholten die Musiker die Melodien aus «Hoffmanns Erzählungen». Wie schwer mein Koffer war, merkte ich erst, als ich ihn abstellen konnte. Über die Leute hinweg, vorbei an dem kunstvoll geschwungenen Dach des Musikpavillons, sah ich eine blaue Hügelkette, die einem Tierrücken gleich ausgestreckt am Himmel lag. Das ist Berlin, dachte ich, mein Berlin – seit meiner Kindheit war Berlin ein ferner blauer und langgestreckter Dunstzug am Horizont –, ich hatte Berlin nie gesehen.

Die Reise war lang gewesen, ich hatte nur wenig geschlafen. Hatte ich die Augen geschlossen, wollte es mich anfall­artig erdrücken. Ich schaute auf die Leute. Im Koffer musste noch ein Stück Brot sein. «Wenn du es isst, wird es Hasenbrot sein, dann bist du schon weit von uns fort», hatte die Mutter gesagt und mit erstickter Stimme hinzugefügt: «Verfluchen werde ich diesen Menschenjäger.» Ihr Weinen hinter der Brille, die ihre Augen immer vergrösserte, war wie ein Regen im Zimmer gewesen. Bevor ich um die Strassenecke bog, hatte ich noch einmal zurückgeschaut, starr war sie am Fenster gestanden, die Hand zu einem schwachen Winken erhoben.

Mein Bruder Hans hatte mir den Koffer getragen und mich auf den Bahnhof begleitet. Er war arbeitslos. «Mach’s gut», sagte er, nachdem er den Koffer ins Gepäcknetz befördert und mich umarmt hatte. Es war das erste Mal, dass er mich umarmte. Um alles zu überstehen, hatte ich geschäftig mit meinem Mantel hantiert und einen Haken dafür ­gesucht. Ich sollte nicht aus dem Fenster des Zuges schauen und er sich nicht umdrehen, so hatten wir es abgemacht. «Wurst ist nicht gut aus der GEG, ist Massenware, Wurst ­kaufe ich lieber bei Petersen», war Mutters Devise. Damit meine Finger von Petersens Jagdwurst nicht fettig wurden, hielt ich die Doppelschnitte zusammen mit dem Papier, in das die Mutter das Brot eingewickelt hatte. GEG war in markigen, roten Buchstaben auf das Papier gedruckt, worin das gekaufte Brot stets eingeschlagen wurde. GEG, Grosseinkaufgenossenschaft von Hamburg und Umgebung. Meine Mutter bewahrte das Papier auf, faltete es zusammen und legte es in den weissen Küchenschrank, der ein Stolz der ­Familie war. Der Schrank war das Gesellenstück von Walter, meinem älteren Bruder. Auch Walter war arbeitslos. Vorbei die Zeit, in der er, noch in der Tischlerlehre, nach Feierabend ein fertiggestelltes Schlafzimmer auf die schottische Karre lud, um die Fracht von der Steilshoperstrasse in Barmbek zum Möbelhändler Schulz nach Wilhelmsburg, Vogelhüttendeich, gegen ein Trinkgeld und ein gutes Abendbrot abzuliefern. Das pergamentartige Papier von der GEG war vom Falten und Zusammenlegen schon etwas mitgenommen, und die zerknitterten Ränder stachen mir ins Gesicht. Ich konnte mich verstecken hinter dem Papier; niemand konnte mein Gesicht sehen, die GEG stand dicht vor meinen Augen, aber die selbstbewussten Buchstaben in Rot sackten zusammen, und ein nasser Schleier rückte sie in graue Ferne.

«Du wirst es schwer haben», hatte Paul gesagt, «die Österreicher sind angesehener im Ausland … schliesslich haben sie sich gewehrt.» Ich sah Paul zum letzten Mal im Hotel Hansa. Sein Zimmer war übersät mit Büchern und Buch­umschlägen – damals bereiste er noch als Vertreter eines Verlages das Ausland. Er kannte die Pension Comi in Zürich.

Ich hoffte, Arbeit zu finden. Hoffte auch, dass Pauls Empfehlung mithalf. Ausserdem reiste ich zu einer Zeit in dieses Land, in der alle deutschen Dienstmädchen aufgefordert worden waren, heimzukehren ins Reich.

Der Preis des Hotels betrug Fr. 9.50, aber mit Frühstück. Ich gab meinen Pass einem freundlichen Mann, der hinter einer Art Theke sass und eine grüne Schürze trug. Während er mit meinem Koffer die Treppen hinaufstieg, klapperte bei jedem seiner Schritte ein Schlüsselbund.

Der Mann, über dessen grüne Schürze in weisser Zeile «Limmathaus» lief, gab mir den Rat, noch ein wenig die Stadt anzuschauen. Es schien ihm zu früh, um schon schlafen zu gehen. Ich hätte Zeit gehabt und nichts zu tun, doch legte sich die Müdigkeit in ihrer ganzen Last auf mich.

Ich hatte noch ein Paket Langnese-Keks. Mit «Lang­nese» stieg mir jener schwere, süsse Geruch in die Nase, der über unserer Wohngegend in Hamburg lag. «Du kannst ja zu den Keksmäusen gehen», hiess es, wenn ich in der Schule nicht lernen wollte. Die Keksmäuse, nach Kakao riechende Arbeiterinnen aus der Keksfabrik Langnese, waren in un­serer Gegend auch Uhrenersatz. «Ach, schon Viertel nach fünf», eilig begann meine Mutter das Essen vorzubereiten. Die heimwärts strebenden, schweigenden Keksmäuse zogen mit irgendeiner Tasche am Arm an unserer Wohnung vorbei. Wir nannten diese Taschen Zampelbeutel, ähnlich jenem Sack, den die Hafenarbeiter trugen. In den Zampelbeutel kam alles hinein, was sie als herrenlose Fracht betrachteten und darum nach Hause mitnehmen durften. Sie hatten ein Einheitsmass von Holz bis zu den Bananen. Die Brüder waren zwar der Meinung, dass die Keksmäuse Schokolade und so nicht mehr riechen könnten, «steht ihnen hier oben, sag ich dir». Walter schloss bei diesen Worten die Augen und machte einen Fingerstrich am Hals entlang, ein Grad an Sättigung jedenfalls, den wir drei Geschwister uns gar nicht vorstellen konnten.

Ich hatte das Nachtessen mit den Keksen gespart und zählte mein Geld. Der Mann mit der grünen Schürze hatte inzwischen sicher bemerkt, dass mein Pass am folgenden Tage ablief. Das Federbett schien mir unzweckmässig kurz, es reichte gerade bis zu den Hüften. Ich zog es trotzdem ans Gesicht herauf und dafür die Beine an.

*

Der Mann mit der grünen Schürze deckte bereits den Tisch und fragte mich, ob ich Tee oder Kaffee wünsche. Auf dem Tisch standen Honig und Marmelade. Mit dem Kaffee brachte er eine Zeitung und tippte mit dem Finger auf die Schlagzeile: der Röhm-Putsch. «Was sagt man darüber in Deutschland?» – «Ausser den offiziellen Nachrichten so gut wie nichts.» – «Hier glauben viele Leute, dass der Spuk bald vorbei sein wird.» Sollte das ein Trost sein? Ich ass, aber ebenso gierig las ich die neuen Nachrichten.

Pauls Rat: Trinkgeld immer extra geben. Der freundliche Mann strich es vom Tisch. Mit geübtem Schlag entfernte er mit der Serviette die Brotkrümel vom Tischtuch. Er trug mir den Koffer bis auf die Strasse und zeigte mit erhobenem Arm auf die Haltestelle. «Ottikerstrasse? Fahren Sie von der Haltestelle Limmatplatz in Richtung Bahnhof, dann umsteigen in die Sieben.»

 

*

Mein Herz klopfte, als ich mit meinem Koffer die steile Steintreppe hinaufstieg. Ein junger Mann mit einem Fahrrad kam mir entgegen, er schob es an der Seite der Treppe, die eine Art Rampe bildete, abwärts. Ich fragte ihn nach der Pension Comi, und mit einer Kopfbewegung seitwärts gab er mir die Richtung an.

Die Pension lag hinter einem Gürtel von Sträuchern. Vor dem Haus sassen einige Leute und spielten Karten. Sie sahen mich kommen, schauten auf, um dann weiterzuspielen. Mir fielen die gepflegten Frisuren der Frauen auf.

Mein Gruss verriet ihnen das Land meiner Herkunft.

Ich musste bis zum eigentlichen Eingang noch einige Stufen hinaufgehen, stellte meinen Koffer auf dem Treppenpodest ab und läutete an der Tür, obwohl sie leicht geöffnet war. Eine kleine Frau erschien – es musste Frau Paksmann sein. «Ah, guten Tag, ich habe Sie erwartet – sind Sie Lisette?»

Ich richtete den Gruss von Paul aus.

«Ein lieber Mensch, er weiss nicht, welchen Gefahren er sich aussetzt. Aber er heisst ja nicht umsonst Paul Kühne.» Ich folgte ihr in ein grosses Zimmer, dessen Tür von einem jungen Mädchen geöffnet wurde. Das Zimmer war mit vielen Möbeln vollgestellt, an den Wänden hingen Fotografien.

«Das ist Helen, meine Tochter» – das junge Mädchen gab mir die Hand.

«Olga soll einen Tee machen», sagte Frau Paksmann zu ihrer Tochter, die daraufhin das Zimmer verliess.

Frau Paksmann setzte sich in die Ecke eines Sofas und lehnte sich zurück; sie war sehr blass. Ich sass ihr gegenüber und schob mit dem Fuss den Koffer hinter meinen Stuhl.

«So jung», sagte sie und schaute mich an, «aber ich weiss, für die Emigration ist keiner zu jung oder zu alt.» Sie fragte nach meinen Eltern und wie viele Geschwister ich habe. «Herrn Kühnes Geschäfte werden schlecht gehen – wer will heute Bücher aus Deutschland kaufen!»

Während sie mit mir sprach, kam sie mir gar nicht mehr so klein vor.

«Meine Pensionäre sind schwierig. Die meisten von ­ihnen haben alles verloren und mussten aus ihren Heimatländern fliehen. Sie hoffen, nur vorübergehend bei mir zu wohnen; Sie werden es nicht immer leicht haben mit ihnen.»

Es klopfte, ein dunkelhaariges Mädchen brachte Tee für drei Personen.

«Das ist Olga, unsere Meisterköchin.» Frau Paksmann lächelte Olga zu und deutete dann mit ihrer kleinen Hand auf mich. «Lisette, unser neues Zimmermädchen.»

«Wir haben schon am Telefon miteinander Bekanntschaft gemacht», sie stellte das Tablett auf den Tisch und sah mich an. Ich erkannte die singende Stimme wieder.

«Man soll für Lisette das Zimmer in der fünften Etage richten.»

Frau Paksmann sprach meinen Namen anders aus; zu Hause endete Lisette wie Klette oder Wette – es gibt auch Pferde, die Lisette heissen, hatte der Vater einmal zu mir gesagt. Frau Paksmann sprach meinen Namen, als hätte er am Ende kein e, das blieb nahezu unbemerkt, sie zog es weich nach oben. Auf diese Weise ausgesprochen gefiel mir mein Name viel besser.

«Wie kommen Sie zu einem französischen Vornamen?»

«Mein Vater hat französische Vorfahren.»

Wenn dieses Thema zu Hause zur Sprache kam, wies der Vater stets auf die Lübecker Kirchenbücher hin. «Dort steht es klipp und klar», manchmal sagte er auch «schwarz auf weiss», «dass wir einer Hugenottenfamilie entstammen.» Im Anschluss an die Hugenotten erwähnte die Mutter eine geheimnisvolle Verbindung zu einem polnischen Aristo­kra­ten, «meine schlanken Hände sind ein Erbteil». Die polnisch aristokratische, wenn auch illegitime Linie bildete, wenigstens geographisch, ein Gegengewicht zu den französischen Vorfahren, ein Gegengewicht, das der Vater zu stören wusste, indem er bemerkte: «Steht aber in keinem Kirchenbuch.» Eine andere Variante unserer Herkunft besagte, dass unser Vorfahre väterlicherseits als französischer Kriegs­gefangener bei der Belagerung von Lübeck durch Napoleon von 1805 bis 1807 dort hängen geblieben sein soll.

Walter und Hans umschrieben die Nachrichten über unsere Vorfahren als «Geschichten aus dem Wiener Wald», womit das vom Vater gestörte Gleichgewicht in gewissem Sinne wiederhergestellt wurde, doch das alles zu erzählen, hätte die blasse Frau auf dem Sofa ermüdet.

«Französische Vorfahren? Sie sehen aus wie eine alteingesessene Norddeutsche!»

Wir lachten, der Tee tat gut. Frau Paksmann fragte mich, ob ich Kleider für die Arbeit im Hause mitgebracht habe, was ich bejahen konnte. Meine Mutter hatte mir Kleiderschürzen genäht, «darunter kannst du alles austragen».

Frau Paksmann hatte grosse graue Augen mit Inseln von Bernsteinflecken. «Emigration» hatte sie gesagt – ein neues Wort, das als unbekannte Fracht von den Bernsteininseln zu mir herübergeschickt wurde.

«Warten wir noch», sagte sie, «vielleicht kommt auch mein Mann zu einer Tasse Tee. Mein Mann ist nicht vom Fach, ich selbst bin von Beruf Lehrerin, und es fällt uns nicht leicht, eine Pension zu führen.»

Das Deutsch von Frau Paksmann war für mein Ohr von einer harten Muttersprache durchpflügt.

*

Die Pension Comi verfügte über etwa dreissig Zimmer. Beim Rundgang durch das grosse Haus erklärte mir Helen, dass die Comi eigentlich aus zwei Häusern bestand, die man aber für den Pensionsbetrieb zu einem Haus gemacht hatte, indem man auf jeder Etage die trennende Wand mit einem kleinen, schmalen Gang durchbrach.

«Sie sind ja schlank, wir hatten Pensionäre, die Mühe hatten hindurchzukommen.» Sie lachte und drehte im dunkler werdenden Gang den Kopf zu mir.

Schon am gleichen Tage benutzte ich diesen Gang allein. Ich musste dabei Eimer und Besen vor mir hertragen, so dass am Ende des Ganges zuerst die Putzsachen herauskamen, und dann ich selbst. Und bald hatten auch die Pensionäre zur Kenntnis genommen, dass ich kein neuer Gast, sondern Zimmermädchen war.

Von Olga erfuhr ich, dass die meisten von ihnen jüdische Flüchtlinge waren.

«Sie sind grosszügig zu unsereinem, verwöhnen ihre Frauen und lieben ihre Kinder», sagte Olga. «Ihr seid gemein zu den Juden in Deutschland.» Ich schwieg, und Olga hielt mich womöglich für verstockt, dabei fühlte ich mich wie ein Wasservogel, der Öl an den Flügeln hatte, und doch weiterfliegen wollte. Ich dachte an Ruth Havemann – Gott, waren die Jungs hinter ihr her! Ruth war das schönste Mädchen im Schwimmclub Concordia. Als Ruth mit ihrer Familie Deutschland verliess, sagte sie beim Abschied zu mir: «Es ist, weil wir Juden sind.» Ich schämte mich; hatte ich sie als Jüdin gekannt oder sie mich als Nichtjüdin? Ich hatte sie vor allem wegen ihrer Schönheit beneidet. Ruth war sehr gut auf hundert Meter, sie hatte an den letzten Klubmeisterschaften noch teilgenommen. Durch Ruths Ächtung aber wurde ich geachteter, ich schwamm – nach ihr – Bestzeiten, Bestzeiten der Damen bei der «Concordia», ohne freilich Ruths Zeiten erreicht zu haben. Dabei hatte ich dafür nicht einen Beinschlag mehr gemacht beim Training in den Ohlendorffer Badeanstalten.

Der Vater hatte die Havemanns beneidet. «Es ist ein Glück, dass die Juden überall Verwandte haben. Unsereiner könnte nirgends hin. Ein Mensch ohne Beziehungen ist ein Krüppel sein Leben lang.»

«Hast du bei besseren Leuten in Deutschland gedient?»

Olga sass am langen Küchentisch. Sie trug ein weisses Kopftuch, und schälte rote Beete, die sie Randen nannte.

«Ich fing in einer armen Familie an. Es war eine jüdische Familie, sie hiessen Nissensohn. Grossvater Nissensohn musste die Kinder hüten, seine Tochter stickte Monogramme für ein vornehmes Wäschegeschäft am Jungfernsteg, und ihr Mann war auf Auktionen tätig. Ich blieb nicht sehr lange bei ihnen, weil meine Mutter nicht wollte, dass ich die grosse Wäsche mache.»

«Es gibt immer Familien, die unsereinen ausnutzen wollen.» Olga erzählte mir, dass in der Comi manchmal Pensionäre wohnen, die einen falschen Namen angaben … «Heisst du wirklich Lisette?»

Wie oft habe ich meinen Namen erklären müssen, der das politische Glaubensbekenntnis meines Vaters war: Die französischen Vorfahren – eingehüllt in das geheimnisvolle Wort «Hugenotten» – verarmten. Die Nachfahren waren deutsche Tagelöhner, die im Weltbild meines Vaters wieder zu Motoren der Zeit wurden: als Anhänger und Verehrer von Bebel, Liebknecht und Luxemburg glaubte mein Vater an Gleichheit und Brüderlichkeit. Er glaubte auch an Völkerverständigung, und «Lisette» verband für ihn Deutschland und Frankreich, die beiden ehemaligen Erbfeinde. «Lisette» internationalisierte den in Norddeutschland üblichen Namen Liese und war vor allem nicht zu verwechseln mit Luise. Es verbitterte meinen Vater, dass «mitten in der Republik», im Andenken an die grosse Königin, noch ein Luisenbund existierte, der den Töchtern des Landes zurief: «Werdet Luisenhaft!»

Hinzu kam, dass die Frau von Onkel August, dem ältesten Bruder des Vaters, Luise hiess. Tante Luise hielt nichts von den Ideen meines Vaters, sie nannte ihn einen eingebildeten Städter und einen Roten dazu. Aber prophetisch wiederholte er: «Wissen ist Macht.» Er glaubte an eine Macht der Wissenden, und beim Lesen des «Hamburger Echo» bekam er regelrechte Wutanfälle: «Dabei steht es hier schwarz auf weiss, sie verhöhnen Rosa Luxemburg als Jüdin und meinen die Revolutionärin …» Die Mutter beruhigte ihn, «reg dich doch nicht so auf». – «Ist doch wahr, wann merken unsere Hottentotten in Deutschland diesen Trick?»

In gewisser Hinsicht hatte Tante Luise recht, der Vater war hochmütig in dem Sinne, dass er sich als Schriftsetzer anderen Arbeitern gegenüber für gebildeter hielt und seinen Berufsstand als Aristokratie unter den Arbeitern empfand.

So kam er auf Umwegen seinen französischen Vorfahren wieder näher.

Olgas Hände hatten sich inzwischen von den Randen rot gefärbt, ich erzählte die Geschichte von meinem Vater viel zu ausführlich. Ohne aufzuschauen sagte sie: «Dein ­Vater hatte viel im Kopf, was sagt er denn jetzt?»

*

Der Tag in der Comi begann mit Paul Eppstein. Früh am Morgen brachte er das Kümmelbrot, das in der Bäckerei seines Vaters in der Zwinglistrasse gebacken und von den Pensionären als Delikatesse sehr gelobt wurde.

«Sechs Stück die Dame», sagte Paul und griff tief in den Korb, den er sonst auf dem Rücken trug und nur für einen Augenblick auf den Podest gestellt hatte. Er trug Halbfingerhandschuhe und einen Pullover mit dem Abzeichen eines Sportklubs. Manchmal trug er auch eine Bäckerjacke, dann sah er viel älter aus. Während er sich über seinen Korb bückte, schaute ich auf seine Rennkappe, die einen schwarzen Haarschopf zu bändigen suchte. Dann sauste er wieder davon, nicht ohne «Adieu die Dame» gesagt zu haben. Sah ich ihm nach, hatte er bald keinen Kopf mehr. Der hohe Korb ragte über den Hals hinaus und verdeckte den Kopf vollends.

Ich kannte bereits den Weg, den Paul nahm, bevor er in der Comi ankam: Er turnte die Kurvenstrasse von der Stampfenbachstrasse her hoch, kreuzte die Weinbergstrasse, und nahm die leichte Steigung der Ottikerstrasse, vorbei an der Rigi-Apotheke und Fumasolis Comestible. Von der Comi ging sein Weg weiter über die Scheuchzerstrasse hin­auf bis zur Universitätsstrasse und dann auf den Zürichberg. Den Weg von der Comi über die Scheuchzerstrasse, hinauf zur Universitätsstrasse war ich am zweiten Tag nach meiner ­Ankunft in dem fremden Land gegangen, weil ich von der Rigi-Post aus einen Brief nach zu Hause aufgab.

Einmal sah ich beim Einkaufen Paul vor dem «Neubad» Ecke Scheuchzer- und Ottikerstrasse stehen. Er lehnte sich an sein Fahrrad, als sei es die Welt. Die Unterhaltung mit dem Mann im weissen Kittel, der vor dem Eingang der Bade­anstalt stand, war sehr lebhaft. Über den Köpfen der beiden Männer war eine Glastafel an der Hauswand angebracht: «Fango- und Moorpackungen. Sport- und Heilmassagen. Alle Krankenkassen».

«Ein Mann vom Fach», sagte Paul am anderen Tag. Er gab seiner Rennkappe mit der halb behandschuhten Hand einen kleinen Stoss, was eine Pause in der Tour ankündigte, sein müdes Gesicht erhellte sich: «Interessieren Sie sich für Radsport?»

«Mein jüngerer Bruder ist leidenschaftlicher Radfahrer, er sagt immer, dass ein Fahrrad eine Seele hat. Er möchte einmal ein Fahrradgeschäft mit einer Reparaturwerkstatt haben, später, jetzt ist er arbeitslos.»

Paul nickte, schwenkte dann den hohen Korb auf den Rücken und fuhr weiter, immer kopfloser werdend verschwanden schliesslich auch seine pedalenden Beine hinter dem Korb. Der Spuk wurde vollkommen, wenn sich Ecke Scheuchzerstrasse und Ekkehardstrasse aus dem Korbkörper eine Hand mit einem halben Arm streckte.

 

Wenn Paul fort war, begann ich den Speisesaal in Ordnung zu bringen. Office, Salon und ein winziges Büro befanden sich ebenfalls auf dem Stockwerk. Das grosse Zimmer mit den vielen Möbeln lag direkt neben der Eingangstür, und da Herr und Frau Paksmann um diese Zeit noch schliefen, versuchte ich leise zu arbeiten.

Ob die Kinder von Paksmanns die Pension wohl gernhatten? Sie konnten nur selten mit ihren Eltern allein sein. Vielleicht aber empfanden sie die Pensionäre als Abwechslung. Helen war ernst, doch Monika, die jüngere Schwester, war heiter. Die Söhne Benno und Leo hatten, wie die Töchter, in den oberen Etagen gemeinsame Zimmer, doch sah man die Söhne seltener im Haus als die Töchter. Auch die alte Mutter von Frau Paksmann lebte im Haus. Sie hatte ihr Zimmer auf der anderen Seite des Hauses, und wenn man zu ihr wollte, musste man durch den dunklen Gang hindurch. Frau Paksmanns Schwester erteilte Klavierunterricht; ausgebildet am Zürcher Konservatorium kamen ihre Schüler zu ihr in die Comi, und wie immer die Stimmung in der Comi sein mochte, aus dem Zimmer der unverheirateten Musiklehrerin drangen Töne und Takte.

Beim Eingang in den Speisesaal befanden sich an der Wand viele Holzfächer, die mit den Nummern der Zimmer versehen waren. Es war der grosse Briefkasten der Comi, der mehr in die Breite als in die Höhe ging und an eine grosse Schürze mit vielen Taschen erinnerte. Die hölzerne Schürze sah lustig aus, wenn bunt geränderte Luftpostbriefe mit grossen, fremden Marken in ihren Taschen steckten. Jedermann in der Comi wartete auf Post. Von der Eingangstür her erkannten die Pensionäre, ob Post für sie angekommen war oder nicht, und während sie frühstückten und die Post lasen, versuchte ich, die Zeit ihrer Abwesenheit zu nutzen, und brachte einige Zimmer in Ordnung.

Die Comi hatte gute und schlechte Zimmer. Gut waren die ehemaligen Wohn- und Schlafzimmer, schlecht die früheren Küchen und Dienstbotenzimmer. Das schönste Zimmer im Hause bewohnte Signora Teresa, die eine Freundin der Familie war. Sie bewohnte Nummer 30 auf der vierten Etage und verfügte über einen der zwei Balkone, welche die Comi zu vergeben hatte. Signora Teresa schaute von ihrem Zimmer aus über die Dächer von Zürich, und bei gutem Wetter konnte sie den See und die Berge sehen.

Die vierte Etage hatte im Gegensatz zur fünften vollwertige, noch nicht abgeschrägte Zimmer; die Zimmer lagen unter dem Dachfirst. Unter dem Dachfirst aber nisteten die Tauben, und obwohl die Tauben als Symbol des Friedens gelten, lag Signora Teresa mit ihnen in Fehde.

«Die Tauben sind laut und unsozial – sie vermehren sich ständig. Man kann nachts nicht schlafen, und mit der Zeit werden sie die Comi ruinieren.»

Wenn ich auf ihren Balkon ging, um den Flaumer auszuschütteln, musste ich ihr recht geben: Flügelschlagend verliessen die Tauben die Balkonbrüstung, die, grünlich-­silbern bekleckst, nicht dazu einlud, die Landschaft zu ge­niessen.

«Ich gehe nie auf den Balkon», klagte Signora Teresa, und von verschiedenen Pensionären unterstützt hatte sie eine regelrechte Aktion gegen die Tauben gestartet, woraus die Tauben aber als Sieger hervorgingen: «Bei den von Ihnen beschriebenen Tauben kann es sich nicht um Militärtauben handeln, sodass die Stadtverwaltung eingreifen könnte. Mili­tärtauben fliegen niemals auf Bäume und nisten nie unter fremden Dächern – vielmehr bleiben diese über Nacht in ihrem Schlag und haben erst morgens um acht Uhr ihren Freiflug. Da Sie aber auch nachts von den Tauben ­gestört werden, handelt es sich um sogenannte Türken­tauben, welche vor etwa zwanzig Jahren aus dem Balkan einwanderten, und bei uns heimisch wurden. Sie werden vom Bund geschützt und dürfen keinesfalls vernichtet werden.»

Die Tauben waren Emigranten mit Niederlassungs­bewilligung.

Von Olga erfuhr ich, dass Signora Teresa eine weitgereiste Dame sei und sechs Sprachen spreche.

«Schau, sie hat halt etwas gelernt.» Olga schlug die Augen nieder, wenn sie etwas gesagt hatte, und das gab ihren Mitteilungen etwas Unwiderrufliches. Signora Teresa hatte herrliche, tizianrote Haare, die wie eine Dauerglut auf ihrem Kopf leuchteten, und wenn sie mit ihrer leicht angerauhten Stimme sprach, glaubte man ein Knistern zu hören, das die Glut in Flammen aufgehen lassen könnte.

«Ich kenne Ihr Land», sagte sie zu mir, «vor vielen Jahren war ich in Berlin. Mussolini war an die Macht gekommen, und ich hatte auf einem Meeting die Rede eines jungen italienischen Antifaschisten zu übersetzen. Ein trauriges Land», sagte sie und hielt wie abwehrend ihre rosafarbenen Handflächen gegen mich, «die Polizei führte die Strassendemon­s­tration an, und Genossen, versehen mit einer Armbinde, wor­auf ‹Ordner› stand, sorgten dafür, dass kein öffentlicher Rasen beschädigt wurde. Nie wird es in Ihrem Land eine echte Revolution geben!» Sie schüttelte dabei die rote Glut auf ihrem Kopf und lachte.

«Ich kenne Berlin nicht», antwortete ich und dachte an mein Berlin, an einen fernen, blauen Dunst am Horizont …

Als Freundin der Familie aber war Signora Teresa um Ordnung im Hause besorgt. «Sagen Sie dem Studenten von Nummer 29, dass die vierte Etage empört ist!»

Der Student hatte das Badezimmer in einem ungehörigen Zustand hinterlassen, und entrüstet fragte mich Signora Teresa, zu welchem Zwecke dieser Kretin Architektur studiere – sein Benehmen sei ein Hohn auf seinen herrlichen zukünftigen Beruf.

In Nummer 29 herrschte eine Anarchie von Kleidern, Büchern und Toilettenartikeln, der Student selber war ein Monument an Pflege. Der junge Mann schien ausgehen zu wollen, doch nicht ohne Freundlichkeit hörte er den Vorwürfen zu, die ich im Auftrage von Signora Teresa zu übermitteln hatte.

«Sauberkeit macht noch kein Kulturvolk, und zudem – liebes Kind – dürfte es in Ihrer Sprache auf der ganzen Welt schwierig sein, Beschwerden anzubringen …» Duft hinter sich lassend verliess er sein Zimmer und strebte dem Treppenhaus zu. Ich hatte Lust, dem Lackaffen mit meinem Flaumer die tadellose Frisur zu verderben, «Poussierstengel» riefen wir als Kinder jungen Männern nach, die nach Parfüm rochen.

Frau Paksmann schaute mich müde an, als ich ihr von den Frechheiten des Studenten erzählte. «Ich weiss nicht, ob es je Ordnung geben wird – unbefohlen – immer stimmt etwas im Hause nicht, es gibt keine Ruhe für mich.»

Ruhe für die Familie, wenn auch nur für kurze Augenblicke, konnte allein Cherili vermitteln. Cherili, besser Chärrilie, ein langhaariger grauer Dackel. Cherili musste nur auftauchen, und schon trat Glanz in die Augen der geplagten Pensionsbesitzer. Cherili verteidigte die Familie gegen die dauernden Begegnungen mit den Pensionären und deren Angelegenheiten durch ihre einfache Existenz. In einer Mischung von Souveränität und Melancholie liess sich Cherili die Liebe der Familie gefallen. Herr Paksmann sprach manchmal russisch mit dem geliebten Tier. Zu seiner Zerstreuung ging er manchmal mit Cherili auf den Uetliberg; man nannte ihn in der Nachbarschaft den grauen Herrn mit dem weissen Haar. Er war von hoher Gestalt und trug mit Vorliebe graue Sportanzüge mit Knickerbocker, doch wirkten die englischen Sporthosen an ihm wie schlechter Wille. Es konnte aber auch sein, dass die Hosen ihn nicht mochten. Sein aufrechter Gang jedoch, die jugendliche Gesichtsfarbe und das volle Haar triumphierten schliesslich über die Verdriesslichkeiten machtpolitischer Natur, handelte es sich bei seiner äusseren Erscheinung doch um eine russisch-englische Al­­lianz.

Frau Paksmann benutzte die Abwesenheit ihres Mannes manchmal dazu, einen säumigen Zahler zu mahnen. «Sie sind doch ein gebildeter Mensch und wissen, dass ich keine Geschäftsfrau bin», so entschuldigte sie sich, klagend, bei dem Säumigen. Herr Paksmann duldete es nicht, dass ein Pensionär gemahnt wurde, er ignorierte die finanzielle Seite seines Unternehmens. Gewiegt zog er die Augenbrauen hoch und sagte: «Der Arme – er wird kein Geld haben.» Er sass oft in seinem Büro, ein pompöser Name für den gefangenen, handtuchgrossen Raum ohne Fenster, der früher einmal ein Aufbewahrungsort für Putzutensilien gewesen sein mochte. Er sass dort vor aufgespiessten Lieferscheinen, und niemand konnte die Gefühle erraten, die er dem Pensionsunternehmen gegenüber empfand. Einmal suchte ihn Signora Teresa in seinem Büro auf, um ihren monatlichen Pensionspreis zu zahlen. Sie hielt ihm das Geld entgegen, er aber deutete gereizt auf die Brusttasche seines Sportanzuges und sagte ungeduldig: «Stecken Sie es hinein, Teresa», und sah nicht einmal hin, wie viel Geld sie in den wollenen Schlitz versenkte. Dabei schien er das Büro sehr wichtig zu nehmen, nur er besass einen Schlüssel dazu, den er ernst in den tiefen Taschen der Knickerbockerhose aufbewahrte.