Die Brille des Nissim Nachtgeist

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Allen bekannt aber waren die Gefühle, die Herr Paksmann Cherili gegenüber empfand; ihm war der Gedanke peinlich, dass sich die Reinrassige mit einem Partner ohne Stammbaum und Ansehen den Hundehimmel teilen könnte, und er führte Cherili beim Spaziergang immer an einer kurzen Leine.

Ihr Lieblingsplatz im Hause war die Heizung im Office neben dem «Pass». Schwer geprüft lag Cherili auf den warmen Röhren und schnupperte dem Geruch der Speisen nach, der durch den Pass von der Küche herauf an der Hunde­nase vorbeizog. Der Pass, eine Schlucht von braunen Brettern, verband das Office mit der Küche, die im Erdgeschoss des Hauses lag. Hier am Pass brandete das Leben der Comi wohl am heftigsten, hier am Pass verlor sogar Olgas Stimme ihren Charme, ihre Mitteilungen von unten herauf hatten nur noch etwas von einem eigenartigen Röhren. Ich weiss, dass sie unten ihren Kopf schräg in die Schlucht hält, damit Herr Paksmann sie oben besser verstehen kann. Er gab seine Befehle zurück, aber man wusste nie, ärgerte er sich über Olga oder beleidigte ihn diese Beschäftigung.

Herr Paksmann war sehr unzufrieden mit mir, wenn ich Cherili von der Heizung hinunterjagte.

«Ein wertvolles Tier», sagte er, aber ich hatte die Teller dort vorzuwärmen. Vor dem Mittagessen waren wir alle in Zeitnot. Herr Paksmann wartete am Pass auf die Speisen, die Olga hinaufschickte; seine Knickerbockerhosen waren um diese Zeit mit einer weissen Schürze gedeckt. Cherili aber fortzujagen, war aussichtslos. Nachdem sie von der Heizung hinuntergesprungen und beleidigt ins Treppenhaus gewackelt war, kam sie mit dem nächsten Pensionär, der dem Speisesaal zustrebte, wieder zurück in das Office. Sie nahm Herrn Paksmanns nervösen Schrei: «Geh weg – was ist los?» als Aufforderung zu bleiben.

Von Signora Teresa erfuhr ich, dass Herr Paksmann als junger Mann Geheimliteratur aus der Schweiz nach Russland geschmuggelt hatte, um die Revolution gegen den Zaren zu unterstützen. Er war ein Mitarbeiter Lenins gewesen.

«Lenin lebte während seiner Emigration in Zürich und Genf; Sie können das in den Memoiren von Frau Krupskaja nachlesen; auch die Kurierdienste Ihres jetzigen Brotgebers sind dort erwähnt.»

In der ihr eigenen Erzählfreude schmückte Signora ­Teresa die Ereignisse, die mehr als dreissig Jahre zurück­lagen, in historischer Freiheit aus und beförderte den Kampfgenossen Lenins zum Kurier des Zaren, und mit ironischem Vergnügen zum Zaren selbst. Folgerichtig wurde für sie Frau Paksmann zur Zarin, und wenn ich mit Wischer und Papierkorb bis zur vierten Etage vordrang, begrüsste ­Signora Teresa mich vergnügt und fragte: «Nun, wie geht es heute dem Herrscherpaar?»

Nicht alle Pensionäre hatten den Humor und die Phantasie, über die Signora Teresa verfügte. Die wenigsten von ihnen wussten die Anstrengungen des Herrscherpaares zu würdigen. Laut sagte ein Pensionär am Frühstückstisch: «Noch immer habe ich in meinem Zimmer kein Bett, das ein Bett zu nennen wäre.»

Allabendlich aber lud die Familie eine kleine Gefolgschaft zu sich in den Salon, in dem Tee getrunken wurde. An der Anzahl der Gläser sah ich, wie gross die Gefolgschaft gewesen war. Es war ein privater Tee, den die Familie servie­ren liess, und unter den Pensionären wurde eifersüchtig dar­über gewacht, wer die Ehre hatte, geladen zu sein. Manchmal holte Herr Paksmann einen für den kommenden Tag bestimmten Dessert aus dem Kühlschrank, um seinen Gästen etwas Besonderes bieten zu können.

«Ich bitte dich, Leone, was wird die Köchin sagen», Frau Paksmann versuchte, Einspruch zu erheben, doch der Gastgeber, dessen Gesicht schon von Freude überzogen war, antwortete, während er den Dessert bereits in kleine Schalen verteilte: «Soll sie sehen, was wird.»

Ich ging nicht gern in den Salon, wenn alle dort versammelt waren. Oft aber gab mir Frau Paksmann gerade dort noch einen Auftrag, der erledigt werden musste, bevor sie am Morgen aufstand. Sie läutete dreimal kurz, wenn sie nach mir suchte.

Ich wusste, dass eine Dame aus Hamburg angekommen war, und ich sah sie zum ersten Mal abends im Salon.

«Lisette, holen Sie aus der Apotheke Sedrol – nehmen Sie Cherili mit», sagte Frau Paksmann. Auf dem Tisch stand der Samowar, und die Dame aus Hamburg sass in einem der tiefen Sessel, die Signora Teresa immer die «Fallen der Comi» nannte. Ich wollte auf sie zugehen, sie begrüssen, als ein Überfall von Zuckungen ihr Gesicht verzerrte. Nase und Kinn stiessen auf die Brust, sodass Haar und Antlitz wie wild ­geschüttelt wurden. Die entfesselte Unruhe wurde von den Anwesenden übersehen, und mit rascher Hand führte die Unglückliche eine Zigarette an ihrem Oberkörper vorbei, als könne sie mit einem raschen Zug die wilden Bewegungen abfangen. Tatsächlich beruhigte sich das Gesicht.

Cherili zog mich zur Rigi-Apotheke hinunter. Ich fürchtete mich zurückzukehren, fürchtete mich vor einem neuen Anfall, solange ich im Salon war. Welche Anstrengung, das wilde Schütteln zu übersehen, Cherili zog mich im Zickzack hin und her. Die Dackelohren hingen wie Puppenstubenportieren an dem schnuppernden Kopf und halfen mit, die Zeichen der Sympathie ausfindig zu machen, die ein Casanova auf der feuchten Strasse hinterlassen hatte.

Olga hatte erfahren, dass die dunkle Frau aus Hamburg auf schreckliche Weise ihren Mann verloren hat: «Alles Unglück kommt jetzt über die Juden.» Der Mann war seit längerer Zeit verhaftet gewesen, eines Tages aber habe sie die Nachricht erhalten, dass er entlassen werde. Als sie ihren Mann abholen wollte, erhielt sie den Bescheid, dass er tot sei. Gestorben an Herzschlag und bereits begraben.

*

Wer war ihr Mann gewesen – ich hatte nicht den Mut, danach zu fragen. Ich musste an den wütenden Ausspruch meines Vaters denken: «Sie verhöhnen in Rosa Luxemburg die ­Jüdin und meinen die Revolutionärin …» – «Weil wir Juden sind» hatte auch Ruth Havemann gesagt, und ich konnte beim Abschied nicht die befreiende Wut aufbringen und schämte mich nur. Ahnte ich, dass kein Mitleid umfassend genug war, um einen Menschen trösten zu können, der verfolgt wurde wegen seiner Geburt? Und nicht weil er dachte, was der Verfolger zu denken verboten hatte? Lag das Mitleid deshalb wie eine Lähmung auch zwischen dem Bürger des Gastlandes und dem Flüchtling, dessen Gesichtsausdruck sagte: verfolgt, weil geboren? War Mitleid die Furcht, das Unglück könnte auch über den Mitleidigen kommen, zog das Unglück des anderen das eigene Unglück an? Und erklärte diese Angst erst die Entlastung, die alle empfanden, wenn ein Flüchtling weiterreisen konnte?

*

Mein Zimmernachbar auf der fünften Etage hatte sich als Nissim Nachtgeist vorgestellt. In seinem Zimmer lagen viele kleine, kurze weisse Fäden auf dem Fussboden – und als er mich beim Zusammenfegen antraf, schaute er mich beinah freundlich an: «Nehmen Sie diesen Stall nicht zu ernst – die Comi – ein Ort für die Verlorenen.» Er stellte einen grossen Koffer ab, den er fünf Treppen hinaufgetragen hatte. «Verstehen Sie mich nicht miss, ich gehöre auch dazu.»

Dieses Zusammentreffen war weit freundlicher gewesen als meine erste Begegnung mit ihm, die am Tage nach meiner Ankunft, nachts, auf dem dunklen Korridor der fünften Etage stattgefunden hatte.

Er hatte sich anderntags bei Frau Paksmann darüber beklagt, dass «die deutsche Bohnenstange» ihn nicht gegrüsst habe, und ausdrücklich dazu bemerkt, «dass zum Hochmut kein Anlass vorliegt».

Nissim Nachtgeist öffnete seinen grossen Koffer, der mit verschiedenen zugeschnittenen Stoffteilen vollgepackt war. «Vorderteil, Rücken, Kragen, Taschen, Gürtel mit Einlage, Knopflochleiste, schweizerische Qualitätsarbeit, Gütezeichen, verehrte Nachbarin. Die Schweizer müssen ein Volk in Berufsmänteln sein.» Nissim Nachtgeist sortierte die ­zugeschnittenen Teile und legte sie zu kleinen Stapeln.

«Ich teile mein Leben zwischen Heimarbeit und Hochschule. Was die Heimarbeit betrifft, Sie sehen es ja, ich lasse Fäden …, mein Hochschulleben? Schwamm drüber.»

Wenn ich abends in seinem Zimmer die Nähmaschine surren hörte, wusste ich, dass Elisabeth, Nissim Nachtgeists Braut, vor der «Bernina» sass und Berufsmäntel nähte. Im Zuge einer rationellen Arbeitsweise trennte sie die zusammengenähten Stücke nicht voneinander, sodass die einzelnen Teile die «Bernina» verliessen wie Wäsche an der Leine. Surrend rannten die Kragen und Ärmel davon, als wollten sie vor den Taschen und Gürteln ans Ziel kommen. Nissim Nachtgeist trennte die einzelnen Teile dann voneinander, durchschnitt den zu einer dünnen Kordel gedrehten Ober- und Unterfaden der «Bernina» und säuberte von zu langen Fäden. Er legte die Teile wieder zu kleinen Stapeln, damit Elisabeth in bequemem Griff «fertig machen» konnte.

Manchmal half ich ihnen.

«Was sagte heute der Herbst?»

Nissim Nachtgeist hörte auf zu schneiden und sah Elisa­beth an. Die Schere war für sein handwerkliches Unternehmen viel zu klein, blieb halbgeöffnet und ruhte einem Metallkreuz gleich zwischen seinem Daumen und Zeigefinger: «Die Frage nach dem Wohltäter macht den stärksten Mann hilflos. Aber, geehrte Nachbarin, da Sie Fäden mit uns ziehen, sollen Sie wissen, wer Herbst ist: ein reicher Altwarenhändler, der Kunst und Literatur liebt. Ich habe die Aufgabe, ihm Bücher aus den Bibliotheken zu holen, er verlässt sich auf mein Urteil; das macht mir den Freitisch in seinem Hause erträglich.»

Die von Elisabeth fertig genähten Berufsmäntel wurden von Nissim Nachtgeist noch rasch überbügelt und wanderten dann wieder in den Koffer. Wenn Elisabeth abends in die Comi kam, hatte sie, als Bürgerin des Landes, immer schon einen Arbeitstag als Schneiderin hinter sich, doch setzte Nissim Nachtgeist sie immer unter leichten Druck, was das Arbeitstempo betraf. Wollte er dem Fabrikanten zeigen, dem er pünktliche Arbeit versprochen hat, dass auf einen Flüchtling Verlass war? Gerade weil er Schwarzarbeit leistete?

 

«Curt hilft auch vermögenden Studenten bei ihren Doktorarbeiten.»

«Mein Vater meinte es gut mit mir, als er mich Jura studieren liess.»

«Dabei wärst du doch lieber Schauspieler geworden!»

Nissim Nachtgeist war genauso alt wie ich. Olga sagte: «Er heisst gar nicht Nissim Nachtgeist, besteht aber auf diesen Namen. Er will nach Amerika auswandern und Deutschland nie wieder sehen. Er ist immer fidel.»

Tatsächlich nannten ihn die Pensionäre den fidelen Studenten, für mein Gefühl aber versteckte er sich hinter diesem Klischee. Mit seinen kurzen, manchmal lustigen Bemer­kungen hielt er sich nur die Leute vom Leib. Verfolgt, weil geboren – und unerwünscht im Land seiner Jugend –, woher nahm er die Kraft, seine Trauer zu verbergen?

Im Faltenrock Helvetias

Nissim Nachtgeist nannte die Comi einen Ort für die Verlorenen. Die Umschreibung schien mir zu pessimistisch – vielmehr verwandelten die Verlorenen die Comi in ein Floss, das sie über Wasser hielt. Emigration ist die Fahrt mit einem Floss auf einem Meer, von dem keiner weiss, wie gross das Meer und wie lang die Reise.

«Die Schweiz ist ein kurzer Rock voller Falten, eine Art geologisch erstarrter Sturm», philosophierte Nissim Nachtgeist, «die Falten laden ein, sich darin zu verstecken. Aber schon andere vor uns kamen auf diese Idee, und zur Zeit bauscht sich das plissierte Land wieder mächtig.»

Er hielt wenig von politischer Tätigkeit; umgeben von weissen Ärmeln, Kragen, Gürteln und Rücken unterhielt er Elisabeth und mich in sorgenvoller Miene. «Was der Emigrant am meisten braucht, ist Windschatten. Es ist ein Glück, dass er hierzulande nicht öffentlich auftreten darf. Auf diese Weise bleibt es ihm erspart, Mitleid zu begegnen … Mitleid in der Öffentlichkeit – ein halber Tod.»

Frau Paksmann hatte das Land Pestalozzis schon als Studentin kennengelernt, sie verehrte es, dessen Ruhm bis zu ihr in das unfreie Polen gedrungen war. Manchmal, wenn wir im Office die Wäsche sortierten, erzählte sie aus jener Zeit. Im Office roch es um diese Zeit nach Seifenwasser, und die Spuren der täglichen Schlacht, wie Signora Teresa das Mittagessen nannte, waren getilgt. Kein Lärm am Pass, Ruhe in der Küche, Stille vom Speisesaal her.

«Ich lebte als junges Mädchen in der Nähe der Universi­tät. Wenn die Tramhaltestelle Winkelried ausgerufen wurde, stimmte mich das jedes Mal ganz feierlich. Durch meinen Mann hatte ich führende Männer aus der sozialistischen Bewegung kennengelernt, Plechanow, Martow, Axelrod. Axelrod?», rief Frau Paksmann aus, während wir an den Bett­tüchern zogen, «Axelrod wurde von uns verehrt wie ein Vater. Er arbeitete oft nachts, sodass er am Tage schlafen musste. Auf Zehenspitzen gingen wir herum, wenn es hiess: Pawel schläft.»

Mechanisch schob sie mir die eingefeuchteten Kopfkissen zu, so dass sich der Korb für die Glätterin langsam füllte.

«Es mag 1909 gewesen sein. Bei einer Kontrolle an der russischen Grenze hat man es meinem Mann auf den Kopf zu gesagt: Du bist Leone Paksmann, dich suchen wir schon lange. Es nützte ihm nichts, dass er mit einem österreichischen Pass reiste. Man arrestierte ihn für die Nacht in einem Grenzhotel, um ihn am folgenden Morgen der russischen Sicherheitspolizei übergeben zu können. Noch während der Nacht konnte er ausbrechen und fliehen. Das Zentralkomitee seiner Partei, damals in Paris, schlug die Emigration vor.» Das Gesicht nach innen gerichtet fuhr sie fort: «Die Heirat war möglich geworden, eine Möglichkeit, die es bei fortgesetzter Untergrundarbeit nicht gegeben hätte; ich liebte meine Kinder, bevor sie geboren wurden.»

«Auch die Comi hätte es nicht gegeben!»

«Die Comi – aber das war ja später – wir wohnten in den ersten Jahren unserer Ehe in einer Vierzimmerwohnung im Universitätsviertel. Mein Vater lebte damals noch, die Kinder waren klein. Mein Mann erhielt von einem Tabakhändler russischen Tabak, und er drehte daraus lange Zigaretten, für die es Liebhaber gab. Später allerdings, 1914, blieb mit dem Ausbruch des Krieges der russische Tabak aus. Ich erteilte polnischen Studenten Deutsch- und Französischunterricht, und gab ihnen manchmal zu essen. Sie rühmten meine Küche – gute polnische Küche – und sagten eines Tages: Gebt uns jeden Tag zu essen, und ihr werdet mitessen. Es kamen neue Studenten, bald brauchte ich ein junges Mädchen, das in der Küche half, damit war eigentlich der Grundstock für die heutige Comi gelegt.»

Einer jener Studenten von «damals» wohnte in der Comi, bis die Comi aufgehört hatte zu existieren. Er gehörte zur engen Familie, sass jeden Abend beim Samowar im Salon und genoss das Ansehen einer Person, die unter Denkmalschutz stand.

Der Bruch, von dem Frau Paksmann als einem Schicksalsschlag sprach, war die Trennung von Lenin und seinen langjährigen Kampfgenossen.

«Nächtelang wurde in Genf diskutiert – aber der Bruch war unvermeidlich. Mein Mann entschied sich in diesem Kampf für Axelrod, er blieb seinem verehrten Lehrer treu, blieb Sozialdemokrat.»

Das Telefon läutete – die Flüchtlingshilfe verlangte nach Frau Paksmann. Eben noch hatte sie von Venedig erzählt: «Ich war wie betäubt von Venedig», nun lehnte sie sich gegen das Gebirge von einem Küchenbuffet und glich einer von Strassenarbeitern schräg gestellten kleinen Fahne, die für die Umleitung des Verkehrs benutzt wird, die Hörmuschel des Telefons in der kleinen Hand:

«Pension Comi …

Ich denke, ja

Sind es viele?

Gut.»

«Lisette, ist 28 in Ordnung? Morgen kommt eine Ärztin aus Wien, sie bringt ihre Möbel mit.»

*

Im leeren Zimmer Nummer 28 sass erschöpft Frau Doktor Horvath in einem tiefen Sessel. Die Reise hatte sie mitgenommen. Sie erzählte, dass sie für einen Besuch bei ihrem Bruder in Indien vorbereitet gewesen wäre, doch der Bruder sei plötzlich verstorben.

Olga hatte recht, Frau Doktor Horvath hatte etwas Hoheitsvolles; wir nannten sie deshalb die Ahnfrau der Comi. Ihre schönen weissen Haare trug sie aus der Stirn gebürstet, um sie dann wie eine Krone um den Kopf zu legen. Die Transportarbeiter brachten grosse Spiegel herein, und eine Büste der Eleonora Duse stellten sie in eine Ecke des Zimmers.

«Die Statue der Göttlichen», flüsterte Frau Doktor, «in meiner Jugend wurde ich bis zum Überdruss mit ihr verglichen.»

Die Kisten waren mit grosser Sorgfalt gepackt worden. Das Geschirr und Silber, die Vasen und die Teppiche deuteten auf grosse Räume hin, worin sich die neue Pensionärin der Comi bewegt haben mochte. Während ich die Gläser mit dem Seidenpapier, worin sie liebevoll eingewickelt worden waren, wieder blank rieb, erzählte Frau Doktor Horvath, dass sie in Wien im letzten Weltkrieg Soldaten gepflegt hätte. In Erinnerung daran lächelte sie, und einem Wunder gleich gehorchten ihr die Falten in ihrem Gesicht.

«Ein englischer Arzt verliebte sich in mich – unglücklich natürlich», ob aus Erschöpfung oder in Erinnerung an ferne Leidenschaft begann Frau Doktor Horvath wieder zu flüstern. Sie hatte die Reise nach Indien erfunden. Um den Schock zu überwinden, in der Vaterstadt unerwünscht zu sein, wurde die Notlandung in der Comi von ihr in ein priva­tes Missgeschick umgedeutet. Die Spiegel vergrösserten das Zimmer, alle Bewegungen, ihre und meine, die Vasen und die Duse verdoppelten und verdreifachten sich. Signora Teresa kam herein, sie war unmittelbare Nachbarin, und begrüsste den neuen Gast, der verloren und hoheitsvoll inmitten ihrer holden Art von Anarchie sass. Signora Teresa erzählte von ihren Übersetzungsarbeiten, die sie für einen Schriftsteller ausführe, und Frau Doktor Horvath deutete auf eine unmöglich gewordene Reise hin …

Signora Teresa stand in dieser Welt von Andenken und ehemaligem Reichtum wie ein blühender Baum. Durch ihre lebensvolle Erscheinung aber wurde der neue Gast zu einer schönen Ruine. Auf den Wogen einer ersten Sympathie schenkte Frau Doktor Horvath Signora Teresa einen wundervollen, seidenen Schal, der mit feinen Goldfäden durchwirkt war, aber noch am gleichen Abend verlangte sie ihn mit Be­stimmtheit zurück: «Wie konnte ich», hauchte sie, «ein Andenken meines Bruders», und bat mich inständig, das der Signora zu sagen. Signora Teresa lachte, sagte dann aber ernst: «Ach – die Arme.»

Der Schal roch muffig, wie alles im Zimmer der Ahnfrau; schade, am Halse der Signora Teresa wäre er zu neuem Leben erwacht.

Jede neue Ankunft in der Comi war eine Art Wellengang, heimlich aber hoffte jeder Ankommende, bald ein Wellenreiter zu sein. Niemand aber war aus eigener Kraft Welle geworden, und die Vorstellung mochte frivol sein, auf ihrem Kamm oder ihrer Spitze reiten zu wollen. Keine Welle aber kann verharren, sie muss auslaufen, sich überschlagen oder niedergehen – sie kann nicht warten. Das Gastland aber erwies sich als geiziger Strand und versuchte, wenn immer möglich, sich den Wellen zu verweigern. Dabei war nirgends eine abweisende Küste sichtbar, und doch stemmten sich ihnen – jede Welle spürte das einzeln – unsichtbare Eisberge entgegen.

*

Nissim Nachtgeist nannte die fünfte Etage den Taubenschlag von «Fiedler und Genossen», tatsächlich aber war Herr Fiedler wohl der Einsamste unter uns. Er bewohnte das schlechte Nordzimmer neben dem WC. Seine Sprache war schwer zu verstehen, sie hatte für mein Ohr, das in der Comi an verschiedene Akzente gewöhnt wurde, steiermärkische Reste. Seine schwarzen Zähne glichen den schwarzen Krusten jener getrockneten Pilze, die er Frau Paksmann zu verkaufen versuchte. Die städtische Fürsorge hatte ihn in die Comi geschickt. Gelb im Gesicht schimpfte er auf seine ­Kinder, die ihn verlassen hätten. Er betätigte sich auch als Maler, und hängte manchmal eines seiner Bilder in den dunklen Korridor. Seltsam war, dass er sehr gereizt reagierte, wenn man das Bild anschaute. – «Sie wollen das wohl nachmachen, he?», rief er Nissim Nachtgeist nach, der es ­betrachtete.

Trotzdem lud ihn Nissim Nachtgeist zu einem Abend in sein Zimmer ein, zu einer Gala-Vorstellung für die «Erniedrigten und Beleidigten».

«Kommen Sie auch?», fragte mich Nissim Nachtgeist. «Gern, aber erst nach dem Nachtessen.»

Meinetwegen begann er mit der Vorstellung erst gegen halb neun Uhr. Er war wütend auf mein «Uhrwerk», das er ein deutsches nannte: «Vor dem Essen lief es mir leicht – jetzt – Sie werden es sehen – wird es eine mechante Quälerei. Ihr Deutschen mit eurem Einteilen, einteilen ist das halbe Leben, aber eben, nur das halbe!»

«Es ist Lampenfieber», flüsterte mir Elisabeth zu, «er muss für das Studententheater eine Szene ausprobieren.»

Ausser Olga, Herrn Fiedler und Elisabeth war noch der Italiener anwesend, der seit einiger Zeit auf der fünften Etage wohnte. Nissim Nachtgeists Darbietungen waren Lieder ohne Worte, jeder von uns konnte ihn verstehen. Er begann, indem er die Brille abnahm – wir hatten dabei das Gefühl, dass er von uns abrückte, und dadurch erschien uns das Zimmer grösser. Mit seinen Fingern, die er ein wenig vorstreckte, zeichnete er eine Kommode, ein Bett, Tisch und Stuhl; mit beiden Händen hielt er eine Lampe, und obwohl von alldem nichts zu sehen war, überflutete uns alle behagliches Licht. Nissim Nachtgeist war mittelgross, mit wenigen Bewegungen verwandelte er sich in ein junges Mädchen …

Das Mädchen in dem gezauberten Zimmer war müde; in Ruhe und mit althergebrachten Bewegungen deckte es das Bett auf und schüttelte sachte, wie Frau Holle, das Kopfkissen. Er schüttelte das Handgelenk, und obwohl nichts von einem Mädchenarm und einer Uhr zu sehen war, hörten wir ein feines Gezirpe beim Aufziehen. Stück um Stück ent­ledigte sich das Mädchen seiner Kleider. Nissim Nachtgeist war im Kampf mit dem Nichts; er war höchstens zwei Meter von uns entfernt, und wir fühlten seine Anstrengung um Abstand und Raum. Sein einziger Helfer war die fehlende Brille, sie gab ihm einen übermächtigen und distanzlosen Blick, sodass ihm seine Zuschauer entrückten, und das klägliche Zimmer zu einer Bühne werden liess.

Lange bürstete das Mädchen das lange Haar; mit erhobenen Händen liess die Gezauberte ein Nachthemd auf sich herabfallen. Die Ruhe des Mädchens war hinreissend, und Nissim Nachtgeist steigerte die Pedanterie des Vorgangs, indem er verweilte. Dann schob er seine runden Hände in gezauberte Seidenstrümpfe … prüfend hielt er das Gewebe gegen das Licht, das uns wie zarter Schaum erschien und zerstört werden konnte bei zu heftigem Zugriff … endlich legte sich das Mädchen schlafen.

 

Nissim Nachtgeist lag auf dem Fussboden, mit dem Kopf auf dem Wachstuchüberzug der «Bernina». Tastend rich­tete er sich auf und suchte nach der Brille … «Quälerei!» brüllte er, «ich wusste es!» – er will von unserem Lob gar nichts hören; für einen Augenblick hatte sich sogar auf Herrn Fiedlers gelbes Gesicht ein Lächeln geschoben, aber Nissim Nachtgeist drückte jedem von uns ein Teeglas in die Hand und hatte dabei den besorgten Gesichtsausdruck einer Hausfrau.

*

Aus Österreich waren neue Gäste angekommen, sie waren kinderreich und vermögend und bewohnten die grossen Zimmer im zweiten Stock. Endlich kam Geld in die Comi, die neuen Gäste zahlten sogar im Voraus.

«Jetzt gibt es wohl gute Trinkgelder», bemerkten die alten Pensionäre. Im Treppenhaus noch freundlich und gesellig, wirkten sie – allein in ihren Zimmern – schweigsam und verlassen. Einige von ihnen waren Bürger des Landes geworden, waren aber Dauermieter der Comi geblieben. Ihre Kinder waren im Lande Pestalozzis aufgewachsen und hatten manchmal selbst schon Kinder. Wenn die Enkelkinder die Grosseltern besuchten, lachten sie über deren Sprache.

Das Warten auf Nachrichten gehörte zum Lebensstrom der Comi. Sorgfältig wurden die Zeitungen gelesen; manchmal ungeduldig auf den nächsten Stuhl geworfen, oft auch schweigend zusammengelegt. Die neuen Gäste warteten auf den Bescheid der Fremdenpolizei oder die Entscheide der Flüchtlingshilfe. Nissim Nachtgeist, das wusste ich, verschwieg Elisabeth Vorladungen auf die Fremdenpolizei, damit sie sich nicht aufrege. Das Warten war wie eine Farbe, die überall durchschlug, ein Geruch, der sich ausbreitete. Wer wartete, kämpfte auch um das Vertrauen auf den eigenen Schlag, auf den er sich verlassen musste wie auf seinen Charakter, nachdem er alles andere verloren hatte.

«Wer wartet, wird blind für die nächste Umgebung», sagte Doktor Bardach, als ich ihn beim Fensterputzen auf die schöne Aussicht aufmerksam machte; man sah den See und die Berge, die wie aus Übermut mitten im Sommer Schneekappen trugen.

«Der Anblick einer schönen Landschaft kann sogar schmerzen»; der stille Mann ging nie spazieren. Wenn ihn seine kränkelnde Frau entbehren konnte, ging er eilig und mit kurzen Schritten in die Bibliothek, die sich im Innern der Stadt befand. Dort konnte er besser untertauchen als in der Comi unter seinesgleichen, und vielleicht war die Stadt barmherziger mit ihm als die schöne Aussicht, die ihm irgendwie seine Heimatlosigkeit vorhielt.

Zusammen mit Doktor Bardach wohnte auch der Oberregierungsrat Eiser auf der zweiten Etage, doch war er im Gegensatz zu dem stillen Doktor Bardach bei den Pensio­nären nicht beliebt. Vor allem kommentierte er die politische Lage in einer Weise, die allen auf die Nerven ging.

«Wir werden diesen Krieg, wenn er vom Zaun gebrochen werden sollte, verlieren.» – Herr Paksmann, der sich an den Gesprächen unter den Pensionären nur selten beteiligte, sah den kahlköpfigen Regierungsrat mit glühenden Augen an und sagte: «Was heisst hier wir, wir sind hier in der Mehrzahl doch vor allem Flüchtlinge. Sie entschuldigen», und verschwand in seinem Büro.

Völlig unerwartet für mich kam die Nachricht von Herta: «Liebe Lisette! Deine Mutter gab mir Deine Adresse. Ich mache eine Reise in die Schweiz, und unsere Gesellschaft macht Station beim Landesmuseum in Zürich. Gern möchte ich Dich wiedersehen. Deine Herta.»

Die Postkarte versetzte mich in Unruhe, obwohl ich an Herta seit meiner Ankunft hier nicht mehr gedacht hatte. Herta war die Älteste in der «Concordia» gewesen, und ihre Fettpolster hatten ihr den Spitznamen «Kanalschwimmerin» eingebracht. Sie war gut im Rückencrawl. Herta stammte aus Wismar und jaulte das L, wie es alle Mecklenburger tun. Zuletzt war sie in einer Gastwirtschaft in Altona als Küchenmädchen tätig gewesen.

Schwerfällig kam der deutsche Reisebus beim Landesmuseum an, Herta winkte mir zu – sie war dicker geworden.

«Gott sei dank sind wir mit dem Autobus gefahren und nicht mit dem Zug! Wer mit dem Zug fährt, riskiert, dass er am Bodensee ohnmächtig hinausfällt. Weisst du, sie nehmen für diese KdF-Reisen nicht die neuesten Züge.»

Herta trug ein Dirndlkleid.

«Du bist dünner geworden. Wohin gehen wir? Weisst du einen netten Ort?» Wir gingen ins Bauschänzli, das war ein bisschen wie Hamburg, mitten in der Stadt das Wasser.

«Wie lange hast du Zeit?»

«Zwei Stunden.»

Herta winkte zum Autobus zurück. Wir gingen das Limmatquai entlang.

«Schön ist es hier.» Sie schaute mich durch ihre dicken Brillengläser an: «Oder hast du manchmal Heimweh?»

«Manchmal – aber wie geht es dir?»

«Ich bin schon lange nicht mehr in Altona. Seit einiger Zeit bin ich Lehrschwester, und nach dem Examen wird mich die Organisation ‹Mutter und Kind› für den Lehrgang als Hebamme vorschlagen. Es wird viel getan. Du hättest nicht weggehen sollen. Als Oberhebamme, und darauf will ich mich vorbereiten, verdiene ich gut. Auch werde ich ein eigenes Zimmer haben.»

«Glaubst du, dass es zum Krieg kommt?»

«Wo denkst du hin – Deutschland ist arm.»

Wir sprachen von der «Concordia», und ich erinnerte sie an Ruth Havemann.

«Wie recht sie hatte, aus Deutschland wegzugehen.»

Herta nickte, ohne zu antworten. Ein Klecks Schlagsahne war auf ihr Dirndlkleid gefallen, und bekümmert versuchte sie, die Spuren zu entfernen.

Sie klagte über ihr Gewicht.

«Dabei arbeite ich wie ein Pferd.»

«Als Hebamme darfst du gar nicht schlank sein.»

«Weisst du, in der ‹Concordia› ist es auch nicht mehr wie früher. Alle haben zu tun, es gibt keine Arbeitslosen mehr. Bist du hier bei reichen Leuten?»

«Ja. Aber weisst du noch den Streit darüber, ob Ruth Have­mann beim Wettkampf noch starten sollte oder nicht? Die Mehrzahl der Klubmitglieder war dann dafür.»

«Ja, dafür. Aber du – ich muss langsam zurück zu meinen Leuten.»

Ich zahlte den Coupe Melba für Herta mit, sie hatte kein gültiges Geld. Ich zahlte selbstsicher, was mir nachträglich ihr gegenüber als schofel erschien – ich wollte, dass sie mich wenigstens in jenem Augenblick für einen Bürger des Landes hielt.

Wir gingen über den Bürkliplatz und dann auf die Bahnhofstrasse, in entgegengesetzte Richtung als bei meiner ­Ankunft … «Mensch, die Preise!», rief Herta beim «London-House». Bei «Salamander» blieben wir vor den grossen Schaufenstern stehen.

«Ich dachte, «Salamander» gibt es nur in Deutschland? Wunderbare Schuhe, schick.» Sie kramte in ihrer Tasche, die an einem langen Lederriemen über ihrer Schulter hing. «Hier – ein Brief von deiner Mutter, du kannst ihn ja nachher lesen, und das Päckchen …»

Wir gingen eilig zum Landesmuseum, die Mitreisenden schienen auf Herta zu warten. Als sie sie sahen, stiegen sie rasch ein.

Herta sass direkt hinter dem Fahrer und nickte mir von dem hohen Sitz herunter ernst zu. Sie hatte sich ein weisses Kopftuch umgebunden. Der ungelesene Brief gab dem ­Abschied Unruhe, ihr nachwinkend wartete ich darauf, dass sie sich schneller entferne.

«Mein liebes Kind! Herta weiss nichts vom Inhalt dieses Briefes, es ist besser so. Hans ist verhaftet worden. Wir haben herausbekommen, dass er nicht in Fuhlsbüttel, sondern an den Hohen Bleichen, im Stadthaus ist. Ich bitte Dich: Kannst Du ihm helfen? Jetzt bin ich doch froh, dass Du im Ausland bist. Dabei wollten sie ihn für die SS anheuern, wegen seiner Grösse, er war sehr froh um diese Geschichte damals mit dem Kartoffeldiebstahl in Glinde, der Bauer hatte ihn an­gezeigt, und so war er doch nicht ‹würdig›. Um auf andere Gedanken zu kommen, mache ich Dir schon im Voraus Dein Geburtstagsgeschenk, auch, weil Herta es mitnehmen kann. Ich komme mit den Zollvorschriften nicht zurecht und möchte jetzt so wenig wie möglich auffallen. Du wirst, wie ich, Dein Leben lang prünen müssen, und darum wirst Du das Nadelbuch gebrauchen können. Bitte, schreibe uns bald, und sei vorsichtig.»

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