Buch lesen: «Der siebenstufige Berg», Seite 2

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»Er war plötzlich ein anderer. Groß, schlank, von dieser merkwürdigen Elastizität in jeder Bewegung, wie sie die Raubkatzen haben. Langschädel, Adlernase, mager, die Lippen geschlossen. Also wer ist das, Kate?«

»Joe King. Fehlten nur Pistole, Stilett, Jagdgewehr, Lasso und irgendein unbändiger Hengst.«

Eve Bilkins ließ sich selbst mit einem Seufzer zusammenfallen.

»Kate, ich bin nicht hierher gekommen, um mir Ihren Spott anzuhören.«

»Aber Eve! Was ist überhaupt los? Warum sollen sich zwei Indianer nicht ähnlich sehen?«

»Still, still, Kate, ich weiß alles, was Sie zu sagen haben. Ich kann Ihnen sogar noch mehr verraten. Die Schwester des alten King war Hughs Mutter. Aber darum geht es nicht, darum geht es ja überhaupt nicht! Mahan hat sich einfach verwandelt, vor meinen Augen verwandelt, und ich sage Ihnen, ich war wie vor den Kopf geschlagen. Alles wird wieder von vorn anfangen: der Ärger, die unerwarteten Angriffe, meine Hilflosigkeit – die Verwirrung der ganzen Verwaltung – die Aufregung der Jugend – und gerade jetzt …«

» … gerade in dem Augenblick, in dem wir die Zügel wieder straffer ziehen und die widerspenstigsten der Pferde daher bocken werden.«

»Sie haben es endlich erfasst, Kate. Ich habe diesem Mahan vertraut – nach fünfzehn Jahren Erziehung in unseren Internaten musste ich ihn zu uns rechnen, zu den zivilisierten Menschen; dieser Meinung war auch Hawley gewesen. Ich habe Mahan also für einen Angestelltenposten der Verwaltung vorgeschlagen. Carr hatte gleich Bedenken; er bringt überhaupt alles durcheinander und infiziert mich von neuem mit dem Misstrauen gegen die Indianer, das ich halbwegs überwunden hatte. Und dann tritt dieser Indianer wirklich alle meine Hoffnungen mit einer kleinen Bewegung seiner Fußspitze aus … und Carr schiebt ihn mir zu – als Erzieher in der Vorschulklasse! Was wird Hugh Mahan dort alles anrichten? Ich trage künftig in meinem Ressort die Verantwortung für diesen Menschen.«

»Ebenso wie Chester Carr für seinen Sohn.«

»Von dem habe ich auch gehört. Ach, mir geht ein Licht auf. Deshalb reagiert unser Superintendent derart allergisch, wenn ein Indianer die Haare lang trägt. Aber was hilft das alles mir? Ich wollte mich schon einmal von dieser Reservation wegmelden. Ich werde es tun.«

»Sie werden es nicht tun, Eve. Sie werden weiterhin die Wilden erziehen, was ein ganz vergebliches Unterfangen ist, denn sie wollen zwar lernen, aber sie wollen nicht von uns erzogen sein. Wann werden wir das endlich begreifen?«

»Sie arbeiten ja selbst mit, Kate.«

»Wohlfahrtswesen, meine Liebe. Das ist etwas anderes. Haben Sie Ihrem Mahan übrigens in die Augen gesehen?«

Eve Bilkins überlegte.

»Nie.«

»Nun, dann wappnen Sie sich. Vielleicht hat er auch Joe Kings Basiliskenblick. Obgleich ich es kaum glaube, zu Ihrer Beruhigung. Nach fünfzehn Jahren Internat werden seine Augen nur noch Asche sein.«

»Schrecklich, Kate.«

»Ja, schrecklich. Wie hat sich Ihr Schützling Carr gegenüber verhalten?«

»Ja – nein – ja. Durch und durch verbockt und ebenso korrekt.«

»Anders als Joe King.«

»Allerdings. Wenn Joe King und Carr sich einmal gegenüberstehen, nun – so möchte ich das Gespräch lieber nicht mit anhören.«

»Nein, lieber nicht, Eve. Denn Kings Büffelzucht soll aufgelöst werden. Unser Superintendent hat Bericht angefordert und Shaw hat die Anforderung in diesem Sinne weitergegeben. Haverman wird sich sträuben, denn er konnte die Büffelzucht als einen Erfolg seines Dezernats für Ökonomie auslegen. Aber das Sträuben hilft ihm nichts.«

»Aber, Kate, wieso denn nicht? Was für Argumente kann Shaw überhaupt vorbringen?«

»Argumente? Lassen sich doch leicht finden, Eve, wenn man sie nur finden will. Büffel sind noch immer wild, das Hüten ist schwer, Joe hat nicht mehr die Leute dazu, da man ihm einen Buffalo-Boy nach dem anderen wegholt zum Militär oder ins Gefängnis. So macht man auf durchaus konsequente Art die Büffel zu einer öffentlichen Gefahr für Nachbarn und Passanten. Also! Ein Indianer kann eben keine Büffelranch führen, obgleich die Crow zum Beispiel eine Herde von tausend Büffeln haben. Büffelranches sind aber nach Mr Shaws Auffassung, der Mr Carr ohne Zweifel zustimmen wird, eine Sache der weißen Rancher und nicht die Sache gewisser Indianer, die zu allem auch noch selbst militant auftreten.«

»Hat King wieder Unruhe gestiftet?«

»Carr hat in den Akten den Bericht über die Häuptlingsversammlung gefunden, bei der King als Begleitperson unseren Chief Jimmy auf eine nicht ganz legale Art – deutlich gesagt, auf dem Umwege über Canadian Imperial Whisky – dazu bestimmt hat, eine Protestresolution zu unterschreiben. Ja, und wenn Carr schon, durch einen Büffel aufgestört, sich die Akte King vornahm, so hat er natürlich auch noch einiges mehr entdeckt. Kings Widerstandsnester sollen ausgerottet und sein Ansehen im Stamm soll gemindert werden.«

»Müssen dazu durchaus die Büffel herhalten?«

»Doch nicht diese allein, Eve. Sie werden in Ihrem Ressort ›Erziehung‹ auch noch einiges erleben. Aber die Büffel sind offenbar zuerst dran.«

»Sie auf unsere Reservation zu bringen war immerhin eine Pioniertat.«

»Pioniertaten, Eve, sind nur im Fernsehen schön anzusehen, im Leben sind sie stets prekär und angreifbar. Und die Vernichtung des Erfolges trifft die Pioniere ins Herz. Was ist Joe King ohne Büffel? Er ist in den Augen des ganzen Stammes nicht mehr derselbe.«

»Der President und der Stammesrat werden Joe und seine Büffel verteidigen.«

»Eve, reden Sie nicht ins Blaue hinein. Sie wissen doch, dass der Exekutivausschuss des Stammesrates neu gewählt ist, das wurde rechtzeitig vor Carrs Amtsantritt durchgesetzt, und Chief President Jimmy, der neuerdings ungestraft saufen darf und achttausend Dollar Jahresgehalt von uns bezieht, ist der Mann für Carr. Er hat seinen Nacken immer gebeugt und wird ihn weiterhin beugen.«

»Kate, Sie haben leider mit allem recht.«

»Natürlich. Und Sie, Eve, werden mich in dieser Katastrophensituation nicht verlassen. Oder?«

»Nein. Es ist wohl meine Pflicht auszuhalten.«

»Okay. Ein Mittagessen mit offenem Gespräch wird uns beiden also erhalten bleiben. – Übrigens hat unser FBI-Agent über den Sheriff in New City eine Spur gefunden, wer die beiden verdächtigen Gestalten gewesen sein könnten, die Clyde Carr aufgelesen und in seinem blumenbemalten Auto mitgenommen hatte.«

»Ah?« Eve Bilkins lebte bei dem Themawechsel auf. »Erzählen Sie.«

»Blutjunge Burschen, ein Mulatte und ein Weißer. Sie hatten einen pensionierten Gefängnisaufseher ermordet, wahrscheinlich aus nachträglicher Rache für den Tod eines ihrer Gefängniskumpane. Sie wurden zum Tod in der Gaskammer verurteilt – vor der Hinrichtung sind sie ausgebrochen, was auf ungewöhnlich gute Verbindungen schließen lässt. Die beiden waren vor Jahr und Tag in jene Ereignisse in den Hills verwickelt, als die grünäugige Rauschgiftschmugglerin Esmeralda ums Leben kam. Daher wusste der Sheriff noch von den beiden.«

»Ich erinnere mich an die Geschichte. Ich erinnere mich! Joe wurde in die Sache hineingezogen, nur weil er bei unserem biederen Bill Krause im Busch übernachtet hatte. Zwei junge Gangster sollten gegen ihn aussagen.«

»Wollten es aber trotz scharfer Verhöre nicht. Sie brachen lieber aus.«

»Und diese beiden jetzt in Clydes Wagen? Interessant, Kate. Hochexplosiv. Nun ist mir Carrs Laune ganz erklärlich. Was ist aus den beiden geworden?«

»Wieder entkommen. Die beiden Indianerpolizisten haben die drei in ihrem Flower-Power-Auto einfach fortgeschickt, sie von der Reservation verwiesen. Für Clyde Carr lag eine entsprechende Verfügung des Superintendenten bei der Polizei, und die Jungs hatten falsche Papiere.«

Eve schaute auf die Uhr.

»Die Mittagszeit ist um, Kate.«

»Leider.«

Kate Carson räumte ab, und die Kolleginnen querten in Kate Carsons Wagen die Straße, um sich wieder in das gegenüberliegende Bürohaus der Dezernenten zu begeben. Sie entdeckten dabei unter wenigen anderen Passanten den ihnen wohlbekannten Joe King, der auf das Polizeigebäude zuging. In schwarzen Jeans, schwarzer Jacke, den schwarzen Cowboyhut auf dem Kopf, fiel er auf.

Im Schaft des rechten Stiefels steckte das Stilett, das derjenige bemerken konnte, der davon wusste, und Eve Bilkins wusste davon. Unter der Jacke pflegte er im Achselhalfter Pistolen zu tragen, deren Besitz ihm zum Selbstschutz erlaubt war. Er war als sehr junger Bursche Mitglied einer Gangsterbande gewesen, hatte sich aber davon getrennt und befand sich daher in steter Lebensgefahr von seiten der Gangs.

Da Kate Carson, die am Steuer saß, stoppte und das Fenster herunterließ, entschloss sich King nach einigem Zögern, zu dem Wagen heranzukommen.

»Ärger, Mr King?«

Kate Carson fragte, während Eve Bilkins betont unbeteiligt nach der anderen Seite schaute.

»Warum soll ich Ärger haben, Mrs Carson?«

»Weil Sie zur Polizei gehen.«

»Ein Wagen ist mir abhanden gekommen.«

»Gestohlen?«

»Sagen wir, ausgeliehen, als ich gerade auf die Weiden geritten war. Er wird wohl irgendwo abgestellt werden. Ich möchte ihn wiederhaben.«

»Welchen?«

»Den Jaguar.«

»Hey! Verdacht?«

»Aber nein.«

»Joe, Sie bleiben immer derselbe. Vielleicht finden Sie das Ding blumenbemalt wieder.«

Ein Zwinkern huschte über die Augen des Indianers. »Seien Sie nicht so respektlos gegen die Familie Ihres Vorgesetzten, Mrs Carson.«

»Wissen Sie übrigens, Mr King, dass Sie einen Doppelgänger mit Collegebildung haben?«

Joes Ausdruck veränderte sich; er schaute die Sprecherin nicht mehr an, sondern blickte über seine Umgebung hinweg.

»Kaufen Sie einen scharfen Kamm, Mrs Carson«, sagte er endlich, »die Zeiten sind lausig. Und vergessen Sie nicht den Dienstbeginn. Fraternisieren mit Farbigen und Privatgespräche mit einem Joe King sind für Beamte nicht angebracht.«

»Bye, Mr King.«

»Bye.«

Als Kate den Wagen wieder in Bewegung setzte, um in ihren Parkplatz zwischen den Dienstwagen einzufahren, bemerkte sie dabei zu Eve: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie in eine unangenehme Situation gebracht habe. King hat natürlich recht. Aber ich musste wieder einmal etwas tun, was für die Verwaltung schockierend ist. Manchmal kommt das über mich.«

Der Mann, der die Wahrheit spricht

Am Tage nach diesen Ereignissen und Gesprächen stand Eve Bilkins früh auf. Sie wohnte in einem der größeren Beamtenhäuser, das sie mit einem älteren kinderlosen Ehepaar, dem Dezernenten für Wirtschaft und seiner Frau, teilte.

Sie kämmte heute, so wie immer, das blonde Haar sorgfältig, gab Rouge auf Wangen und Lippen und pflegte Hände und Nägel. Ihr Frühstück, das sie sich selbst bereitete, bestand seit Jahr und Tag aus nichts anderem als einem gekochten Ei, Butter, Marmelade, Toast und Tee. Gesättigt und durch sich selbst ermutigt, holte sie ihren Dienstwagen aus der Garage am Haus.

Die betonierte Straße, auf der sie die Agentursiedlung verließ und in den stillen Präriemorgen hineinfuhr, war eben dieselbe, die Chester Carr auf seiner Besichtigungsfahrt benutzt hatte und auf der er dem Büffelbullen begegnet war. Eve Bilkins nahm heute weder Büffel noch Cowboys wahr. Sie beschleunigte auf knapp sechzig Meilen pro Stunde, um die Schule, der sie zustrebte, genau zur verabredeten Zeit zu erreichen.

Das Gebäude der Tagesschule, das anschließende kleine Internat, die Lehrersiedlung, ein nutzloses Staubecken und der Pausenspielplatz für die Schüler lagen im Herbstsonnenschein, sauber und abgezirkelt, wie Kinderspielzeug, aufgebaut in der noch immer nicht gebrochenen Wildheit der Prärie. Der Wind hatte sich versteift. Eve Bilkins parkte ihren Wagen auf dem Vorplatz der Schule und band ihr mexikanisches Spitzenkopftuch fester um ihr Haar, das der Wind in Unordnung bringen wollte.

Sie hatte sich bei dem Rektor, der der Tagesschule und dem Internat vorstand, schon am vergangenen Tag telefonisch angemeldet und wurde sofort empfangen. Rektor Snider, schlank, mittelgroß, mit kurz gehaltenem braunem Haar, saß in seinem Dienstzimmer, in dem er seine Vorgängerin, die indianische Rektorin Holland, abgelöst hatte. Einziger Wandschmuck in dem zweckmäßig eingerichteten Raum war das Bild des derzeit amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten. Der neue Rektor begrüßte seine junge Vorgesetzte höflich, und Eve nahm Platz.

Als Snider das Schreiben gelesen hatte, das Eve Bilkins ihm persönlich überbrachte, versäuerte sich seine Miene.

»Aber Miss Bilkins! Einen Mann mit solchem College-Abschluss wollen Sie zum Erzieher für Kleinkinder machen? Schicken Sie ihn lieber auf die Universität. Hier wird er nichts als ein unzufriedenes Element!«

»Ich habe keine Stipendienplätze mehr. Die Sache ist entschieden, Mr Snider.«

Schatten liefen wie Spinnenfüße über die Züge des Rektors. »Ich werde diesen Mahan also verdauen müssen. Jetzt, nach Beginn des Schuljahres! Nachdem alle und alles, Schüler, Lehrer, Schulräume, bereits eingeteilt sind. Nun, ich werde sehen. Morgen kommt er also. Ich verstehe. Okay.«

Eve Bilkins atmete auf. Sie hatte die Verantwortung für diesen Hugh Mahan, die Carr ihr zugeschoben hatte, an Snider weitergeleitet.

Sie übergab dem Rektor Mahans sämtliche Papiere einschließlich ihrer nach Carrs Wünschen umgeschriebenen Beurteilung. Sie vermied es, den Rektor anzusehen, während dieser die Beurteilung aufmerksam las.

»Ah, Miss Bilkins. So liegt diese Sache. Man macht meine abgelegene Schule hier zu einer Art Strafkolonie. Ich habe schon einen indianischen Taugenichts als Erzieher hergesetzt bekommen. Sie wissen ja.«

Eve enthielt sich jeder weiteren Äußerung. Sie erhob sich, um der Situation zu entgehen, die ihr selbst peinlicher war, als Snider ahnen konnte.

Der Rektor begleitete die Dezernentin hinaus zu ihrem Wagen. Als er zum Schulgebäude zurückkehrte, schrillte eben die Klingel; die kleine Zwischenpause hatte begonnen. Snider begegnete im Gang einer sehr jungen Lehrerin. Sie hatte die ersten Jahrgänge der regulären Schulausbildung übernommen. Diese junge Frau in den Zwanzigern mit ihren blauen Augen und ihren kastanienfarbenen Locken nahm sich nett aus, und Snider sprach sie an, da ihm ihr tief enttäuschter Ausdruck nicht entgangen war.

»Schon wieder Schwierigkeiten, Miss Hay?«

»Zum Verzweifeln, Mr Snider. Man hat mir in Washington nicht zu viel gesagt, als man mir bedeutete, dass ich zu einem verlausten, schmutzigen und feindseligen Volk komme. Die Kinder wollen kein Englisch verstehen. Als Babys schon müsste man sie ihren Eltern wegnehmen!«

»Das geht leider nicht. Aber seien Sie zuversichtlich, Miss Hay.« Snider hatte die Maske seines Lächelns wieder aufgesetzt. »Morgen stelle ich einen weiteren Erzieher für die Anfängerklasse ein. Einen Mann mit Collegebildung. Seine Aufgabe wird es sein, den nächsten Jahrgang so vorzubereiten, wie Sie es wünschen.«

»Wer ist der Kollege?«

»Ein Mr Mahan. Allerdings Indianer.«

»Hoffentlich nicht von hier.«

»Doch, leider.«

Die junge Lehrerin seufzte, nicht auffällig, aber doch vernehmlich. Dann straffte sie sich unwillkürlich.

»Mr Snider, ich habe zwanzig Prozent Sitzenbleiber in meinen Klassen, ein schreckliches Hindernis. Könnte man diese unfähigen und stumpfsinnigen Kinder nicht in die Vorschulklasse zurückstufen? Zu Mr Mahan? Vielleicht gelingt es ihm, seine Stammesgenossen das Lernen zu lehren.«

Snider war mit dem Vorschlag der nach Erfolg dürstenden jungen Lehrerin sehr zufrieden. Sie hatte das Rätsel gelöst, welche Kinder er dem zu spät eintretenden Erzieher zweckmäßigerweise zuschieben könnte. Er würde ihr die Aufgabe übertragen, Mahans Leistungen anzuregen und zu überprüfen. Die unliebsame Verantwortung war wiederum abgeschoben; Miss Hay hatte in ihrem Eifer den »Schwarzen Peter« gezogen, den Snider ihr in dem verdeckten Kartenspiel hinhielt.

Hugh Mahan, der Mann, der durch sein bloßes Dasein die Beamten beschäftigte und verärgerte, kam an dem Abend vor seinem Dienstantritt zu seiner heimatlichen Blockhütte. Es war nach siebzehn Jahren die fünfte Nacht, die er dort verbringen wollte.

Die Blockhütte der Familie Mahan lag fernab von Schule und Agentursiedlung. Um Schutz vor den Präriestürmen zu finden, hatte der Urgroßvater sein Lederzelt am Fuß eines Präriehügels aufgeschlagen. Das war vor achtzig Wintern geschehen, als die großen Häuptlinge ermordet, Männer, Frauen und Kinder zusammengeschossen waren oder hungerten – und sich der Friede der Unterwerfung über die Prärie gelegt hatte wie tödlicher Mehltau über Gras und Blumen. Der Urgroßvater war aus den Kämpfen heimgekehrt, hatte gewartet und geschwiegen. Als aber die Büffel und die Toten nicht mehr auferstanden, hatte er eine Axt genommen, wie die Watschitschun, die Geister, sie gebrauchten, er hatte eine Blockhütte an dem Hügel gebaut, an dessen Hang sein Zelt gestanden hatte; er hatte Jahr um Jahr gehungert, gegrübelt und mit leiser Stimme von den Taten der großen Krieger und Jäger gesprochen und gesungen, von der heiligen Pfeife, die wohlverborgen war, und von Wakantanka, dem Großen Geheimnis. Seine Pferde hatte er im Krieg verloren, er war ein armer Mann geworden. Sein Sohn, der Großvater, züchtete Kühe und erwarb wiederum Pferde, mit den Füllen wurden es zehn. In dem Jahr der großen Heuschreckenplage verhungerten die Kühe, und es blieben zwei Pferde übrig. Das Gras wuchs nach, aber es mangelte an Wasser, und die Watschitschun sprachen viele Worte, um den Großvater zu bewegen, dass er einen Brunnen baue. Er baute ihn, doch verstand er wenig davon, und die Stelle war ungünstig. Der Schacht brach ein; es blieb nur ein Sumpfloch übrig. Der Vater wurde von den Watschitschun geholt; er kämpfte in einem großen Kriege der weißen Männer gegen weiße Männer; er sah und verstand viel von dem, was ihm vorher verborgen gewesen war, und er kam wieder. Aber er war krank geworden, und schließlich starb er. Er war ein starker und zäher Mann gewesen, und sein Siechtum hatte zehn Jahre gewährt. Zwei seiner Kinder wurden von dem Sumpfloch verschlungen, als des Nachts die Lichter darüber tanzten und sie irreführten. Zu der Zeit, als er starb, war das letzte seiner Kinder, sein Sohn Hugh, nicht bei ihm. Die Watschitschun hatten das Kind in ihr Schulgefängnis verschleppt, und der Vater selbst war hinter Mauern und Gitter gebracht worden, weil er seinen Sohn zwei Jahre lang versteckt hatte.

Ena, die Mutter und Witwe, war allein geblieben mit der alten Blockhütte und mit dem alten Zelt; sie hütete und pflegte die beiden Pferde, die um ihren Reiter trauerten. Den Namen Ena-inayin hatte sie erst um diese Zeit empfangen. Als sie jung gewesen war, hatten Vater und Mutter und Mann sie Hetkala-win, das Eichhörnchen-Mädchen, gerufen, denn sie war zierlich und flink. Nun aber hieß sie Ena-inayin, »Steht-eben-hier«, denn Abend für Abend und Morgen für Morgen »stand sie eben hier«, oben auf dem Hügel, der Zelt und Hütte schützte, und sie schaute über das Land ihrer Ahnen und wartete auf die Träume, in denen ihr Mann ihr begegnete, und sie wartete, ob der Sohn wieder zu ihr kommen würde, der fern und unter den Feinden allein war. Der Name, mit dem sie an ihn dachte, lautete Mnisol-iyaya: »Der-fortgegangen-und-nicht-wiedergekommen-ist«. Ena-inayin hatte zwölf Sommer und zwölf Winter auf das letzte ihrer Kinder gewartet. Als der Sohn sich ihr wieder gezeigt hatte, war er von einem hässlichen Ausschlag befallen, den sie für einen Zauber der weißen Männer hielt und den sie nicht vertreiben konnte, obgleich sie heilkundig war.

Sie hatte ihren Sohn nicht angenommen, so wie eine Vogelmutter, die das Junge verlässt, das von fremder Hand berührt ist. Mnisol-iyaya war wieder gegangen, und es währte fünf Sommer und Winter, bis er abermals zu der Mutter und zu der Hütte kam. Fünf Tage und Nächte war es her. Ena-inayin hatte die Hütte mit dem Reisigbesen gereinigt und nicht aufgeschaut. Leise war Mnisol-iyaya gekommen, still hatte er am Eingang gewartet. Als sie ihn erblickte, erkannte sie ihn.

Seine Haut war wieder gesund. Das Herz stockte ihr, und ihr Kopf fühlte sich leer an. Sie wankte, aber nur ein wenig. Dann stellte sie den Reisigbesen beiseite und fachte das Holzfeuer in dem kleinen Ofen an, der auch als Herd diente. Sie hatte nichts als Mehl, ein wenig Fett und ein paar getrocknete Beeren zu Hause; daraus bereitete sie ein geschmackloses Mahl, aber der Sohn aß ohne Zögern. So war es gewesen. Fünf Tage liefen dahin. Der Sohn hatte mit der Mutter zusammen das lederne Zelt aufgestellt, denn er mochte nicht in einem Hause sein, und er nannte seine Mutter Hetkala, das Eichhörnchen, denn von dem Namen Ena-inayin hatte er noch nichts erfahren.

Fünf Tage waren dahin, und der letzte Abend kam, ehe der Sohn wieder in das Schulgefängnis gehen musste. Er war noch einmal in die Prärie hinausgeritten. Ena stand am Zeltausgang und schaute nach Osten, wo es schon dunkelte. Der letzte der fünf Tage, die der Heimgekehrte bei ihr sein konnte, war ein feierlicher Tag für sie; sie hatte über Rock und Bluse den großen Schal gelegt und um die Stirn das Band genommen, auf das die Zeichen des heiligen Stufenberges gestickt waren, nicht mit den Perlen der weißen Männer, sondern mit den gespalteten Borsten des Stachelschweins wie von alters her. Sie schaute in den Abend mit dem Blick, mit dem sie siebzehn Jahre geschaut und gewartet hatte. Es war keine Frage mehr darin und keine Hoffnung, nur ein großes Sterben und ein großes Verwundern; und niemand mochte etwas sagen, wenn er in die Augen Enas gesehen hatte.

Vor dem dunkelnden Himmel, zwischen den in der Dämmerung schwimmenden Wellen der Prärie, tauchte der rückkehrende Reiter auf; leise klopften die Hufe im Galopp über den Wiesenboden. Er hielt an, sprang ab, versorgte das Pferd und kam zum Zelt. Das Feuer glühte unter der Asche; Fleischstreifen hingen am Spieß und rösteten; der Sohn setzte sich und aß die letzte, die schmackhafte Mahlzeit. Danach ging er wieder hinaus und trank die Luft der Prärie, den Wind, der weither kam und rein war, und den Duft von Kiefernharz und vertrocknetem Gras. Da er der Mutter winkte, mit ihm zu kommen, gingen sie miteinander auf den Hügel hinauf. Sie schauten gegen Westen, wo die Sonne in Blutfarbe und heiligem Gelb ihr Leben verströmte. Es war die Sonne der Prärie und der Wüste ihrer Kinder. Die Mutter nannte ihren Sohn zum ersten Mal mit seinem wahren Namen: »Wasescha.« Das hieß Rot, rote Zeichen für das Antlitz des Kriegers, es hieß Blut, Leben und Tod zugleich. Sie hatte den Namen siebzehn Jahre hindurch nicht mehr zu denken gewagt, ihr Sohn hieß Mnisol-iyaya, »Der-ging-und-nicht-wiederkam«. Aber nun war er da, die Krankheit der weißen Männer hatte ihn verlassen, und sie hatte den Namen Wasescha gesagt. Er antwortete ihr, als ob er einen Befehl empfangen habe: »Ho-je«, ja, so, wie du es wünschst.

Seine Mutter war für ihn eine Geheimnisfrau geblieben, die mehr wusste, als er bei den weißen Männern hatte lernen können. Er achtete sie. Ihr Körper war mager und verkümmert, aber ihre Seele war noch lebendig. Sie hatte ihn angesehen, sie hatte nichts gefragt und um nichts gebeten, aber sie nannte ihn mit seinem wahren Namen, nachdem sie ihn wiedererkannt hatte. Sie schliefen noch einmal in dem Zelt, das die Urahnen gebaut hatten, unter der Haut des Büffels, unter den Zeichen großer Taten. Als es noch finster, aber Mitternacht schon drei Stunden vorüber war, machte sich Wasescha, den die weißen Männer Hugh Mahan nannten, auf den Weg. Die Mutter gab ihm ein Stirnband mit dem Zeichen des Donnervogels und des Tipis mit, Zeichen des Zeltes, der Heimat, des Mutterschoßes. Er nahm kein Pferd, sondern ging zu Fuß, schnell, mit großen, leichten Schritten, ohne sich noch einmal umzusehen. Er wählte den Weg über den Hügel westwärts, und die Mutter ging ihm langsam nach bis zur Kuppe; da blieb sie stehen und schaute ihm noch nach, und sie stand und schaute, bis die Sonne aufging und sie von hinten mit ihren Strahlen packte, wärmte, umleuchtete und mit ihrem hart und lebendig gewordenen Licht die Träume auflöste. Da erst kehrte Hetkala um, nahm sich das eine ihrer Pferde und ritt ostwärts, um Wasser zu holen. Ihr Weg führte an dem Sumpfloch vorbei, das zwei ihrer Kinder verschlungen hatte. Doch es war Tag und die Lichter tanzten nicht.

Heyoka, der Schelmengeist, huschte um die Kiefern, als Hetkala mit dem gefüllten Wassersack zurückkehrte. Er war ein kleiner Kerl, der alles umkehrte, im Winter ging er nackt, im Sommer trug er seinen Mantel. Heute wusste er wohl nicht, ob noch Sommer oder schon Winter sei, und schlug seinen Mantel auf und zu. Er will ein Lächeln in meine Augen zaubern, obgleich ich traurig bin, dachte Hetkala. Sie dankte ihm, indem sie freundlich nach ihm schaute, und Heyoka verschwand; er hatte sein Werk getan. Ein Eichhörnchen sprang und kletterte an der Kiefer hinauf.

Am folgenden Morgen um 7 Uhr 30 stand Hugh Mahan, dessen wahren Namen kein weißer Mann kannte, vor Rektor Snider und seinem Schreibtisch. Ihm zur Seite stand Evelyn Hay; sie reichte ihm nicht bis zur Schulter. Hugh Mahan trug seine Jeans, niedrige Stulpenstiefel, sein lederfarbenes Hemd und eine Lederweste darüber. Das indianisch gestickte Band war um seine Stirn gelegt und hielt das dichte schwarze Haar, das knapp bis zum Nacken fiel.

Hugh Mahan erhielt seine Anweisungen und sagte »Ja«. Er konnte mit seinem kleinen Koffer in einen Raum mit vier Schlafstätten gehen; je zwei waren übereinander gebaut. Auf einer der unteren lagen Matratze und Bettzeug für Hugh; an der Wand standen die vier schmalen Schränke, alle unbelegt. Der allgemeine Duschraum befand sich nebenan.

Hugh dankte dem Schüler, der ihm den Raum gezeigt hatte, mit einem Kopfnicken, stellte sein Köfferchen in einen der Schränke und ließ sich zu dem Schulraum geleiten, in dem fünf Mädchen und neun Jungen unter Aufsicht von Evelyn Hay auf ihn warteten.

Es befanden sich eine Tafel im Raum und zwei Gestelle mit Fibeln, Bilderbüchern, Zusammensetzspielen und Matten, die man als Sitzgelegenheiten auf den Boden legen konnte. Stühle oder Tische waren nicht vorhanden. Die vierzehn Kinder waren sieben bis acht Jahre alt, braunhäutig, schwarzhaarig, dunkeläugig. Sie standen mit herabhängenden Armen und Händen da; sie hatten gelernt, dass man in diesem Haus auf diese Weise vor den Lehrern stehen musste. Hugh wusste das nur zu gut. Ein Junge erschien verstört, die anderen störrisch. Die Mädchen wirkten abwesend; nur ihre Körper waren da, nicht ihre Seelen. Vielleicht träumten sie vom Mond. Evelyn Hay konnte das nicht wissen und nie erfahren. Aber jetzt kamen die ungewissen Gedanken der Kinder aus der Ferne wieder herbei, und sie schauten alle auf den groß gewachsenen Indianer, der ein indianisches Stirnband trug, und er beantwortete ihre stumme Frage mit einem beredten Blick. So, wie er den Schüler verabschiedet hatte, verabschiedete er jetzt auch die junge Lehrerin, mit einem Kopfnicken und einem »Okay«. Sie hatte vorgehabt, ihrem neuen Kollegen ihre zusätzlichen Anweisungen und Wünsche vorzutragen, und sie wusste selbst nicht, warum sie das unterließ und auf sein »Okay« hin einfach ging. Er war ein merkwürdiger Mensch. Sie hatte sich von seinem Verhalten bestimmen lassen.

Hugh Mahan wandte sich den Kindern zu. Diese Jungen und Mädchen hatten ein großes Erschrecken und eine große Beschämung hinter sich; sie hatten in ihrer Klasse das Ziel nicht erreicht, und nun waren sie das zweite Mal herausgenommen und wieder zu Vorschülern gemacht worden. Zwei Jahre länger als die anderen mussten sie in das Schulgefängnis gehen und den Watschitschun gehorchen. Diese Kinder hatten schon gelernt, sich zu verschließen. Vielleicht ahnten sie auch schon, was hassen heißt. Hugh sprach die Kinder mit leiser Stimme an. Er durfte nicht in ihrer Muttersprache mit ihnen sprechen, das hatten die Watschitschun streng verboten. Aber die Sprache der Sieger und Vormunde klang aus seinem Munde anders, sanfter, ruhiger und zugleich herber; auch in der Fremde hatte sich dieses besondere Klingen nicht verloren, das die weißen Männer einen Akzent nannten. Die Kinder verstanden den Mann aus ihrem Stamm. Eines begann sich zu rühren, dann das nächste, sie lebten auf. Er spielte mit ihnen. Seine Hände waren behutsam und geschickt, so wie die der Kinder, und sie wussten nicht, dass sie von ihm lernten.

Um zwölf Uhr rief die Klingel zur Mittagspause. Man hatte Hugh Mahan nicht zu sagen brauchen, was zu tun sei, er wusste es. Wie alle Lehrer und Erzieher, so ordnete auch er seine Schützlinge in einer Reihe an, ein Kind hinter dem anderen, und ging mit ihnen schweigend zu der großen Essenshalle. In dem lichten Raum standen lange Tische und viele Stühle genau ausgerichtet bereit. Rektor Snider hatte sich eingefunden und überwachte alle Vorgänge mit dem gewohnten Blick, der dem eines Offiziers glich, der seine Truppe antreten sieht.

Lehrer und Kinder stellten sich an der Essenausgabe an; jeder Lehrer und jedes Kind nahm sich ein Tablett und erhielt der Reihe nach Frikadellen aus Büffelfleisch, das die Verwaltung der Büffelherden in den Hills für die Schulen lieferte; dazu Kartoffeln, Gemüse, Süßspeise mit Vanillesoße und ein Glas Milch. Das Essen musste aufgegessen und das Glas Milch ausgetrunken werden; das wussten die Kinder.

Hugh Mahan saß mit seinen vierzehn Zöglingen an einem Tisch, an dem sich noch ein zweiter Erzieher mit seinen fünfjährigen Vorschülern eingefunden hatte. Er hieß Warrior, Ron Warrior. Hugh Mahan blieb schweigsam. Auch der andere vermied, Hugh beim Essen anzusehen. Ein jeder achtete auf seine Kinder, die sich gleich ihren Lehrern verhielten und so taten, als interessiere sie nichts als die Frikadelle aus Büffelfleisch und als sei ihnen nichts anderes zuwider als der Zwang, das Glas Milch auszutrinken.

In Wahrheit hatten die beiden Erzieher schon genauere Kenntnis voneinander genommen, als irgendjemand im Saal vermuten konnte. Die unsichtbaren Wellen der Gedanken und Sympathien spielten. Auch Ron Warrior war ein Indianer, groß und sehr schlank, elastisch in der Bewegung wie Hugh. Sein Gesicht war anders gebildet, die Nase nicht gebogen, sondern gerade, sein Gesichtsausdruck war lebhafter, eine beweglichere Maske als die Mahans. Er trug die Haare lang bis in den Nacken und hatte ein rotes Tuch um die Stirn gebunden. Sein Hemd war knallbunt.

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Veröffentlichungsdatum auf Litres:
23 Dezember 2023
Umfang:
531 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783938305669
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