Zwischen Mühl- und Läuferstein

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Zwischen Mühl- und Läuferstein
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Liselotte Riedel

Zwischen Mühl- und Läuferstein

Romantische Erzählung vom Bau der Saaletalsperre

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zwischen Mühl- und Läuferstein

Impressum neobooks

Zwischen Mühl- und Läuferstein

Ende des 19. Jahrhunderts lebte im Thüringischen Schiefergebirge ein eigenbrötlerischer Mann mit seiner Familie, der dort eine Wassermühle betrieb. An eben dieser Stelle hatten seine Vorfahren gelebt und gearbeitet und sich zumeist sauer das tägliche Brot verdienen müssen. Die Mühle lag etwa achthundert Meter von der nächsten Ortschaft, dem Dorf Fichtengrün entfernt, das nur aus einer Ansammlung von einigen zwanzig Häusern bestand. Sicher hatte das Fehlen einer unmittelbaren Nachbarschaft dazu beigetragen, dass die Mühlenbewohner in der Einsamkeit etwas wunderlich geworden waren. Denn als wunderlich galten sie in ihrer Umgebung.

Der Müller, Gottlieb Holzmann, ein Mann von mittlerer Größe, hatte den gebeugten Rücken seines Gewerbes und wirkte vorzeitig gealtert. Obwohl erst Anfang vierzig, begann er bereits kahl zu werden. Die Müllerin, eine vierschrötige Frau und mit ihrem Mann gleichaltrig, war bereits völlig ergraut. Umso überraschender hob sich von dem alternden Paar ein junges, entzückendes Wesen ab, ihr Töchterchen Luise, das ihnen erst nach achtzehn langen Ehejahren vom Schicksal beschert worden war. Die Schönheit dieses Kindes, das blondlockig und elfenhaft zart war, gab immer wieder Anlass zu Verwunderung. Selbst in ihrer Jugend waren die Eltern des Kindes derbe, starkknochige Menschen gewesen, die jedes äußeren Reizes ermangelten. Die Geburt der kleinen Luise veränderte das Wesen, wie auch das Zusammenleben der Müllersleute wenig. Es mochte sein, dass die Müllerin weniger herb erschien, denn obwohl sie nicht zu Zärtlichkeiten neigte, liebte sie das Kind von Herzen, der Müller hingegen blieb nach außen der gleiche wortkarge Mann, und nur an seltenen Abenden, die das Ehepaar in der Abgeschiedenheit der Küche verbrachte, zog er die Kleine auf seinen Schoß. Die Dorfbewohner, für die das Familienleben in der Mühle etwas Geheimnisvoll-Anziehendes hatte, vermuteten, der Müller, der sich einen Sohn gewünscht habe, sei über die Geburt der Tochter enttäuscht gewesen. Was der kleinen Luise an Aufmerksamkeit durch den Vater fehlte, machte übrigens Niklas wett, der Knecht, der seit zwanzig Jahren in der Mühle arbeitete und lebte und, nach Meinung Außenstehender, in gleicher Weise wunderlich geworden war. Was die Bewohner der Umgebung, insbesondere die Dörfler aus Fichtengrün unter‚wunderlich’ verstanden, hätten sie nicht leicht erklären können. Von Spuk und Gespenstern war nicht die Rede, aber der Weg am Mühlbach entlang wurde bei Nacht gemieden, auffällig war auch die Gewohnheit der Müllersleute, leise vor sich hinzusprechen. Jedenfalls wurden Lippenbewegungen, die man wahrnahm, wenn sie sich alleine glaubten, so gedeutet. Vielleicht sprachen sie ja doch mit irgendwelchen Unsichtbaren. Auch bei Niklas, dem Knecht, der schon beim Vater des Müllers in Dienst gestanden hatte, war diese Erscheinung mitunter zu beobachten. Aber zumeist benutzte er seine Lippen, um an der Pfeife zu ziehen, wenn er nicht gerade der kleinen Luise eine Geschichte oder ein Märchen erzählte. Luise, ein artiges und wohlerzogenes Mädchen, auf dessen Wesen der ausschließliche Umgang mit Erwachsenen notwendig abfärben musste, hätte niemand als wunderlich bezeichnet; es schien nicht möglich, ihr eine Eigenschaft zuzuschreiben, die auch nur im Mindesten abträglich war. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr, in dem sie in die Schule kam, war Luise bei ihren Spielen viel auf sich selber angewiesen. Die Umgebung der Mühle war ihr Gebiet; die Mutter hatte sie eingehend auf mögliche Gefahren hingewiesen und war sicher, dass ihre Ermahnungen befolgt wurden. An sonnigen Tagen konnten die Bauern, die ihr Getreide zum Mahlen brachten, das Kind brav am Ufer des Mühlbaches sitzen sehen, Kränze aus Wiesenblumen flechtend oder auch nur versunken in die Umgebung schauend. Luises schöne, eigentümlich helle Augen richteten sich beim Sprechen und Zuhören nicht nur auf ihr Gegenüber, sondern schienen gleichzeitig Unbekanntes in der Ferne wahrzunehmen. Als Luise fünf Jahre alt war, ereignete sich etwas Merkwürdiges, das lange im Gedächtnis der Dorfbewohner haften blieb und die Meinung von der Wunderlichkeit der Müllersleute nachhaltig unterstützte.

Die Mutter des Mädchens war einige Tage zu Verwandten gereist und hatte ihr Töchterchen der Obhut der beiden Männer anvertraut. Diese nahmen ihre Aufgabe durchaus ernst, und während der eine sie beaufsichtigte und für ihr leibliches Wohl sorgte, erzählte der andere ihr Geschichten und verwöhnte sie. Da Niklas der Meinung war, dass Luise auch an den Genüssen des Lebens teilhaben müsse und er ihr nicht gut seine Pfeife anbieten konnte, hatte er eine Leidenschaft für Pfefferminzbonbons in ihr geweckt. Mit diesem Proviant ausgerüstet hatte sich das Kind am Nachmittag, als beide Männer mit der Entgegennahme der Getreidesäcke beschäftigt waren, auf seinen Lieblingsplatz am Wasser zurückgezogen. Hier war es von den Bauern, die mit ihren Fuhrwerken kamen, zuletzt gesehen worden. Und dann nicht mehr! Als Niklas die kleine Luise zum Vespern rufen wollte, war sie verschwunden. Natürlich wurde sogleich die nähere Umgebung und in schlimmer Befürchtung auch der Mühlbach nach ihr abgesucht, aber von der Kleinen fehlte jede Spur. Die Helfer berichteten noch am gleichen Abend und auch später, dass der Müller und Niklas sich eifrigst beteiligten, aber ansonsten wenig berührt von dem Verschwinden des kleinen Mädchens schienen. Mit einbrechender Dunkelheit musste die Suche abgebrochen werden. Eine traurige Ahnung malte sich auf den meisten Gesichtern. Das Verschwinden des kleinen Mädchens und das befremdliche Verhalten der beiden Männer war an diesem Abend Dorfgespräch in Fichtengrün. Auch über die Müllerin wurde geredet. Musste sie Verwandte besuchen, ohne das Kind mitzunehmen, das dann nur mangelhaft beaufsichtigt werden konnte? Wie würde sie den Schicksalsschlag ertragen? Es war unwahrscheinlich, dass Luise lebend wiedergefunden wurde. Was die Müllerin sagte, als sie nach ihrer Rückkehr mit den Dorfbewohnern von Fichtengrün in Berührung kam, war so sonderbar, dass noch nach Jahren darüber geredet wurde. „Sie wird schon wiederkommen“, war ihre ganze Reaktion gewesen. ‚Sie wird schon wiederkommen!’ Vielleicht war das auch die Annahme der beiden in der Mühle Zurückgebliebenen. Zumindest Niklas hatte Grund zu dieser Überzeugung. An dem besagten Abend war er spät noch einmal ans Wasser gegangen, hatte lange in die Strömung gesehen, seine Pfeife geraucht, dem Knacken im Gesträuch zugehört und schließlich leise gerufen. Aber es war nicht der Name des Mädchens. „Benni, wo bist du?“, ertönte seine Stimme über die Wasserfläche. In Ufernähe stellte ein nächtlich tätiges Wesen seine Holzarbeiten ein, und ein Biber reckte seinen Kopf empor. „Bist du das, Niklas? Was ist?“ „Hast du wieder einmal den Uferrand untergraben?“, fragte der Knecht streng. „Wie werde ich, was glaubst du, wie ich aufpasse, dass dem kleinen Mädchen nichts passiert.“ „Das hoffe ich stark“, erwiderte Niklas, „aber sie ist verschwunden.“ „Deine Schuld, Niklas, nur deine“, der Biber lachte bellend, „sie ist bei der Wasserfrau.“ „Bei der Wasserfrau, wie ist sie denn dahin gekommen?“ „Durch deine Schuld, Niklas; Luise saß am Ufer und hat Pfefferminzbonbons gegessen; da hat plötzlich die Wasserfrau ihren Kopf herausgestreckt und wollte auch welche. Als Luise ihr die Tüte hinreichte, ist zuerst die Tüte und dann das Mädchen selbst reingefallen. Aber mach’ dir keine Sorgen, die Wasserfrau mag die Kleine. Ihr passiert schon nichts. Bloß schade um die Pfefferminzbonbons.“ Der Knecht beugte sich, den Wink verstehend, etwas vor und reichte Benni von den für Luise gedachten Süßigkeiten. Im selben Moment schien das Ufer abzubröckeln, und Niklas, der gerade noch einen Ast erhaschen konnte, sagte ärgerlich: „Benni, Benni, du hast wieder unterminiert, bring das wieder in Ordnung!“ „Das tue ich ja gerade, ich stütze das Ufer ab; es ist vom letzten Hochwasser unterspült.“ Der Knecht entfernte sich unmutig den Kopf schüttelnd, denn er traute dem Biber nicht. Schon zweimal waren abendliche Fußgänger in Ufernähe abgerutscht und in den Bach gefallen. Fünf Tage blieb die kleine Luise verschwunden, und sie wäre gewiss noch länger fortgeblieben, hätte der Wassermann nicht ein Machtwort gesprochen. „Frau, du kannst das Kind nicht länger hier behalten“, sagte er zu seinem Eheweib, das dem kleinen Mädchen, welches auf einem Moosbett saß, mit Andacht die Haare kämmte. Die Wasserfrau tat dies schon seit Stunden und ringelte die blonden Locken um ihre fischflossigen Hände. „Was für schönes Haar!“, war ihre ganze Antwort. Luise ließ sich die Prozedur gefallen, ohne ungeduldig zu werden; zu interessant fand sie ihre neuen Bekannten und ihre unterirdische Wohnstätte, deren Untergrund, denn ein Fußboden war es nicht, bis in Wadenhöhe mit Wasser gefüllt war. „Frau“, hakte der Wassermann nach, „die Müllerin ist wieder da, sie wird ihr Kind vermissen.“ „Ja, ich weiß“, erwiderte das Wasserweib, „sie hätte ruhig noch etwas länger fortbleiben können.“ „Heute Abend“, verfügte ihr Mann, „geht Luise wieder nach Hause.“ Es gab noch eine kurze Diskussion zwischen den Wassereheleuten, ob ‚heute Abend’ vor oder nach dem Abendbrot sei. Aber das kleine Mädchen erklärte auf einmal, nach Hause zu wollen, da die Mutter sich bestimmt schon Sorgen mache. In Wahrheit war Luise der ständigen Fischsuppen zum Abendessen ein wenig überdrüssig.

 

„Sie wird schon wieder kommen“, hatte die Müllerin zum Befremden der Dorfbewohner gesagt; doch sie hatte Recht behalten. Gesund und wohlgelaunt war Luise wieder aufgetaucht, am gleichen Tag, als ihre Mutter von der Reise zurückkam. Die Eltern wollten sich gerade mit Niklas zum Abendessen setzen, als das Kind mit feuchten Rocksäumen hereinkam und freundlich grüßte. Ein vierter Teller mit Hafergrütze stand auf dem Tisch, und die Müllerin tat ein Stück Butter hinein, das langsam in dem heißen Brei zerlief. Nach einem kurzen ‚Guten Appetit’ seitens der Hausfrau begann die Mahlzeit, ohne dass ein Tischgebet gesprochen wurde. Die Müllersleute waren nicht gläubig, nicht ‚heilig’, wie die Leute in Ostthüringen es nannten. Einige Male hatte die Müllerin den Versuch gemacht, eine weibliche Hilfskraft in Ihre Dienste zu nehmen, aber keins der Mädchen blieb lange, obwohl sie ihnen keine harte Herrin war. Vielleicht war es das Wunderliche, welches wie ein böser Zauber über der Mühle und ihren Bewohnern lag, das die Menschen Abstand wahren ließ, vielleicht aber auch der Mangel an Religiosität. War Luises Rückkehr von ihren Eltern mit Selbstverständlichkeit aufgenommen worden? Es mochte so scheinen; Niklas nahm das Mädchen am nächsten Tage bei Seite und erklärte ihr, dass sie nicht einfach verschwinden dürfe, ohne Bescheid zu sagen, was sie auch widerspruchslos hinnahm. Die Müllerin hatte am Abend vorher, als sie Luise zu Bett brachte, nach längerem Schweigen gesagt: „Du warst bei den Wasserleuten?“ „Ja“, das kleine Mädchen schwieg schuldbewusst. Mehr wurde nicht darüber gesprochen. Ohne dass die Mutter es ihr eingeschärft hatte, wusste Luise, dass sie die Geheimnisse der letzten fünf Tage für sich behalten müsse, und sie richtete sich danach. Aber die Bekanntschaft mit den Bewohnern des Mühlbaches war nun gemacht und verfestigte sich mehr und mehr; besonders die Wasserfrau entwickelte eine zärtliche Anhänglichkeit zu dem Mädchen. „Weißt du, wo Luise gewesen ist?“, fragte die Müllerin am Abend, nachdem sie sich mit ihrer Stopfarbeit unter der Petroleumlampe eingerichtet hatte. Der wortkarge Ehemann, der auf der Ofenbank saß, nickte nur, aber die Frau konnte es im Lichtkreis der Lampe nicht sehen. „Sie war bei den Wasserleuten!“ „Dacht’ mir’ s. Früher oder später musste das ja passieren“, antwortete der Müller nach einer ganzen Weile. „Ja, das musste es wohl.“ Die Müllerin hielt eine graue, handgestrickte Socke gegen das Licht, die ein Loch von der Größe eines Hühnereis aufwies, und entschied seufzend, dass hier nichts mehr zu retten war. Der Seufzer galt nicht nur der Fußbekleidung, er schloss dass Leben am Fluss mit der einzigen Nachbarschaft von Wassergeistern und den wortkargen Ehemann mit ein. „Weißt du, was sie bei meinen Leuten erzählen?“ Der Müller wusste es natürlich nicht und war auch nicht neugierig. „Es soll ein Plan existieren, wie man die Saale anstauen kann“, fuhr die Frau fort. „Warum nicht? Wasser kann man anstauen, unsere Mühle lebt ja auch davon“. „Das meine ich nicht; die Saale soll so angestaut werden, dass ein großer See entsteht, und das Wasser läuft dann über Räder und erzeugt helles Licht.“ „Über Räder läuft es bei uns auch, aber helles Licht ist noch nicht dabei herausgekommen, Frau, da haben dir deine Leute einen schönen Bären aufgebunden.“ Es war eine lange Rede für den Mann, der sich ansonsten jedes Wort abkaufen ließ, und die Müllerin nahm erst nach einer Weile den Faden des Gesprächs wieder auf. „Manchmal, Gottlieb, denke ich, wir leben hier wie im Mittelalter mit unserer Einsamkeit und unseren Wassergeistern, deshalb verstehen wir auch die moderne Zeit nicht, und du, du willst sie gar nicht verstehen!“ „Ja, vielleicht“, sagte der Müller und gähnte.

Die enge Nachbarschaft der Mühlenbewohner zu den Wassergeistern bestand schon, so lange der Müller denken konnte, ja, seine Großeltern und Urgroßeltern sollten schon in dieser merkwürdigen Symbiose gelebt haben. Das Verhältnis war manchmal besser und manchmal schlechter gewesen, die jetzigen Mühlenbesitzer hatten im allgemeinen keinen Grund zur Klage. Nur mochte es der Müller nicht, wenn er unerwartet im Haus feuchten Besuch erhielt. Einmal hatte er den Wassermann überrascht, wie er mit dem neu angeschafften Sackaufzug rauf und runter fuhr und vor Vergnügen jauchzte. „Mach dich fort“, hatte der Müller verärgert gerufen, „der Aufzug ist für die Säcke da, außerdem tropft der ganze Mühlbach aus dir raus!“ Aber der Wassermann hatte nur gelacht. Seine Frau suchte öfter die Müllerin in der Küche auf; sie tat das zumeist, wenn niemand von den Männern in der Nähe war, brachte dann einen schönen Fisch mit und hielt ein Schwätzchen. Es konnte natürlich nicht verborgen bleiben, denn ihre langen Röcke zogen eine Schleifspur durch den Mehlstaub, die noch sichtbar war, wenn das Bachwasser längst getrocknet war. „Frau“, pflegte dann der Müller verärgert zu sagen, „am besten hältst du gleich Hefe bereit für den Fall, dass das Wasserweib kommt, da kannst du in ihren Spuren Teig anrühren.“ Kam der Fisch auf den Tisch, so wollte er wissen, wo er herstamme. „Aus dem Mühlbach“, war die übliche Antwort der Hausfrau. „Ich meine, wer ihn gefangen hat“, ergänzte ihr Mann. „Niklas hat geangelt“, erwiderte die Müllerin. Das war keine Lüge, denn sobald die Wasserfrau Fisch brachte, wurde Niklas zum Angeln ausgeschickt. Viele Male waren solche Gespräche immer gleichen Inhalts bei Tisch geführt worden, bis der Müller eines Tages, der ewigen Wiederholungen satt, eine unerwartete Bemerkung machte. „Das weiß ich, dass Niklas geangelt hat, aber hat er auch was gefangen?“ Niklas schwieg, und die Müllerin sagte kleinlaut: „Die Wasserfrau hat den Fisch gebracht“, worauf der Müller sein Besteck hinlegte und vom Tisch aufstand.

Ein Jahr nach ihrem rätselhaften Verschwinden und dem ebenso rätselhaften Wiederauftauchen wurde Luise eingeschult. Es war dies keine besonders festliche Angelegenheit, sie bekam nur ein neues Kleidchen, das ohnehin nötig war. Festliches Kaffeetrinken oder Verwandtenbesuch gab es nicht. Wie wenig Bedeutung die Müllersleute dem neuen Lebensabschnitt beimaßen, zeigte sich auch darin, dass sie das Kind am ersten Tag nicht selbst zur Schule brachten, sondern diese Aufgabe Niklas überließen. Luise war mit dieser Lösung zufrieden, denn der Knecht erklärte ihr alles, was unterwegs ihr Interesse weckte, und er schärfte ihr ein, ja schön aufzupassen und schnell Lesen zu lernen, dann könnte sie es ihm auch beibringen. „Kannst du denn nicht lesen?“, fragte das kleine Mädchen erstaunt. „Nicht gut“, erwiderte Niklas knapp. Er wollte dem Kinde nicht von seiner ärmlichen Jugend erzählen, von den vier Jahren Schulbesuch, der noch dadurch Lücken aufwies, weil er als ältester von zwölf Geschwistern bei jeder Gelegenheit auf dem Feld helfen musste. Ein geregeltes Leben hatte er erst bei den Eltern von Luises Vater kennen gelernt, zu denen er im Alter von zwölf Jahren kam, aber damit war auch seine Kindheit zu Ende gewesen. „Das war wohl dein Großvater, der dich da gebracht hat?“, fragte der Lehrer dann in der Klasse, als er sich mit den Kindern bekannt machte. Es war nicht Neugierde, er war erst kurz im Amt und kannte die einzelnen Familien nicht. Vielleicht hatte das blonde Mädchen ja keine Eltern und bedurfte besonderer Aufmerksamkeit. „Nein, das war der Niklas“, sagte Luise in ihrer ernsthaften Art. „Aha, der Niklas also.“ Wesentlich schlauer schien die Antwort den Lehrer nicht gemacht zu haben. „Der Niklas ist der Müllerbursche bei Holzmanns“, rief ein vorwitziger Junge. „Der Niklas ist Altgeselle“, korrigierte Luise, „er sagt, für einen Müllerburschen wäre er zu alt.“ „Hm“, um die Mundwinkel des Lehrers zuckte es belustigt, „wenn ihr einen Altgesellen oder Müllerburschen habt, dann habt ihr doch bestimmt auch eine Mühle?“ „Ja“, antwortete das Mädchen. „Und klappert sie am rauschenden Bach?“ „Ja.“ „Gewiss kennt ihr auch ein Lied darüber?“, sagte der Lehrer sich wieder der Klasse zuwendend. Das kannten einige, und die übrigen lernten es in dieser Stunde. Nur Luise war nicht zufrieden. „Warum singst du denn nicht mit, kannst du nicht singen?“, fragte der Lehrer. „Das Lied ist nicht richtig“, erklärte sie. „Nicht richtig? Was meinst du denn damit?“ „Der Müller kann doch nicht Tag und Nacht wach sein, er muß doch auch mal schlafen.“ „Da hast du allerdings Recht“, stimmte der Lehrer zu, „aber die Mühle mahlt doch auch nachts?“ „Da weckt der Klingelmann, damit das Korn nachgeschüttet wird.“ Das war Luises erster Schultag; der Lehrer erzählte später, auch er habe in dieser Stunde etwas Neues gelernt. Doch das stimmte nicht ganz; es war auch etwas Falsches dabei. Denn er hielt eine Zeitlang den Klingelmann für einen weiteren dienstbaren Geist der Mühle, sei er nun Müllerbursche, Altgeselle oder Knecht.

Die Schule, obwohl nur eine achtklassige Dorfschule, erweiterte Luises auf die Mühle und deren unmittelbare Umgebung beschränkten Lebenskreis bedeutend. An den Nachmittagen, die sie bei gutem Wetter draußen verbrachte, spielte sie nun nicht mehr, sondern hatte fast stets ihre Fibel auf dem Schoß, fuhr mit den Fingern die Zeilen entlang, wobei sie mit gerunzelter Stirn leise vor sich hin murmelte. Bei Buchstaben, die sie noch nicht kannte, sprang sie auf, rannte mit dem Buch zu ihrer Mutter und ließ sich den unbekannten Laut nennen. Dies blieb die einzige elterliche Unterstützung, die Luise in ihrer Schulzeit erfuhr. So kam es, dass das Mädchen bereits nach einem halben Jahr fließend lesen konnte. Natürlich wollte sie ihr neu erworbenes Wissen nicht brach liegen lassen oder wie ein Geizhals horten. So saß sie manche Stunde mit ihrer Freundin, der Wasserfrau zusammen, erklärte ihr die Buchstaben und las ihr vor. Die bunten Bilder machten beiden besonders Spaß. „Guck, das bist du!“, sagte Luise, die eines Tages über die Fibel hinausgewachsen war und sich ein Märchenbuch zur Hand genommen hatte. Eine wunderschöne Nixe war darin abgebildet. „Aber woher wissen die denn, dass ich keine Beine habe, ich ziehe doch immer Röcke an, wenn ich aus dem Wasser steige?“ Diese Frage konnte ihr das Mädchen auch nicht beantworten. Luises Unterweisungen hatten auch Nachteile, denn die Wasserfrau pflegte, da sie nun einmal lesen lernen sollte, mit ihrer Fischflossenhand die Zeilen entlang zu fahren, wie sie es bei ihrer kleinen Lehrerin gesehen hatte. Die Seiten der Bücher wurden dadurch feucht und klebten zusammen, was den Lehrer sehr verwunderte, der ansonsten allen Grund hatte, Luise als Musterschülerin anzusehen. „Was machst du bloß mit den Büchern, Kind“, sagte er manchmal kopfschüttelnd, „lässt du sie draußen im Regen liegen?“ „Ich weiß auch nicht, Herr Lehrer“, sagte Luise dann bekümmert. Aber es war nicht nur die Wasserfrau, die den Büchern ihren Stempel aufdrückte, auch Niklas, denn er musste schließlich auch unterrichtet werden, markierte oder besser gesagt, malträtierte sie, indem er Mehlstaub auf die Seiten nieder rieseln ließ. Es war gut, dass der Müller dem Unterricht nicht beiwohnte, sonst hätte er wieder Hefe empfohlen, um das Werk zu vollenden. War Niklas es müde geworden, mit seinem rauen, rissigen Zeigefinger die Buchstaben aufzuspüren, klappte er energisch das Buch zu und sagte: „Ich erzähle dir lieber eine Geschichte, statt über deinem Buch herumzustottern.“ Und das tat er dann auch. Besonders gern und mit den schönsten Ausschmückungen erzählte er die Geschichte vom Gestiefelten Kater, schließlich kam darin auch ein Müllerbursche vor. Aber es war nicht nur das Lesen und Lernen, das Luise in ihrem neuen Lebensabschnitt Freude machte, es war auch der Umgang mit anderen Kindern, der ihr gefiel, obwohl auch hier durch alle Schuljahre hindurch ein gewisser Abstand blieb, den sie selbst empfand, jedoch nicht überwinden konnte. Auch wenn sie jetzt jedes Kind, das mit seinem Vater in die Mühle kam, beim Namen nennen konnte, blieb sie die Tochter der wunderlichen Müllersleute. Sie war keineswegs unbeliebt, aber eine Trennlinie war da und blieb bestehen.

In der Schule erledigte Luise die aufgetragenen Aufgaben schnell, sodass sie danach, während die anderen noch schrieben oder rechneten, still da saß und dem Unterrichtsstoff für die fünfte oder sechste Klasse folgte. Der Lehrer merkte es wohl, aber da sie nicht störte, ließ er sie gewähren. Zu jener Zeit gab es noch keine, bis in alle Einzelheiten ausgearbeiteten Lehrpläne. Rechnen, Lesen, Schreiben, Religion und etwas Erdkunde mussten für die Dorfkinder genügen. Für einen engagierten Lehrer bot sich hier die Möglichkeit, sein eigenes Steckenpferd zu reiten, und das von Luises Lehrer war die Physik. Der geplante Talsperrenbau, nunmehr in aller Munde, war ein Thema, das die Schüler interessierte, wenn auch seine Darlegungen nicht immer verstanden wurden. Er erläuterte den Kindern, die ihre Hausaufgaben noch beim Schein der Petroleumlampe machten, die Entstehung des elektrischen Stroms aus dem fließenden Wasser. Gaslicht oder auch elektrisches Licht kannte man bis dahin nur in größeren Orten. All’ diese interessanten Dinge, die Luise im Unterricht aufsaugte, wie ein trockener Schwamm, breitete sie abends dann vor ihren Eltern und Niklas aus. Der Vater blieb weiterhin skeptisch bei seiner Meinung, dass ein drehendes Rad kein Licht erzeugen könnte, aber die Mutter und der Altgeselle waren ein dankbares Publikum. „Nun kannst du ihn bald selber fragen“, sagte Luise eines Abends zu ihrem Vater, „der Lehrer möchte gern unsere Mühle besichtigen, und ich soll fragen, ob du einverstanden bist?“ „Warum will er denn die Mühle besichtigen?“, fragte der Müller beinahe erschrocken. „Er will den Schülern etwas über Mechanik beibringen.“ In der Tat wollte der Lehrer den Unterricht praktischer gestalten und hielt einen Besuch der Mühle für eine gute Idee. „Was für Schüler?“, fragte der Vater, denn der Ausdruck kam ihm für die Bengel, die er kannte, etwas hochtrabend vor. „Die aus der sechsten und siebenten Klasse“, antwortete Luise. „Hm“, sagte der Müller, „was meinst denn du, Frau?“ Die Müllerin, die bereits überlegte, ob sie für die Kinder Pfannkuchen oder Waffeln backen sollte, hatte ihre Antwort schon parat. „Das können wir unmöglich abschlagen, Gottlieb!“ „Dann sorge auch dafür, dass deine Freundin, das Wasserweib, wenn sie kommen, nicht gerade ihre nasse Spur durch das Mehl zieht!“ Es war nicht die Anwesenheit der Wassergeister selbst, die die Müllersleute befürchteten, denn diese waren für Bewohner außerhalb der Mühle unsichtbar, es war der grobe Unfug, den sie gelegentlich veranstalteten. Denn hierüber konnte auch das einfältigste Gemüt nicht hinwegsehen. „Lass mich nur machen, Gottlieb“, beruhigte die Müllerin ihren Mann, „wenn der Geruch nach Gebackenem durch das Haus zieht, kommen die Beiden von ganz alleine, und es gibt nur Pfannkuchen, wenn sie versprechen, vernünftig zu sein und sich anständig zu benehmen.“ Das unzeitige Herumgeistern seiner Nachbarn war die einzige Sorge des Müllers, hatte er doch schon erlebt, wie der Wassermann den Zulauf zum Mühlrad stoppte, auf diesem herumkletterte und versuchte, es rückwärts zu drehen. Nicht auszudenken, wenn es ihm plötzlich einfiel, in Anwesenheit der Schulkinder mit der Sackkarre durch die Mahlstube zu fahren! Luise war froh, dem Lehrer die zustimmende Antwort ihrer Eltern zu überbringen. Ein Termin wurde ausgemacht, und am darauffolgenden Mittwoch, einem wunderschönen Herbsttag, befand sich die Müllerin bereits am frühen Morgen in ihrer Küche, die Arme bis zu den Ellenbogen im Hefeteig vergraben. Vor dem Fenster stehend hätte ein zufälliger Beobachter an der Miene und den Lippenbewegungen der knetenden Frau erkennen können, dass sie ein ernsthaftes Gespräch führte, sie war dabei, die Wasserfrau wegen der bevorstehenden Veranstaltung mit Pfannkuchen zu bestechen. Der Müller tat etwas Ähnliches; er stand mit Niklas auf dem Hof und versuchte diesen zu überreden, bei der Führung durch die Mühle die Technik zu erläutern. Als Gegenleistung sicherte der Müller, der an diesem Morgen von außergewöhnlicher Beredsamkeit befallen war, dem Altgesellen ein Päckchen Tabak zu. „Und, was meinst du, wird alles klappen?“, fragte der Müller in die Küche tretend. „Ich denke schon“, sagte seine Frau ihn absichtlich missverstehend, „bis Zehn hat der Hefeteig reichlich Zeit zum Gehen, dann kann ich mit dem Backen anfangen.“ „Du weißt genau, was ich meine“, erwiderte ihr Eheherr unwirsch, „was hast du mit der Wasserfrau besprochen?“ „Dass sie Pfannkuchen bekommen, wenn sie sich heute von der Mühle fernhalten.“ „Und, war sie einverstanden?“ „Selbstverständlich.“ „Dann hättest du gleich ein ganzes Jahr ausmachen können!“ „Ach Mann“, sagte die Müllerin, „sei doch nicht so widerborstig, es sind doch deine Mühlengeister, du bist doch sozusagen mit ihnen aufgewachsen.“ Einer so offenkundigen Tatsache konnte der Müller nichts entgegenhalten, und er nahm die herannahende Schulklasse, die er durch das Fenster sehen konnte, zum Anlass, aus der Küche zu verschwinden.

 

Die Kinder, Elf- und Zwölfjährige, kamen nicht mit lautem Toben, wie er erwartet hatte. Sie plauderten munter mit ihrem Lehrer, einem noch jungen Mann mit Nickelbrille, der unverkennbar respektiert wurde, auch wenn einige der älteren Schüler ihn schon an Größe überragten. „Da wären wir also“, sagte er freundlich, dem Müller die Hand entgegenstreckend, „Herr Holzmann nehme ich an?“ Dieser nickte bestätigend. „Wendland ist mein Name; ich bin der Schulmeister, wie man früher sagte, ich meine, der Lehrer von dieser Rasselbande.“ Der Müller nickte wieder, wobei ihm bewusst wurde, dass auch ein paar gesprochene Worte von ihm erwartet wurden, und er sah sich suchend nach Niklas um. „Sie interessieren sich also für die Mühle“, sagte er unbeholfen. „Für die Mühle, für die Mehlherstellung, für die Mechanik der Mühle; vielleicht fangen wir hier unten an, ich glaube, Sie nennen den unteren Teil hier Getrieberaum“, stimmte der Lehrer zu, der die mangelnde Beredsamkeit von Luises Vater sofort erkannt hatte. „Das ist richtig“, sagte dieser immer noch nach seinem Gehilfen ausschauend, „gehen wir erst einmal hier rein.“ Der Getrieberaum fesselte die Schüler sofort und brachte das Konzept des Lehrers, der den Werdegang des Korns zum Mehl an den Anfang der Besichtigung gestellt hatte, durcheinander. „Ach, da ist ja auch der Niklas!“, sagte der Müller aufatmend. Ja, da war der Niklas, und mit ihm war Luise gekommen, Luise in ihrem blauen Sonntagskleidchen mit blauen Schleifen in den Zöpfen und gesellschaftlicher Gewandtheit, die einer Erwachsenen würdig war. „Guten Tag, Herr Lehrer“, grüßte das Kind, „das ist der Niklas, er hat mich damals am ersten Tag zur Schule gebracht.“ Was heißen sollte, Sie erinnern sich doch noch an den Niklas. „Ach, der Niklas“, erwiderte der Lehrer, „euer Altgeselle, wenn ich das noch richtig behalten habe.“ „Alt- und Junggeselle zugleich“, sagte dieser und zog seine Mütze, „wollen wir hier im Getrieberaum anfangen, oder wie hatten Sie sich die Besichtigung vorgestellt?“ „Ich hatte gedacht, dass wir den Weg des Korns zum Mehl verfolgen, räumlich gesehen,“ antwortete der Lehrer, „aber die Schüler scheinen die großen und kleinen Zahnräder sehr zu interessieren.“ „In jedem Fall sind wir hier richtig“, übernahm der Niklas das Wort, „denn das Korn kommt hier an; hier“, er wies auf den Hofplatz, „wird es abgeladen, in den Getrieberaum gebracht, früher trugen wir es dann die Treppe hinauf, jetzt haben wir einen Sackaufzug, der es in die Mahlstube befördert.“ Während Niklas seine Erklärungen abgab, die Funktion der Aufschüttgosse, das Abrutschen in den Elevator, der es mit Bechern, die eigentlich kleine Fächer waren, wieder nach oben unters Dach beförderte, erläuterte, staunte Luise wieder einmal über ihren alten Freund. Wie gewandt und verständlich er sich doch ausdrückte, er, der des Lesens und Schreibens kaum mächtig war. Der Müller hielt sich im Hintergrund und nickte ab und an zustimmend. Es war nicht nur seine mangelnde Beredsamkeit, die ihn bewogen hatte, Niklas die Führung durch die Mühle zu überlassen, es war sein Misstrauen, denn er fürchtete, trotz der Versicherungen seiner Frau, dass der Wassermann ihm irgendeinen Streich spielen könnte. Aufmerksam suchten seine Augen das Gebälk ab, prüften, ob die Sackkarre an Ort und Stelle war und behielten den Aufzug im Blick. Schleifspuren im Mehlstaub wären ohnehin nicht auszumachen gewesen, denn dort überlagerten sich jetzt die Tritte der Kinderfüße.

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