Buch lesen: «Auf Wiedersehen, Kinder!»
Lilly Maier
Auf
Wiedersehen,
Kinder!
Ernst Papanek
Revolutionär, Reformpädagoge
und Retter jüdischer Kinder
INHALT
Cover
Titel
Prolog
1. Vom Kaiser zur Sozialdemokratie
2. Eben mal die Welt retten
3. Lene und die Liebe
4. Auf dem Weg in den Untergrund
5. Im Exil
6. Das Exil wird zum Alltag
7. Ein Sommer in Freiheit
8. Die Kindertransporte
9. Papaneks Pädagogik
10. Von Eichen und Türmchen
11. Der Krieg und seine Folgen
12. Montintin
13. Flucht nach Amerika
14. Teller waschen und Kinder retten
15. »Maseltoff zum baldigen Endsieg«
16. Eine neue Heimat
17. Zurück nach Europa
18. »Flüchtlinge in der eigenen Heimat«
19. Vienna away from Vienna
20. Professor Papanek
21. Was wurde aus den Kindern?
22. Rückkehr nach Wien
Epilog
Danksagung
Anmerkungen
Bildnachweise
Die Autorin
Impressum
Für Arthur
und all die anderen Kinder,
denen Ernst Papanek das Leben gerettet hat.
Prolog
Am 20. August 1939 fand in einem Vorort von Paris eine ganz besondere Feier statt. Wochenlang hatten hunderte jüdische Flüchtlingskinder und ein gutes Dutzend Erwachsene heimlich an den Vorbereitungen gearbeitet. Sie verschickten Einladungskarten, schrieben Gedichte und pflückten Blumen. Wenn man in diesen Tagen über die große Wiese vor der Villa Helvetia im Örtchen Montmorency ging, konnte man allerorts verstohlen tuschelnde Kinder und Jugendliche beobachten. Ausnahmsweise drehten sich ihre Gespräche nicht darum, wie sie sich in Frankreich eingelebt hatten oder wie es ihren Eltern in Nazi-Deutschland ging. Es gab nur ein Thema: den 39. Geburtstag ihres Heimleiters Ernst Papanek.
Ernst Papanek, der sich von seinen Schützlingen in sozialistischer Manier mit »Ernst« ansprechen ließ, ahnte von alldem nichts. Auch seine Frau Lene, die als Ärztin im Heim arbeitete, hielt dicht. Schließlich war es soweit: Unter einem Vorwand führte Lene ihren Ehemann auf eine kleine Anhöhe, wo das Paar mit frenetischem Jubel empfangen wurde. Die gut dreihundert jungen Flüchtlinge hatten sich im Halbkreis aufgestellt und klatschten und strahlten um die Wette. In den Bäumen hingen bunte Wimpelketten, in der Wiese standen geschmückte Tische und Stühle. Ernst Papanek wusste noch gar nicht recht, wie ihm geschah, da hatten ihn schon ein paar starke Burschen auf einen Holzstuhl gesetzt und reckten ihn in die Höhe. Wie bei einer jüdischen Hochzeit trugen sie ihn im Kreis über ihren Köpfen. Papanek hielt sich mit beiden Händen krampfhaft fest, machte aber gute Miene zum wackligen Spiel. Wieder auf sicherem Boden gelandet, sangen die Kinder »ihrem Ernst« mehrere Lieder auf Deutsch und Französisch. Dann trat der Heimsprecher Hans Windmüller, ein Teenager aus Dortmund, mit einem Kuchen vor und gratulierte Papanek im Namen aller ganz offiziell zum Geburtstag. Windmüller trug den hochsommerlichen Temperaturen entsprechend kurze Hosen, Ernst Papanek wie üblich einen Anzug. In Verbindung mit seiner Halbglatze wirkte er wesentlich älter als die 39 Jahre, die er an diesem Sommertag feierte.
Nach Windmüller tippelten drei kleine Jungen nach vorne, die alle nicht älter als vier oder fünf Jahre waren. Nacheinander überreichten sie Papanek einen Wiesenblumenstrauß. Zum Abschluss trug eine Gruppe Kinder ein selbst geschriebenes Gedicht vor:
Ernst Papanek macht gute Miene zum wackligen Spiel: Überraschungsparty der Kinder von Montmorency zum 39. Geburtstag ihres Heimleiters am 20. August 1939.
In Montmorency ist es lustig,
in Helvetia ist es schön,
ja, da kann man viel erleben,
ja, da kann man manches seh’n.
Hier ist Ernst der Herr Direktor
und der sorgt fürs ganze Haus
und er denkt sich für die Kinder
immer etwas Nettes aus. […]
Böses können wir nicht verraten,
Gutes nur hat er getan,
darum lasst uns nicht mehr warten,
hochleben soll der brave Mann. 1
Nach dem sommerlichen Festakt gab es Kuchen, Süßigkeiten und Limonade und die ganze Gesellschaft verteilte sich im großen, beinahe parkartigen Garten. Ständig knipste jemand Fotos, um den Tag festzuhalten, und nun durften auch die erwachsenen Gäste Papanek gratulieren. Der spätere SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer, mit dem Papanek während des Spanischen Bürgerkriegs zusammengearbeitet hatte, war mit von der Partie, genauso wie Angehörige der französischen Rothschild-Familie, die die Villa Helvetia finanziell unterstützten. Margot Cohn, eine der Erzieherinnen, hielt eine Rede, in der sie die letzten Monate ihrer Arbeit mit den jüdischen Flüchtlingskindern Revue passieren ließ.
Die große Überraschungsparty für Ernst Papanek fand am 20. August 1939 statt. Nicht einmal zwei Wochen später markierte der deutsche Angriff auf Polen den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Zeit der Feste war schlagartig vorbei.
***
Der Wiener Ernst Papanek – assimilierter Jude, Vollblut-Sozialist und leidenschaftlicher Pädagoge – leitete während des Zweiten Weltkriegs vier Kinderheime in Montmorency bei Paris für 283 jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland und Österreich. Die Kinder waren von ihren Eltern auf einem sogenannten »Kindertransport« nach Frankreich geschickt worden, um sie vor den Nationalsozialisten zu retten. Verängstigt und allein fanden sie in den Heimen Papaneks ein Zuhause.
Szenen eines Geburtstagsfestes: Die allerkleinsten der jungen Flüchtlinge feiern »ihren« Ernst mit Blumensträußen (oben), der Teenager Hans Windmüller gratuliert Papanek im Namen aller Heimkinder ganz offiziell zum Geburtstag (unten).
Jahrzehnte später erzählte mir eines dieser Kinder – Arthur Kern – erstmals von Ernst Papanek. Ich selbst war damals elf Jahre alt, also in dem Alter der Flüchtlingskinder, die Papanek einst in Frankreich betreut hatte. »Papanek war immer sehr direkt und hat uns über alle aktuellen Ereignisse – egal ob gut oder schlecht – informiert«, erzählte mir Kern damals. »Alle Kinder liebten ihn.«
Im Lauf der Jahre lernte ich durch Arthur Kern immer mehr ehemalige Schützlinge Papaneks kennen. Sie alle bekamen leuchtende Augen, wenn sie von ihrem Beschützer und Lehrmeister sprachen. Mehr über Ernst Papanek erfuhr ich dann während der Recherchen zu meinem Buch Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende – und je mehr ich herausfand, desto beeindruckter war ich. Der geborene Wiener verwaltete nicht einfach eine Flüchtlingsunterkunft, sondern baute in wenigen Monaten ein eindrucksvolles reformpädagogisches System auf, das man auch heutzutage noch als äußerst progressiv bezeichnen würde – und das für seine Zeit geradezu revolutionär war.
In seiner Pädagogik stellte Ernst Papanek den individuellen Schüler in den Mittelpunkt und predigte einen bewusst antiautoritären Erziehungsstil: Er verbannte Hausaufgaben, Noten und jede Art von körperlichen Strafen und ließ sich von seinen Schülern duzen. Papanek öffnete das Klassenzimmer, hielt oft Unterricht im Freien ab und machte viele Exkursionen – eine Abwendung von der monarchischen »Paukschule«, die er selbst als Schüler in Wien erlebt hatte. Außerdem installierte Papanek eine umfassende Schülermitverwaltung, um den Kindern nach Jahren der Diktatur wieder Demokratie beizubringen. Später schrieb er darüber: »Wir hatten versucht, in den Heimen um Montmorency Refugee-Kinder moralisch zu bewussten, aufrechten Menschen zu erziehen, die ihr Leben mutig selbst in die Hand nehmen wollen und es können.«2
Als seine wichtigste Aufgabe sah Papanek es an, die Kinder wieder glücklich zu machen. Dabei bemerkte er, dass man vielen von ihnen nach ihren Erlebnissen in Hitler-Deutschland erst einmal wieder beibringen musste, zu spielen. Papanek wollte die Kinder davon überzeugen, dass nicht sie die Schuld daran trugen, wie die Nazis sie behandelt hatten. Der Pädagoge vertrat die sehr fortschrittliche Ansicht, dass die jüdischen Kinder nur dann ihre traumatische Vergangenheit bewältigen könnten, wenn sie sich ihren Erfahrungen und dem Schicksal ihrer Eltern offen stellten. Erst gut fünfzig Jahre später sollte sich diese Meinung in der Kinderpsychologie durchsetzen.
Papanek war davon überzeugt, dass das gemeinschaftliche Leben in den Heimen den traumatisierten Kindern dabei half, Heilung zu finden. Heutzutage sehen Pädagogen, Psychologen und Historiker das Zusammenleben in der Gruppe als wesentlich bessere Art der Unterbringung für Flüchtlingskinder als das Leben in Pflegefamilien. (Dies war zum Beispiel bei 6.000 jüdischen Kindern der Fall, die auf einem Kindertransport nach England kamen.) Das ist eine wichtige Lehre, die man in Zeiten der andauernden Flüchtlingskrise, in der tausende unbegleitete Minderjährige nach Europa kamen und kommen, aus Papaneks Arbeit ziehen kann.
Ernst Papanek bezeichnete seine Arbeit mit jüdischen Flüchtlingskindern später als sein »bedeutendstes Werk« und als die wichtigste Zeit seines Lebens. Dabei verdient es auch der Rest seiner mehr als abenteuerlichen Vita erzählt zu werden.
Der charismatische Österreicher stammte aus einer kleinbürgerlich-jüdischen Familie und begeisterte sich schon früh für die Sozialdemokratie und den Sozialismus. 1934 wurde während der Februarunruhen ein Todesurteil gegen ihn verhängt. Papanek floh ins Exil: In Danzig entkam er nur knapp den Nationalsozialisten, im Spanischen Bürgerkrieg schloss er lebenslange Freundschaften mit Genossen, die später die Sozialdemokratie Europas prägen sollten – wie Torsten Nilsson, dem späteren schwedischen Außenminister, und Hans Christian Hansen, dem späteren Ministerpräsidenten Dänemarks.
Zwei Jahre lang kümmerte sich Ernst Papanek in Paris um jüdische Flüchtlingskinder. Dann gelang ihm in letzter Sekunde die Flucht aus Europa: Der französische Widerstand schmuggelte ihn und seine Familie über die Grenze – auf jener Fluchtroute, die später Heinrich Mann, Franz Werfel und Lion Feuchtwanger nehmen sollten. In New York angekommen, musste sich Papanek als Tellerwäscher verdingen. Fast wirkte es so, als würde der Pädagoge an den Umständen zerbrechen, doch dann erfand er sich in Amerika neu. Er leitete mit ungewöhnlichen Methoden und großem Erfolg eine Schule für straffällige Jugendliche, die ein Herzensprojekt der First Lady Eleanor Roosevelt war. Am Höhepunkt seiner Karriere wurde Papanek schließlich als Professor für Pädagogik an die City University of New York berufen.
***
Für dieses Buch bin ich auf Ernst Papaneks Spuren von Wien durch halb Europa bis nach Amerika gereist. Ich blätterte in Amsterdam in seinem Kalender, trank Kaffee in Brünn, wandelte am Strand in der Bretagne und im Hafen von Lissabon, hörte in New York zum ersten Mal seine Stimme und besuchte seine Familie bei Boston. Ich habe mit allen noch lebenden Familienmitgliedern von Ernst Papanek gesprochen und viele der Kinder getroffen, denen er in Frankreich oder später in Amerika das Leben gerettet hat. Ich habe auf zwei Kontinenten monatelang Archive durchsucht, tausende Briefe und Dokumente analysiert und Historiker interviewt – alles, um der Frage nachzugehen, wie ein junger Sozialdemokrat aus Wien 1939 eines der modernsten Bildungssysteme Europas entwickeln konnte.
Das Ergebnis dieser Reise ist eine historische Reportage und die Erkenntnis, dass Ernst Papanek – völlig zu Unrecht – eine vergessene Ikone der österreichischen Pädagogik ist.
Ernst Papanek hat ein abenteuerliches Leben gelebt – immer getrieben von drei Maximen: seiner sozialistischen Überzeugung, seinem unerschütterlichen Optimismus und seinem Engagement für Kinder. »Trotz Nationalsozialismus und grausamer Diktatur haben wir nie aufgegeben, an die Menschlichkeit zu glauben«, schrieb Ernst Papanek 1965 in einem Brief an seine ehemaligen Schützlinge. »Ihr ward und ihr seid der Beweis für diesen Glauben.«3
Aus den frühen Jahren Ernst Papaneks sind nur wenige Fotos erhalten: Ernst und seine Schwestern Olga und Margarethe posierend im Fotolabor …
… der Straßenbahnausweis seiner Mutter Rosa …
… und ein Foto der »Trödlerei Spira«, die von seinen Großeltern, Rosas Eltern, betrieben wurde.
1.
Vom Kaiser zur Sozialdemokratie
Wir schreiben das Jahr 1900. Zwei Tage nachdem die Pummerin, die größte Glocke Österreichs, im Stephansdom das 20. Jahrhundert eingeläutet hatte, erschien erstmals die Österreichische Kronen Zeitung. Die Pariser Weltausstellung gab einen Ausblick auf das technokratische neue Zeitalter und begeisterte mit einer Rolltreppe, dem Tonfilm und dem Dieselmotor, während Ferdinand von Zeppelin in Friedrichshafen erste Probeflüge mit dem nach ihm benannten Starrluftschiff unternahm. Die Donaumonarchie wurde seit über fünfzig Jahren mit fester Hand vom frisch verwitweten Kaiser Franz Joseph I. regiert, im Juli sorgte die unstandesgemäße Hochzeit des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand für einen Adelsskandal. Obwohl der Kaiser als reaktionär galt und mit zunehmendem Unabhängigkeitsstreben der einzelnen Nationalitäten in seinem Vielvölkerreich zu kämpfen hatte, blühte das geistige Leben im Wien des Fin de Siècle. Gustav Klimt malte seine ersten Atterseebilder. Sigmund Freud veröffentlichte sein bahnbrechendes Buch Die Traumdeutung, das Grundlagenwerk der Psychoanalyse. Auf kaiserlichen Erlass hin durften erstmals Frauen studieren und den Doktortitel erhalten.
In diese Welt wurde Ernst Papanek am 20. August 1900 hineingeboren. Sein Vater Johann Papanek war Ende des 19. Jahrhunderts als Handelsreisender auf der Suche nach einem besseren Leben aus dem südmährischen Bisenz (Bzenec) nach Wien gekommen.4 Dort lernte er Rosa Spira kennen, die ebenfalls aus einer mährischen Familie stammte, aber in Wien aufgewachsen war. Das jüdische Paar heiratete am 27. März 1898 in der Synagoge in Wien-Fünfhaus und bekam drei Kinder: Margarethe, Ernst und Olga.5
Eines der wenigen erhaltenen Kinderfotos zeigt die Papanek-Geschwister 1906 beim Posieren im Fotoatelier: Die Mädchen tragen weiße Kleider und Blumen im Haar, Ernst einen Matrosenanzug.
Bis 1911 lebten die Papaneks in der Gumpendorfer Straße 122 im 6. Bezirk. Ernst besuchte die nahgelegene Volksschule für Knaben in der Rosagasse 8.6 In Naturlehre, Geschichte, Geographie sowie im Gesangsunterricht glänzte er, aber mit der »äußerlichen Form der schriftlichen Arbeiten« tat er sich laut Zeugnis schwer. Dann übersiedelte die Familie in eine Wohnung in der Reindorfgasse 17 im 15. Bezirk, einem vierstöckigen Mietshaus neben der Gastwirtschaft »Zum Guten Hirten« und der Pfarrkirche Reindorf zur »Allerheiligsten Dreifaltigkeit«, einem josephinischen Kirchenbau.
Ernst wuchs in einem kleinbürgerlichen, ärmlichen Elternhaus auf. Sein Vater Johann arbeitete als reisender Händler, Rosa war Schneidergehilfin. Die Papaneks und ihre Vorfahren waren jüdisch, allerdings nahmen sie religiöse Vorschriften und Traditionen wohl nicht sehr streng. So wurde die Geburtsurkunde von Ernst zwar von der Israelitischen Kultusgemeinde ausgestellt, Johann und Rosa ließen ihren Sohn aber nicht beschneiden und gaben ihm auch nicht – wie bei Juden üblich – einen zusätzlichen hebräischen Vornamen.
Die Papaneks waren also keineswegs fromm, trotzdem gab es eine kurze Phase in Ernsts Kindheit, in der er sich betont jüdisch gab und sogar Rabbiner werden wollte. »Er war jemand, der passionierend über alles war«, erklärte Ernsts Sohn Gus Papanek in amerikanisch-deutschem Sprachmix 1979 in einem Interview.7 Wenn Ernst Papanek sich für etwas interessierte, dann immer mit Haut und Haar, dann warf er sich geradezu auf ein Thema. So sollte es mit seinem lebenslangen leidenschaftlichen Einsatz für die Sozialdemokratie sein und so war es bei seiner kurzen »Liebesaffäre« mit dem Judentum.
Wenn der halbwüchsige Ernst nun am Samstag seine Großeltern mütterlicherseits in ihrer »Trödlerei Spira« besuchte, hatte er ein Problem. Sie schenkten ihm und seinen Schwestern Geld, aber am jüdischen Ruhetag Schabbat durfte man dieses nicht in die Hand nehmen. Also hielt er die Tasche seines Matrosenanzugs weit auf, damit die Großmutter das Geld hineinwerfen konnte, ohne dass er es berühren musste.
In der Volksschule besuchte Ernst noch den »mosaischen« Religionsunterricht, als Jugendlicher erklärte er sich dann aber für konfessionslos. Zeit seines Lebens blieb er bei dieser Einstellung – als Erwachsener hatte er nur mehr ein sehr rudimentäres Wissen über das Judentum.
Während seiner Kindheit erlebte Ernst Papanek das letzte Aufblühen der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie, dann brachten die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 schockwellenartige Veränderungen. Papanek war zu diesem Zeitpunkt Schüler am Realgymnasium in der Diefenbachgasse und überzeugter Monarchist. »Der Kaiser war eine herrliche Gestalt für mich«, erinnerte er sich Jahrzehnte später.8 Papanek kam aus einer unpolitischen Familie und verstand daher viele Zusammenhänge nicht. Als kleiner Bub las er einmal auf einem Wahlplakat, dass die Sozialdemokratie für das Volk sei. Aber in der Schule hatte er gelernt, dass der Kaiser für das Volk sei. Seine Schlussfolgerung: Der Kaiser war Sozialdemokrat.
1914 wurde Johann Papanek zum Kriegsdienst einberufen und Ernst begann die Familie mit Gelegenheitsarbeiten finanziell zu unterstützen. Gleichzeitig ließ sich der 14-Jährige von der allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken und trug mit seiner kleinen Schwester Süßigkeiten zu den Zügen, die die Soldaten an die Front brachten.9 Seine monarchisch-patriotische Treue zeigt auch ein um die Zeit entstandenes Schulfoto: Papanek als gutaussehender Junge mit aufgewecktem Gesicht, gestrickter Krawatte und einem militärisch anmutenden Kreuzanstecker am Revers.
Einen ersten Riss bekam Ernst Papaneks Weltbild, als er beobachtete, wie junge Soldaten zu den Klängen des Radetzkymarsches durch die Straßen Wiens marschierten. Nachbarn säumten die Straßen, winkten den Soldaten zu und bewarfen sie mit Blumen. Für einen kurzen Moment trat ein lachender Soldat aus der Reihe, um eine der Blumen aufzuheben, da stürmte ein Feldwebel auf ihn zu und riss ihn brutal in die Formation zurück. Der Soldat verstummte und in seinem Blick spiegelte sich plötzlich all die Todesangst und Vorahnung dessen, was der Krieg noch bringen würde. Die Szene ließ Ernst Papanek ein Leben lang nicht los. Wenige Jahre vor seinem Tod erklärte er, er könne einen ganzen Roman über diesen einen Augenblick schreiben, so sehr wirke er in ihm nach.10
Der aufgerüttelte Jugendliche stellte nun erst einmal alles in Frage: den Krieg, den Kaiser, die Politik. Noch allerdings hatte er keinen Ort für seine neuen Überzeugungen. »Ich war mehr Rebell als Revolutionär«, beschrieb Papanek seine Einstellung später, »mehr Anarchist als Sozialist«.11 Klassenkameraden schlugen ihm vor, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beizutreten, aber er zögerte. Nach seiner Abkehr vom kaisertreuen Patriotismus fand der idealistische 14-Jährige die Sozialdemokraten nun erst einmal nicht sozial(istisch) genug. Zu viele Kompromisse, zu wenig Interesse am »Lumpenproletariat«, an den Massen an hungernden Menschen auf der Straße, klagte er.12 Gute zwei Jahre dauerte es, dann beschloss Papanek, dass zu wenig Sozialismus immer noch besser sei als gar keiner und dass auch der größte Idealist auf verlorenem Boden kämpft, wenn er alleine ist. Also trat er 1916 der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschösterreich bei.13
In der fünfjährigen Volksschule schreibt Ernst Papanek gute bis gemischte Noten, für eine Versetzung auf das Realgymnasium reicht es aber.
Das Parteilokal Rudolfsheim lag nur unweit von seinem Elternhaus entfernt und dort nahm er jetzt regelmäßig an Diskussionsabenden teil. Nur wenige Monate später kam es zu einem für Papanek und die gesamte Bewegung einschneidenden Ereignis: Am 21. Oktober 1916 erschoss der Parteisekretär Friedrich (Fritz) Adler im Wiener Hotel Meißl & Schadn in aller Öffentlichkeit den Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh.14
Stürgkh galt als Kriegstreiber und regierte dank kaiserlicher Verordnungen zunehmend diktatorisch, unter anderem hatte er eine strikte Pressezensur eingeführt. Fritz Adler war der Sohn von Victor Adler, dem Begründer der Sozialdemokratie in Österreich. Er hoffte mit seinem terroristischen Attentat die Massen, vor allem aber auch seine eigene Partei, zur Revolution gegen Kaiserreich und Krieg aufzurütteln. Dabei war der junge Adler keineswegs ein Fanatiker. Der 37-jährige Physiker (der einst seinem guten Freund Albert Einstein zuliebe auf eine Professur verzichtet hatte) galt als großer Humanist, wie Ernst Papanek Jahrzehnte später in einer Vorlesung seinen Studenten erklärte.15
Der zutiefst erschütterte Victor Adler versuchte in den Monaten bis zum Prozess, seinen Sohn für geistig unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Fritz aber stand zu seiner Tat. Mehr noch als der Mord war es dann seine Verteidigungsrede am 18. und 19. Mai 1917, die die Massen polarisierte und der Weltöffentlichkeit zeigte, dass nicht alle in Österreich-Ungarn den Krieg unterstützten. Historiker bewerten seine Rede heute als »Aufsehen erregende Abrechnung mit dem Verbrechen der Massenvernichtung, mit dem habsburgischen Kriegsabsolutismus und der lethargischen, defätistischen Tolerierungspolitik des sozialdemokratischen Parteivorstandes«.16
Fritz Adler hatte damit gerechnet, für den Mord zum Tode verurteilt zu werden. Doch im Anbetracht der weltpolitischen Lage – im November 1916 war nach fast 70-jähriger Regierungszeit der Kaiser gestorben, im Februar 1917 brachte die Revolution in Russland das Ende des Zarenreichs – wurde das Urteil in eine langjährige Haftstrafe abgewandelt. (Kurz vor Kriegsende begnadigte der neue Kaiser Karl I. Fritz Adler dann sogar vollends.).
Noch immer tobte der Erste Weltkrieg, während die Bevölkerung im nunmehr zweiten Hungerwinter zunehmend unter der Lebensmittelknappheit litt und die Sehnsucht nach Frieden weiter stieg. Krawalle und Proteste kulminierten 1918 im revolutionsartigen Januarstreik. Der 17-jährige Ernst Papanek war inzwischen Mitglied der sozialistischen Mittelschülerbewegung, einer illegalen und linksradikalen Organisation, die vor allem gegen das monarchisch verstaubte Schulsystem protestierte.17 Um diese Zeit herum wurde er bei Antikriegsdemonstrationen das erste Mal kurzzeitig verhaftet, eine Feuertaufe für junge Sozialisten. Im Oktober 1918 wurde Papanek zum zweiten Mal verhaftet: Er hatte Flugzettel mit dem 14-Punkte-Friedensprogramm des amerikanischen Präsidenten Wilson verteilt. Durch Intervention von Lehrern kam Papanek jedes Mal glimpflich davon.18 Mit schlimmeren Konsequenzen hatte er dann aber zu rechnen, als er seinen Einberufungsbefehl erhielt.
Gemeinsam mit einer Reihe junger Männer sollte Ernst Papanek den Soldateneid auf den Kaiser leisten. Doch er weigerte sich. Ja, nicht nur er: Die gesamte Gruppe weigerte sich, für die sich in den letzten Atemzügen befindende Monarchie in den Krieg zu ziehen. Darauf stand die Todesstrafe. Doch im Herbst 1918 hatte niemand großes Interesse daran, eine Gruppe Schüler gesammelt vor ein Standgericht zu stellen. Also schlug man ihnen einen Kompromiss vor: Erklärt euch für verrückt. Wer nicht für Kaiser, Volk und Vaterland sterben will, muss schließlich verrückt sein. Allerdings stand darauf nur ein Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Steinhof und nicht der Tod. Wieder weigerten sich Papanek und seine Kameraden. Genau wie ihr großes Vorbild Fritz Adler wollten sie eine Gerichtsverhandlung, in der sie öffentlich ihre Ablehnung des Krieges erklären konnten. Mehrere Wochen lang waren die jungen Männer im Gefängnis, während man ihnen immer wieder neue Kompromisse vorschlug. Das ganze Dilemma erledigte sich schließlich auf »natürliche« Art und Weise, als im November 1918 der Krieg zu Ende war und kurz darauf auch die Monarchie unterging.19
***
»Das sind so Geschichten, die Teil der Familienlegende sind«, erklärte Hanna Papanek 1979 in einem Interview mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands.20
Die Papanek-Schwiegertochter hatte Ernst und ihren späteren Ehemann Gus 1939 als Jugendliche in Frankreich kennengelernt. Hannas Eltern waren deutsche Sozialdemokraten, die wie die Papaneks im Pariser Exil lebten und ihre Tochter in dieselbe sozialistische Jugendgruppe schickten. Dort hörte Hanna zum ersten Mal die »Familienlegenden« rund um Ernst Papaneks viele Verhaftungen, angefangen mit jenen in Wien. »Für mich hat all dies bedeutet, ich stehe im Schatten von Helden«, erzählte sie in dem Interview 1979. »Und das war ja auch so der Sinn, der Wert der politischen Erziehung.«
Ernst Papanek hat seinen Kindern und Schülern oft Geschichten über seine wilde politische Jugend erzählt. Ob sich all das wirklich so zugetragen hat, lässt sich aus heutiger Sicht nicht einwandfrei beweisen. Die Polizeiakten für das Jahr 1918 sind während des Zweiten Weltkriegs verbrannt und in den vergilbten Registern des Landesgerichts für Strafsachen im Archiv der Stadt Wien finde ich keine Hinweise darauf, dass Ernst Papanek je angeklagt wurde. Auch das Kriegsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv verzeichnet zu Papanek keinen Bestand. Es gibt kein »Grundbuchblatt« über ihn, wie es für alle potenziellen Soldaten angelegt wurde, ebenso fehlt sein Name in den überdimensionierten Registerbüchern für den Buchstaben P.21
Als Historikerin wünscht man sich, jeden Abschnitt eines Lebens bis ins letzte Detail belegen zu können. Für Papaneks Biografie ist es aber letztlich unwichtig, ob der 18-jährige Ernst wirklich wochenlang in Haft saß oder ob das Habsburgerreich in den letzten Monaten seiner Existenz andere Probleme hatte, als sich mit ein paar Kriegsdienstverweigerern herumzuschlagen. Und wenn man den (zweifelsfrei dokumentierten) Rest seiner Geschichte kennt, stellt sich die Frage sowieso nicht mehr: Seine jugendlichen Demonstrationen waren noch das Geringste, was Ernst Papanek geleistet hat.