ANGEL

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Bei mir war dieser Tag vermutlich im Alter von achtundzwanzig gewesen. Irgendwann. Vor vielen Jahren ...

Mark war neununddreißig gewesen, als sein Körper aufhörte, zu altern. Das hatte er mir damals erzählt. Er war, genau wie jeder andere, ein geborener Werwolf. Ein Mischling. Gezeugt von einem Werwolf, geboren von einem Menschen. So war es in achtundneunzig Prozent aller Fälle. Selten waren Kinder unter Werwölfen, denn die Schwangerschaft war für uns ein heikles, lebensgefährliches Spiel. Oft starben die Mütter noch vor der Geburt. Und dieser ganze Quatsch mit dem Gebissenwerden war reine Erfindung.

Wie alt er genau war, hatte er mir nie verraten, aber ich wusste, dass es bereits vierstellig sein musste. Claude kannte ihn schon aus Zeiten, in denen ich noch nicht existierte. Aus Zeiten, in denen er im She’Ol gelebt hatte, also vor über zweitausend Jahren. Nicht einen Tag war er seit seinem neununddreißigstem Lebensjahr gealtert. Viel hatte er mitangesehen und in seiner Erinnerung bewahrt, was andere längst vergessen hatten.

Sein langes pechschwarzes Haar war an einigen Stellen von leichtem Grau durchzogen. Sein Körper war schlank, aber stark. Ich wusste, dass er zahlreiche Narben unter seinem Hemd verbarg. So viel wusste ich über ihn ...Plötzlich schlug er die Augen auf und sah mich an. Er sah mir direkt in die Augen. Ganz so, als wüsste er, dass ich ihn schon länger ansah. Kein Erschrecken. Nicht eine Regung huschte über sein Gesicht.

Er sah mich mit diesem Blick an, den ich so sehr liebte und so unsagbar hasste. Er sah in mich hinein, das wusste ich. Er konnte einen ansehen und wusste, was man dachte, fühlte, träumte, wünschte ... Unbeholfen stand ich da und wusste nicht wohin mit meinem Blick. Ich kam mir mit jeder Sekunde, die verging, dämlicher vor.

„Schön siehst du aus, so im Feuerschein“, sagte er schließlich, runzelte dann aber die Stirn. In seiner Stimme lag etwas, was mir gar nicht gefallen wollte. Da war viel zu viel Gefühl. Gefühl, das nach all der Zeit nicht mehr da sein sollte.

Alarmiert machte ich einen Schritt zurück und trat wieder ans Fenster. Ich schloss kurz die Augen, atmete tief ein und versuchte die Panik niederzukämpfen.

„Also? Was gedenkst du jetzt zu tun?“, fragte Mark leise und erhob sich. Lautlos trat er einen Schritt nach dem anderen auf mich zu, bis er schließlich ganz dicht vor mir stand, so, dass seine Brust meine fast berührte. Ich spürte seinen warmen, ruhigen, gleichmäßigen Atem auf meiner Wange. Wie ein Anker, der mich am Boden hielt.

„Angel“, sagte er wieder und in seiner Stimme lag ernst. „Du musst dich nähren. Ob du willst oder nicht. Und wenn du keinen von uns willst, bleibt dir nur eine Wahl. Du musst ihn wieder befreien. Er oder der Käfig!“

Ich richtete mich kerzengerade auf, spannte jeden Muskel und starrte ihn wütend an. Angst und Zorn mischten sich in meinem Inneren und tauchten die Welt um mich in Schatten. Um keinen Preis würde ich noch einmal in diesen Käfig gehen! Das würde ich nicht überleben! Unsterblichkeit hin oder her. In der gefangenen Enge hinter den Gittern würde ich elendig zugrunde gehen. Doch Claude aus seiner Verbannung zu befreien war zu gefährlich.

„Niemals!“, schrie ich ihn an, dass man es im ganzen Haus hören musste. „Wie kannst du mich nur darum bitten?!“, fauchte ich voller Zorn und wollte ihn schlagen, doch er fing meine Hand kurz vor seiner Wange ab.

Immer noch lag diese Ruhe und dieser Ernst in seinen Augen, als blicke man in einen tiefen, dunklen See, grün vom Schatten der umliegenden Bäume aber tief und unsäglich gefährlich.

„Angel, ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht notwendig wäre. Du weißt genau, dass ich recht habe. Ohne Claude wirst du es nicht schaffen. Du brauchst ihn. Jetzt mehr denn je.“

„Ich kann ihn nicht befreien!“, schluchzte ich, immer noch voller Wut und Hass und Trauer. „Er wird sie töten!“ Ich hob die zweite Hand, halbherzig, zum Schlag, aber auch die fing er ab.

„Angel“, sagte er nun und drückte mich gegen das Fenster. Er blickte mir lange und tief in die Augen. Solange bis mir die Tränen kamen.

„Scheiße, Mark! Wie kannst du mich darum bitten? Er wird Melody töten, wenn er von ihr erfährt!“

Allein die Vorstellung brachte mein Herz zum Rasen. Mir wurde schwindelig und beinah schwarz vor Augen. Und der Schmerz war so grausam.

„Das wird er nicht. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, damit ihr nichts geschieht. Wir werden ihn nur befreien, damit er dich nähren kann. Danach schickst du ihn zurück“, flüsterte er und diesmal waren es Wehmut und Trauer, die ich hörte. „Meinst du, mir fällt es leicht, dich darum zu bitten? Bestimmt nicht, aber es muss sein, Angel. Allein sein Blut ist stark genug, all die Jahre deines Hungers auf einmal auszulöschen und dich starkzumachen.“

Er ließ meine Hände los. Langsam sanken sie nach unten. Schwach und kraftlos. Sanft strich seine Hand über meine Wange, ehe er mich in die Arme schloss.

„Du musst ihm verzeihen. Er hat es damals nicht aus Bosheit getan, glaube mir.“ Er hielt kurz inne, ehe er weitersprach, „Wenn du willst, frage ihn nach dem Grund. Er liebt dich wirklich. Ich werde dir helfen so gut ich kann. Ich lasse dich nicht allein. Nie wieder.“

Langsam drückte ich mich von ihm, bis ich ihm wieder in die Augen sehen konnte. Hart und kalt war mein Blick, während ich mir die Tränen aus den Augen rieb.

„Ich werde ihm nie verzeihen. Niemals. Er wird sie töten, wenn er die Gelegenheit bekommt!“ Der Hass ließ meine Augen gelb aufflammen und für einen Moment erlaubte ich der Wildheit meiner Aura freien Lauf. Gerade lang genug, dass ich das Entsetzen in Marks Augen genießen konnte, ehe ich mich wieder fing und die Dunkelheit aus dem Raum verschwand.

„Wenn du deinen Wächter nicht befreien willst, Angel, dann nimm mein Blut.“

Erschrocken fuhren Mark und ich herum. Keiner von uns hatte bemerkt, dass wir nicht länger allein im Arbeitszimmer waren. Nick stand, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, in der Tür. Sein Blick glühte förmlich vor Entschlossenheit.

„Nick ...“, murmelte ich.

„Ich weiß nicht, was geschehen ist, dass du Claude nicht mehr vertraust, aber wenn du ihn nicht willst, nimm mich.“

„Nein, Nick! Du weißt, dass das nicht geht. Ich kann das nicht tun.“ Wieder schnürten mir Angst und Hunger die Kehle zu. Kalt lief es mir den Rücken herunter, als ich nur daran dachte, dieses Angebot anzunehmen. Nick war mein kleiner Bruder! Unmöglich konnte ich ihn so benutzen. Niemals.

„Nick“, ging nun Mark dazwischen und trat auf den jungen Werwolf zu, „Das ist Angels Entscheidung. Jeder von uns würde sich ihr gern zur Verfügung stellen, und das weiß sie auch. Aber letztlich wäre Claude die bessere Wahl.“

Da wurde Nicolais Blick finster. In seinen schönen, haselnussbraunen Augen glommen goldene Funken. Mit einem kraftvollen Schritt trat er an seinem Alpha vorbei.

„Angel, bitte. Ich bin dir das einfach schuldig.“

Zu meinem wachsenden Entsetzen sah ich mit an, wie er sich die Hemdsärmel hochschob und sein linkes Handgelenk an die Lippen führte. Ein Biss und der atemberaubende Geruch von frischem Blut erfüllte das kleine Zimmer.

Ein Stöhnen entkam mir, als mein Hunger erneut aufbegehrte. Ich krallte mich mit beiden Händen in die Fensterbank, um nicht diesem fürchterlichen Instinkt zu erliegen. „Hör … auf damit!“, keuchte ich und schloss die Augen. Den herrlichen, verlockenden Geruch jedoch konnte ich nicht so einfach ausblenden. Und erinnerte mich diese Szene nicht viel zu sehr an jenes grausame Erlebnis mit Claude? Mir wurde schlecht.

„Es ist ein Geschenk.“ Nicks Stimme war unmittelbar vor mir. Ich spürte die Wärme seines Körpers überdeutlich. Jeder meiner Sinne war zum Zerreißen gespannt, hungrig endlich zuzuschlagen und sich zu holen, was mein Körper so dringend brauchte.

„Bitte nimm es an, Angel. Ein Leben für ein Leben. Schließlich … war ich es damals, der dir deines nahm. Bitte lass mich dir zurückgeben, was ich dir genommen habe.“

Ich riss die Augen auf und starrte ihn an. Er zwang mich dazu. Er, Nicolai, mein kleiner Bruder, zwang mich förmlich dazu, sich von ihm zu nähren. Dieses Geschenk abzulehnen käme einer Beleidigung seiner Ehre, seiner Herkunft und seiner ganzen Familie gleich. Ich würde ihn ablehnen. Und das wollte ich nicht … „Warum zwingst du mich dazu?“, schluchzte ich und sank auf die Knie nieder.

Nick folgte meiner Bewegung und legte sein blutendes Handgelenk in meine Handfläche. „Bitte“, sagte er wieder und lächelte mich an. Ich fühlte, wie sein warmes Blut meine Finger hinunterrann ...

Ich konnte nicht anders.

Mit beiden Händen umfasste ich seinen Unterarm und beugte mich hinab. Notwendigkeit hin oder her, es war so falsch mich von Nick zu nähren. Aber ich konnte nicht anders ... Ich konnte nicht anders … Wieder und wieder betete ich diese Worte in meinem Kopf herunter, wie ein Mantra, während ich die Augen schloss und meine Lippen die kleine Wunde umschlossen. Süßes, oh so süßes, herrlich heißes Blut benetzte meine Kehle! Rann in einem steten, sanften Strom meinen Hals hinab. Der Biss verheilte schon wieder und so musste ich ihn erneut öffnen. Nick zuckte nicht einmal, als meine Zähne sein Fleisch durchbohrten.

Selbst, wenn ich gewollt hätte, unmöglich hätte ich mich jetzt noch von ihm lösen können. Der Hunger hatte mich fest im Griff, seine Klauen bohrten sich tief in meine Eingeweide, tief in meinen Geist. Er beherrschte mich völlig. Für diesen Moment war alles, woran ich denken konnte: Mehr! Die Wunde war zu klein, der Blutfluss zu wenig. Viel zu langsam!

Mit einem wütenden, animalischen Knurren ergriff ich Nicks Schultern und drückte ihn zu Boden. Längst drängte das Biest in mir nach außen. Meine Finger waren Klauen, meinen Mund füllten Reißzähne, meine Augen glühten wie Sterne in der Nacht. Wieder füllte Dunkelheit das Zimmer an, doch diesmal merkte ich es nicht.

 

Der Hunger trieb mich weiter, ließ mich vergessen, wer ich war. Das Fauchen, mit dem ich mich von Nicks Handgelenk losriss, gellte durchs ganze Haus. Mehr, mehr, mehr!

Das Ungeheuer hinter meinem Herzen brüllte und schrie, als ich meine Zähne in Nicolais Hals schlug. In tiefen Zügen trank ich von ihm. Irgendjemand zerrte an mir. Versuchte nach Leibeskräften mich von meiner Beute zu trennen!

Knurrend und mit gefletschten Zähnen fuhr ich herum. Meine Fänge bekamen irgendetwas zu fassen und wieder schmeckte ich Blut.

Kapitel IV

Stöhnend rollte sich Connor auf den Rücken. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte. Aber Schmerz war ein gutes Zeichen. Das bedeutete er lebte noch. Wieso lebte er noch?

Als er die Augen aufschlug, umgab ihn Dunkelheit. Nein, da war Licht. Von irgendwo neben ihm schien blasses Orange. Zitternd durchdrang es die Schatten und enthüllte vereinzelte Umrisse. Die Lehne eines Sofas, auf dem er lag. Buchrücken. Regalböden. Wo war er denn hier gelandet?

„Du solltest wirklich etwas bedachter vorgehen, Connor“, hallte eine Stimme durch die Stille, die ihm durch Mark und Bein ging. Mit einem entsetzten Keuchen fuhr Connor hoch. Nur beiläufig registrierte er, dass er nicht mehr nackt war. Einfache Kleider, die er sich selbst nie gekauft hätte, lagen auf seiner Haut. Sein Blick zuckte durch den Raum, bis er die Quelle der wohlbekannten Stimme fand.

„Herr!“, keuchte er und konnte nicht umhin furchtsam zu klingen. Fürchtete er sonst nichts auf dieser Welt, vor ihm zitterte sogar er.

Luzifer sah von seinem Buch auf und lächelte ihn an. So normal, war alles, was Connor zu seiner Erscheinung einfiel. Jeans, ein roter Wollpullover, Socken. Auf der schmalen Nase eine Lesebrille. Das lange Haar nach hinten zusammengebunden. Hätten seine Iris nicht dieselbe Farbe, wie sein Pullover, wäre er glatt als Mensch durchgegangen.

„Es war nicht klug von dir meinen Sohn so zu reizen. Was kam dir nur in den Sinn, mit seiner Braut zu schlafen? So was solltest du in Zukunft unterlassen. Ich kann dich nicht immer retten.“

„Ihr ... habt was getan?“

Völlig entsetzt starrte Connor seinen Fürsten an. Seufzend schloss dieser das Buch und legte es auf den Schreibtisch, an dem er saß. Die kleine Lampe an seiner Seite tauchte sein ebenmäßiges Gesicht in sanften Schimmer.

„Dich gerettet. Du hast noch eine Aufgabe und ich konnte nicht zulassen, dass deine eigene Dummheit dich umbringt. Du wirst mir bald sehr wichtig werden.“ Wieder dieses liebevolle Lächeln. „Ich brauche dich noch.“

Connor wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Die Tatsache, dass der Fürst der Unterwelt Interesse an seinem Leben hatte, war nicht gut. Wenn Luzifer sich für einen interessierte, bedeutete das nie etwas Gutes. Das war gefährlich. Connor rückte unbewusst ein Stück von ihm ab. Plötzlich meldete sich jedes Alarmsignal in seinem Körper und drängte ihn zur Flucht.

„Wenn es dir besser geht, kannst du ruhig gehen“, murmelte der Fürst und nahm sein Buch wieder auf. „Wir sind immer noch in London. Du wirst dich also zurechtfinden, wenn du das Gebäude verlässt. Tu mir doch bitte den Gefallen und erzähle niemandem von deinem Besuch bei mir, sei so gut.“

Die Schreie seiner Seele wurden immer lauter. Jedes Härchen auf Connors Körper sträubte sich. Seine Muskeln schmerzten in bereiter Anspannung.

Entgegen all seiner Wünsche stand er langsam auf. Er legte eine Hand auf die Brust und verbeugte sich tief.

„Ja natürlich, Herr“, sagte er steif, ehe er sich langsam zur Tür wandte. Luzifer sah ihm nach und das Rot seiner Augen verfolgte ihn auch noch, als er längst die Treppen hinunterstürmte. Schwer atmend erreichte er den Bürgersteig vor dem großen Bürokomplex. Niemand hatte ihn behelligt auf seinem Weg hinaus. Wahrscheinlich wussten sie, wer er war. Im trüben Licht des schwindenden Nachmittags stand er draußen und erkannte die Straße. Von hier war es kaum ein Katzensprung bis zu seinem Apartment. Ohne es wirklich zu wollen, drehte er sich um und betrachtete die glitzernde Fassade aus Stahl und Glas. Connor konnte kaum glauben, was er sah, als seine Augen das riesige Logo einer weltweiten Internetfirma entdeckten. Nein, dachte er, das wundert mich nicht.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er den Heimweg antrat. Was er allerdings über diese merkwürdigen Anwandlungen seines Fürsten denken sollte, wusste er nicht.

*

Cassandra.

Nicolai war sich nicht einmal sicher, ob er atmete, aber jeder seiner Gedanken drehte sich um sie. Sie und das Ungeborene. Hoffentlich ging alles gut bei der Schwangerschaft. Was es wohl werden würde? Ein Sohn wäre schon toll, ein kleiner Nicolai, mit dem er jagen und Unsinn anstellen konnte. Oder eine kleine Prinzessin, die er auf Händen tragen konnte. Er würde ihr ein Puppenhaus bauen, das aussah, wie Craven.

Ein stechender Schmerz an seinem Hals lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Mühsam versuchte er die Augen zu öffnen, aber das machte den Schmerz nur noch schlimmer. Was war denn nur los?

„Ssht“, machte jemand neben ihm, dann wieder dieses Stechen, „Es ist gleich vorbei.“

Immerhin eines seiner Augen bekam er weit genug auf, um zu sehen, dass Mark neben ihm stand. Sein Hemd war blutverschmiert und er schien irgendetwas mit seinen Händen zu tun. Ah, so wie es aussah nähte er gerade eine Wunde an Nicks Hals. Das erklärte natürlich den stechenden Schmerz.

Warum war er denn verletzt? Irgendetwas musste geschehen sein, aber sein Gehirn schien die Erinnerungen nicht ausspucken zu wollen.

Nick schloss sein eines, funktionierendes Auge wieder und versuchte sich krampfhaft zu erinnern.

Das stechende Eindringen der Nadel in sein Fleisch half dabei leider wenig.

Langsam und nur bruchstückhaft kehrten die Bilder zurück. Er war Mark und Angel gefolgt. Und als er mitbekommen hatte, worüber die beiden sprachen, hatte er nicht gezögert, sich ihr anzubieten.

Sie hatte von ihm getrunken. Für einen kurzen Moment war er sehr glücklich darüber gewesen, diese eine Schuld ihr gegenüber begleichen zu können.

Doch dann hatte sie ihn niedergeworfen und seinen Hals gepackt. Mark hatte versucht, sie von ihm zu lösen.

Angels Brüllen, das selbst in seiner Erinnerung noch dröhnte, hatte in diesem Augenblick nichts Menschliches mehr gehabt.

Als er dort blutend am Boden lag und sah, was Angel Mark antat, verstand er das wohl erste Mal in seinem Leben, was für ein Monster wirklich in ihnen allen lauerte.

Und was es bedeutete, wenn sie willenlos von der Leine gelassen wurden.

Diesen Anblick würde er seinen Lebtag nicht mehr vergessen können. Angel, die er wie eine Schwester liebte, hatte seinen Alpha angegriffen. Wie eine wilde Bestie, frei von Verstand und menschlichem Willen. Da war nur noch reine, pure Bosheit gewesen. Eine Aura der tiefsten Schwärze hatte die beiden umgeben, wie ein Sturm aus Dunkelheit und endloser Nacht.

Das letzte, woran er sich erinnerte, bevor eine bodenlose Bewusstlosigkeit ihn erfasste, waren schwarze Schwingen.

Dämonisch schöne Flügel, die er sich nicht erklären konnte. Was war da nur geschehen?

Vielleicht, dachte Nicolai noch, als sein Verstand über die Anstrengung und den steten Schmerz langsam träge wurde, Vielleicht sollte ich Mark danach fragen … Dann umfing ihn ein weicher, heilsamer Schlaf.

Kapitel V

Er saß auf einem Mauervorsprung. Still und unbeweglich, wie ein Wasserspeier. Er war auf der Lauer, aber er hatte nicht vor, das, was er beobachtete, zu töten. Ein Lächeln trat auf seine Lippen. Nein, er könnte niemals seine eigene Schwester töten.

Er verfolgte sie schon den ganzen Tag. Monatelang. Prägte sich ihre Wege und Gewohnheiten ein. Ihre Freunde. Alles, was sie tat, sah er. Auch das war Teil seines Vertrags.

Abel verlagerte sein Gewicht etwas und beugte sich weiter über den Rand der Mauer hinaus, als Melody mit ihren Freundinnen das Schulgebäude verließ. Er verursachte kein Geräusch, als er aufstand und auf dem Sims entlang ging, um ihr zu folgen. Die Bäume und die heraufziehende Dämmerung verbargen seinen großen, dünnen Körper.

Es waren nur noch wenige Wochen, bis es endlich soweit wäre. Das Ende des Monats rückte immer näher und damit der Geburtstag seiner Schwester. Der Tag, an dem sie einst das Licht der Welt erblickt hatte, war kein Zufall gewesen. Das wusste Abel sicher. Der 31. Oktober war der Tag, an dem die Toten auf der Erde wandelten. An dem Luzifer die Hölle verlassen konnte. Niemand hatte aus purem Zufall an diesem Tag Geburtstag.

Abel machte einen langen Satz zum nächsten Gebäude hinüber. Gleich würde sie in die Bahn steigen. Er würde sich beeilen müssen vor ihr an den Haltestellen zu sein.

Es hatte einige Wochen gedauert, vielleicht waren es sogar Monate gewesen, bis er die Begegnung mit ihm verarbeitet hatte. Mit ihm, dem einen Wesen auf dieser Welt, das er noch mehr hasste, als seine Mutter. Abel wusste nicht mehr, warum die Erinnerung aus seinem Kopf gewischt worden war, aber jetzt konnte er sich erinnern. Jetzt, wo sein Bruder Kain, der ihn einst getötet hatte, ihm erzählte, was geschehen war. Von Abels Mutter. Und warum er nun etwas anderes war, als sein Bruder. Warum Kain lebte und warum er, Abel, noch lebte. Von dem Tag, an dem er erschaffen worden war. Von ihr ... Er stieß einen knurrenden Laut aus und sprang zum nächsten Dach.

Als ihm all das klar wurde, hatte er einen Entschluss gefasst. Sie würde dafür bluten müssen. Kain hatte recht. Sie hätte ihn nie zurückholen dürfen. Seine Mutter, die ihn vergessen hatte. Die nicht mehr wusste, wer er war und die ihn nie geliebt hatte. Allein gelassen hatte sie ihn, als er sich vor Schmerz am Boden wand und nicht wusste, was mit ihm geschah. Sein geliebter Bruder, der versucht hatte, ihn zu ermorden, war fort. Nichts war mehr übrig gewesen von der Welt, die er gekannt hatte. Aber er war stark geworden. Er hatte überlebt. Und Kain war zurückgekehrt zu ihm.

Vor diesem grausamen Schicksal wollte er seine süße, kleine Schwester nun bewahren. Er konnte nicht zulassen, dass ihr dasselbe widerfuhr, wie ihm. Sie würde auch ihre Tochter vergessen. Irgendwann. Sie hatte sie schließlich auch weggeben. Sie würde auch sie vergessen. Und Melody würde daran zerbrechen. Leider würde der Weg an seine Mutter heranzukommen nur über seine Schwester funktionieren. Das war auch Kains Meinung gewesen. Er würde Melody entführen müssen. Wahrscheinlich musste er sie sogar verletzen, aber sie würde schon wieder werden. Schließlich war sie unsterblich. Sein Plan war gut. Kain würde ihm helfen. Sie waren schließlich Brüder.

Abel sprang hinab auf die Straße, landete an einer dunklen Hausecke und folgte ihr weiter. Ein paar Meter vor ihm ging sie. Lachend und scherzend mit ihren Freundinnen. Nein, dieses Leben, dieses Glück musste er erhalten. Auf keinen Fall konnte er zulassen, dass auch sie vergessen wurde ...

*

Schatten.

Es war, als müsse sich mein Bewusstsein durch dichten, schweren Teer kämpfen. Ich erwachte mit einem Stöhnen. Alles, wirklich jede Zelle meines Körpers schmerzte. Nicht, dass ich diesen Zustand nicht gut kannte. Ihn gar als alten Freund begrüßte. Nur diesmal war irgendetwas anders.

Dieser Ort, an dem ich nun erwachte, war keine schmutzige Gasse in der Stadt. Kein verwinkelter Hinterhof. Und auch nicht mein Zimmer. Keine billige Absteige. Nicht einmal Connors Couch. Es roch nach Moder, altem Stein und Stahl. Nach Blut und Alter und Eisen. Nach Spinnen und Mäusen. Und nach Werwolf.

Ich kannte diesen Geruch und er löste eine tiefe, innere Panik in mir aus. Selbst gegen den erklärten Protest meines Körpers katapultierte mich diese Erkenntnis auf die Füße. Ein drohendes Knurren verließ meine Kehle, doch niemand hörte es. Ich war allein in dem Keller. Allein in dem Käfig.

Was war denn hier los? Warum, bei allen sieben Höllen, hatte Mark mich eingesperrt? Ein Schrei formte sich in meinem Hals und zerrte heftig an mir. Die Panik wuchs ins Unermessliche, als mir klarer und klarer wurde, wie eng dieser Käfig war. Mir schien es, als kämen die harten, kalten, unnachgiebigen Gitter immer näher und näher -

 

Die Tür mir gegenüber, jene, die nach oben führte, wurde mit solcher Kraft aufgestoßen, dass sie laut krachend gegen die Steinwand schlug. Es rieselte Kiesel und Staub. Nichts davon erlangte meine Aufmerksamkeit. Beim Anblick von Marks kochender Wut verstummte sogar die Angst.

Diesmal war er es, so schien es mir, dessen Zorn den Raum verdunkelte. Es wirkte in der Tat so, als müsse er größte Kraft aufwenden, um nicht die Welt mit sich in diesen bodenlosen Schlund aus brodelnder, pechschwarzer Wut zu reißen. Ich schluckte.

Langsam dämmerte mir, dass irgendetwas sehr Grausames geschehen sein musste. Etwas, dass ich getan hatte.

„Mark. Ich … “

Er ließ mich nicht ausreden. Nicht einmal die Mühe das Schloss zu öffnen machte er sich. Mit einem einzigen Ruck riss er die Käfigtür auf. Das Schloss zersprang einfach, als wäre es aus Papier. Seine Finger hinterließen Rillen in den Gitterstäben. Und ebenso unerbittlich schlossen sich diese Finger um meinen Oberarm, bevor ich auch nur ein einziges Wort zu Stande bringen konnte.

Mark sah mich nicht an. Wie man ein störrisches Kind aus einem Einkaufszentrum schleift, so zerrte Mark mich unbarmherzig die Kellertreppe hinauf. Seine Schritte waren so fest, dass man glauben mochte, seine Stiefel hinterließen Abdrücke im Beton.

Unsterblichkeit hin oder her, in diesem Moment fürchtete ich mich vor ihm.

So außer sich hatte ich ihn noch nie erlebt.

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