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ANGEL Dämonenkind

Liesa-Maria Nagel

ANGEL

Band 2

ANGEL

Dämonenkind

Liesa-Maria Nagel


Impressum

Texte: © Copyright by Liesa-Maria Nagel

Umschlag: © Copyright by JoHoelken

Verlag: Eigenverlag

45147 Essen

kontakt@liesanagel.de

Druck: epubli ein Service der

neopubli GmbH, Berlin


ISBN 978-3-754951-36-1

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Für Andrea, die seit jeher meine Robin ist.

Für Jo, den besten Lektor, den ich je hatte und haben werde.

Für Mama.

Und für dich, mein liebster Leser, denn ohne dich, wäre dieses Buch nicht auf dieser Welt.

Danke!


Prolog


Nachdem Gott entschieden hatte, dass seine Söhne ihrer Aufgabe gerecht geworden waren, sprach er zu ihnen: Meine Kinder, ihr habt meiner Aufgabe genüge getan. Ich werde eure Körper in den Turm der Magier, hoch oben in meinem Atziluth, dem Hohen Himmel, verbergen, Körper von Seele getrennt. Niemals wieder sollt ihr das Licht der Welt erblicken. Denn ihr seid schreckliche Kreaturen. Grausam und durstig nach Blut. Damit aber wollten sich die Söhne Gottes nicht abfinden und so begehrten sie auf wider ihrem Vater und wandten sich ab von seinem Angesicht. Der Dunkelheit und dem gefallenen Engel Luzifel verschrieben sie ihre Seelen. Doch Gott, der die Macht seiner eigenen Kinder fürchtete, sperrte sie ein in den Turm der Magier, der umgeben von weißer Magie hoch oben im Himmel stand. Für alle Zeit sollten sie dort gefangen sein.

Doch Luzifel war es, der in den Hohen Himmel kam und die Seelen mit sich nahm. In seinem She’Ol, in den tiefsten Tiefen der Hölle, gab er ihnen neue Körper, schöne Körper, auf dass sie unerkannt und frei unter den Menschen leben konnten.

Meine Kinder, sprach der Gefallene zu ihnen, als er sie freiließ, Ich schenkte euch das Leben. Geht hinaus auf die Erde und nehmt Rache an Gott für seinen Verrat an euch. Sehet, ich gebe euch Wächter, die euch beschützen vor seinem Zorn. Übt Rache an ihm. Mordet und brandschatzt, auf das seine geliebten Menschen in eurem Gelächter ertrinken.

So wird die Geschichte in der Hölle gelehrt.


Kapitel I


Melody war eine der Ersten gewesen, die an diesem Morgen den Supermarkt gestürmt hatten. Überall quollen die Regale bereits mit Halloweendeko über. Menschen drängelten und schubsten sich gegenseitig, um die besten und gruseligsten Stücke zu erhaschen. Dabei war es gerade erst Anfang Oktober.

Mel hatte sich beeilt die letzten Posten auf ihrer Partyliste einzukaufen und atmete erleichtert auf, als sie in die immer noch frische Morgenluft auf den Parkplatz hinaustrat. Sie hatte Tracey versprochen ihr bei den Vorbereitungen für ihren Geburtstag zu helfen und sie war schon immer jemand gewesen, der die Dinge lieber früher, als später erledigte. Ihr sechzehnter Geburtstag war erst am 31., aber wer weiß, was ihr bis dahin noch alles einfiel.

Nun schlenderte sie summend den Fußweg hinab in Richtung von Traceys Haus. Es war nicht mehr allzu weit und der Tag war klar und kalt, weshalb sie beschloss, das Stück zu laufen. Ihr Weg führte sie durch einen weitläufigen Park und ein kleines Gebiet, in dem nur Bürogebäude standen. Es versprach also ein einsamer Weg zu werden, aber das war ihr ganz recht. Schon seit Tagen war sie innerlich schrecklich unruhig und nervös. Ob es nun an ihrem Geburtstag lag, am bald bevorstehenden Vollmond oder an sonst was, wusste sie nicht. Sie fühlte sich freudig aufgekratzt und war schnell aus der Ruhe zu bringen. Doch konnte sie sich einfach keinen Reim darauf machen.

Der herbstliche Park lag in aller Stille vor ihr. Kleine, herbstlich bunte Baumgruppen wechselten sich mit laubbedeckter Wiese und nackten Blumenbeeten ab. In der vergangenen Nacht hatte es gefroren und überall glitzerte noch der Raureif in der kalten Morgensonne. Außer ihr war weit und breit niemand.

Melody hatte den Park praktisch für sich allein. Sie genoss für eine Weile die sanfte Ruhe und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie blickte den Weg vor sich hinunter, im Kopf schon bei dem bevorstehenden Tag, als plötzlich eine kleine Stoffspinne aus ihrer Einkaufstasche hüpfte und über den gefrorenen Kiesweg rollte.

„Ach, Mist!“, fluchte sie und beugte sich hinunter, um die kleine Spinne aufzuheben. Da trat plötzlich ein Paar schwarzer Turnschuhe in ihr Blickfeld, die Spitzen verkrustet von Salz und Erde.

Eine große Hand mit langen, schlanken Fingern erschien in ihrem Blickfeld und griff nach der Spinne. Melodys Blick folgte der Hand mit der Spinne darin auf ihrem Weg nach oben. Sie sah eine schwarze Jeans an langen, kräftigen Beinen und schmalen Hüften. Die Hand hielt auf Höhe eines AC/DC – Shirts an, dass eine schlanke, aber gut trainierte Brust bedeckte. Die Arme steckten in einem halblangen, gefütterten Ledertrenchcoat. Feines, schwarzes Haar fiel auf die schmalen Schultern. Irgendwie schien es blau zu schimmern, als er den Kopf schieflegte. Melody schluckte, als sie den Blick weiter hob und dem Mann vor sich ins Gesicht sah. Ein Lächeln umspielte volle Lippen und besonders die ausgeprägte Unterlippe hielt ihren Blick fest. Kleine Grübchen zeigten sich auf seinen Wangen. Sogar in seinen Augen erkannte sie dieses Lächeln, sie schienen zu funkeln, aber in einem so eigenartigen, übernatürlichen Blau, dass es ihr den Atem verschlug.

Oh, Herr im Himmel! Dieses Lächeln ...!

Sogar der Himmel verblasste neidisch im Vergleich zu der Farbe seiner Iris. Sie verfolgte jede Bewegung in seinem kantigen, schönen Gesicht. Hohe Wangenknochen. Helle Haut. Nicht die kleinste Unebenheit, abgesehen von diesen süßen Grübchen. Einfach zum Niederknien!

„Ich glaube, du hast da was verloren“, sagte er lächelnd.

Melody fühlte ihr Herz schmelzen, wie Eis in der Sonne. „Äh ...“

Wie war das gleich noch mal? Erst einmal weiteratmen! Dann denken, Worte finden und einen Satz daraus bilden. Langsam. Deutlich. Aber das war gar nicht so einfach beim Klang dieser Stimme. Tief. Maskulin. Aber geschmeidig und sanft, wie warme Sahne.

„D ... Danke“, presste sie heraus und wusste plötzlich nicht mehr, wo sie hinschauen sollte. Sein Blick fesselte sie. Er starrte sie nicht an, ganz im Gegenteil. Er schaute irgendwie müde aus. Aber in seinen Augen lag eine Weisheit, der Melody sich nicht gewachsen fühlte. Ein amüsiertes Schmunzeln verzog seine schönen Lippen. Erst als er das Stofftier an einem Beinchen in die Höhe hielt, bemerkte Melody, dass Sie den Kopf fast in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen. Er war groß. Nahezu riesig. Und Melody war weiß Gott kein Zwerg. Ihre Werwolfgene brachten sie selbst mir ihren kaum sechzehn Jahren schon auf gute eins siebzig. Obendrein trug sie leidenschaftlich gern Absätze.

„Süß“, grinste er und hielt ihr die Spinne hin. „Willst du dein Stofftier gar nicht wieder haben?“

Melody griff rasch nach der Spinne und verstaute sie wieder in der Tasche. Es ärgerte sie ein wenig, dass dieser wahnsinnig gutaussehende Mann mit ihr sprach, wie mit einem kleinen Mädchen.

„Danke“, murmelte sie mürrisch und rückte ihre Tasche zurecht „Fürs Aufheben.“ Dann machte sie einen Schritt an ihm vorbei und ging weiter. Ihr Herz schlug schneller, als sie spürte, wie er ihr nachsah.

Noch während sie an ihm vorüberging, atmete sie tief ein. Sie wollte wissen, wie ein Mann, der so gut aussah, eigentlich roch. Die Erkenntnis hätte sie beinah aus den Latschen kippen lassen.

Flüssige Schokolade. Vanille. Zimt und ein Hauch Patchouli. Süß und erdig. Wild und wundervoll. Sie seufzte leise. So musste die Versuchung riechen!

Sie ließ sich einige Schritte von seinem berauschenden Geruch begleiten, ehe sie sich davon befreite, und versuchte ihn zu ignorieren. Sie hörte seine langsamen Schritte auf dem Weg. Er folgte ihr.

Warum tat er das?

Melody versuchte, sich nicht beunruhigen zu lassen. Wahrscheinlich wollte er bloß in dieselbe Richtung. War ja auch kein Wunder. Da sie ihn vorher vor sich nicht gesehen hatte, musste er ja schließlich aus derselben Richtung gekommen sein, wie sie. Also wollte er wahrscheinlich auch in dieselbe Richtung weitergehen.

Schließlich tauchten gutaussehende Männer nicht einfach aus dem Nichts auf.

„Ist das nicht ein bisschen zu gefährlich für dich hier draußen allein im Park?“, hörte sie seine Stimme hinter sich, freundlich und sanft. Er war immer noch einige Schritte entfernt. Und dennoch richteten sich die Härchen in ihrem Nacken auf. Ein Schauer rann ihren Rücken hinunter.

„Gerade für einen so hübschen, kleinen Dämon, wie dich.“

Melody erstarrte und fuhr herum. Er stand direkt vor ihr. Lächelte sie mit diesem anziehenden, sinnlichen Lächeln an. Und sie hatte ihn nicht einmal herankommen gespürt.

Schnell machte sie einen Schritt rückwärts.

„Bitte? Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen“, erwiderte sie hektisch, etwas zu hektisch für ihren Geschmack. Er lachte leise, was bei seiner Stimme beinah, wie Musik klang. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans und nahm eine lockere, sehr unbedrohliche Haltung ein. Viel zu unbedrohlich, wie Melody fand. Sie machte vorsichtshalber noch einen Schritt zurück. Er seufzte leise und wiegte leicht den Kopf. Sein langes, schimmerndes Haar fiel ihm dabei wie flüssige Seide um die Schultern, bewegte sich, als wäre es lebendig.

 

„Ich erkenne einen Dämon, wenn er vor mir steht. Glaub mir.“

Oh, Melody glaubte ihm aufs Wort. Nichts in seiner Stimme oder seinem Blick ließ auch nur den Hauch einer Lüge erkennen. Geschweige denn irgendwelcher Unsicherheiten.

„Das freut mich für Sie“, sagte Melody steif, „Aber ich werde jetzt gehen.“ Wieder wandte sie ihm den Rücken zu und stapfte durch das Laub weiter den Weg entlang. All ihre Sinne waren angespannt nach hinten gerichtet. Im schlimmsten Falle würde sie die Tasche fallenlassen und davon rennen, so schnell sie konnte.

Aber diesmal hörte sie keine Schritte, die ihr folgten. Erleichtert beschleunigte sie etwas und bog eilig um den Pfeiler, der die Mauer des Parks beendete.

„Du hast doch wohl nicht etwa Angst vor mir, oder?“


Melody konnte das erschreckte Aufkeuchen nicht mehr unterdrücken, als er plötzlich vor ihr unter einer Laterne stand.

„Was zum … ! Wie bist du so schnell hier? Das ist doch …“

Sie starrte ihn an. Das amüsierte Lächeln auf seinen Lippen war ihr wohl Erklärung genug.

„Na schön. Du bist also ebenfalls ein Dämon. Warum, zur Hölle, verfolgst du mich?“

Sie stemmte ihre freie Hand in die Seite und versuchte so bedrohlich wie möglich auszusehen. Bei dem Wort 'Hölle' sah sie es in seinen Augen aufblitzen. Also ein Unterweltdämon. Vielleicht sogar ein Satan? Außer Robins Wächter kannte sie keinen. Und es gab ja einige.

„Ich verfolge dich doch nicht. Wir haben nur zufällig denselben Weg.“

Er stieß sich von der Laterne, an der er gelehnt hatte, ab und ging weiter die Straße entlang. Genau in die Richtung, in die sie wollte. Melody fluchte leise und folgte ihm. Was sollte sie auch anderes machen als wachsam bleiben und ihn im Auge behalten. Für den Notfall kramte sie schon einmal ihr Handy aus der Tasche und behielt es in der Hand. Dabei starrte sie auf seinen Rücken und dachte darüber nach, was für eine Art Dämon er wohl war? Er war weder Vampir noch Werwolf, das hätte sie am Geruch erkannt. Während sie noch darüber nachdachte, merkte sie nicht, dass der Abstand zwischen ihnen immer kleiner wurde.

Erst, als er neben ihr ging und sie anlächelte, mit diesem gut gelaunten, 'Ich weiß, dass ich verboten gut aussehe' – Lächeln, merkte sie, dass er sich hatte zurückfallen lassen. Sie seufzte resigniert. Wahrscheinlich wurde sie ihn nicht mehr los. Gut, dass sie auf solche Fälle vorbereitet worden war. Im Notfall wusste sie sich zu verteidigen.

„Wie heißt du?“, fragte er leise und begann in seiner Manteltasche zu kramen. Melody fürchtete schon das Schlimmste, aber er holte nur eine Schachtel Zigaretten heraus und steckte sich eine an. Als er ihr auch eine anbot, lehnte sie kopfschüttelnd ab.

„Also? Dein Name?“

Seine Stimme war immer noch freundlich, bekam aber einen kaum wahrnehmbaren ungeduldigen Unterton. Instinktiv antwortete sie. Sie war sich sicher, dass es besser wäre, ihn nicht zu verärgern.

„Melody. Melody Bradley.“

Er nickte und zog an seiner Zigarette. Melody fiel auf, dass es diese schwarze Sorte war. Die, die nach Nelken duftete.

„Ich bin Lou“, stellte er sich vor. Melody stutzte. Was für ein seltsamer Name.

„Lou? Wie Ludwig oder Louis, oder was?“, spöttelte sie.

Er grinste breit und kicherte.

„So in etwa.“

Melody sah deutlich, dass sich hinter dieser unscheinbaren Antwort wesentlich mehr verbarg. Lou war eine Kurzform, ein Spitzname. Nicht sein echter Name.

„Und weiter?“, fragte sie, jetzt neugierig geworden.

„Morgenstern.“

Ein eiskalter Schauer rann ihr den Rücken hinab, ließ sie frösteln und setzte sie gleich darauf in Flammen, als er sich zwischen ihren Beinen sammelte. Sie schluckte ein leises Aufkeuchen herunter, das sich plötzlich in ihrer Kehle sammelte.

Lou Morgenstern.

Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört ... Bloß wo? Vielleicht gehörte er zu einem größeren Konzern? Oder war er Schauspieler? Model? Dem Aussehen nach sehr wahrscheinlich Letzteres ... Aber dann für ein Gothic- oder Fetishmagazin. Ohne, dass sie es wirklich wollte, drängte sich ihr ein Bild von Lou in Lack und Leder auf, halb nackt, wie er sich zwischen Stahlstangen rekelte. Ein wenig schockiert über sich selbst, verdrängte Melody das Bild schnell wieder. Ihr war ohnehin schon viel zu warm in seiner Gegenwart.

Gemeinsam bogen sie in die Straße ein, an deren Ende Traceys Haus lag. Schon von Weitem sah sie Robins Wagen quer in der Einfahrt parken. Die Vampirin schien es mal wieder überaus eilig gehabt zu haben. Mel schmunzelte. Vielleicht war Tony bei ihr. Dann hatte sie es immer eilig.

Gute hundert Meter vor ihrem Ziel blieb Lou plötzlich stehen. Melody, die sich in der Zwischenzeit schon richtig an seine Gesellschaft gewöhnt hatte, bleib ebenfalls stehen. Sie sah ihn fragend an, als er sie entschuldigend anlächelte.

„Verzeih“, sagte er und sie stolperte regelrecht über dieses veraltete Wort. „Weiter kann ich dich nicht begleiten, aber ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen.“

Melody runzelte die Stirn. Sie glaubte ihm aufs Wort. Klar, wahrscheinlich würde er sie weiter verfolgen oder beobachten, weil er ein merkwürdiger, kranker Stalker oder Psychopath war. Das würde sie ihm sofort abkaufen! Also lieber nicht verärgern. Sie hob in einer möglichst unverbindlichen Geste die Schultern.

„Wie du meinst. Bis dann.“

Sie drehte sich um und ging los. Sie fröstelte, als die Wärme, die sie in seiner Nähe empfunden hatte, plötzlich verschwand.

„Grüß doch bitte deine Mutter von mir, wenn du sie gleich triffst.“

Seine Stimme verhallte in der frischen Luft des angebrochenen Tages. Als sie sich umdrehte, war die Straße hinter ihr leer und auch in die andere Richtung sah sie ihn nicht mehr. Seltsam, dachte sie noch, während sie weiterging. Warum sollte Emilia hier sein? Sie hasste Traceys Labor ...


*


Alles schien gut, denn wie jeden Freitag erschien sie pünktlich zum Unterricht. Ein eigentümlicher Stolz erfüllte mein Herz, als ich Melody beobachtete, wie sie Traceys Haus betrat.

Sie war so ein fleißiges und kluges Kind. Wie gern hätte ich sie Tag für Tag dafür umarmt und ihr gesagt, wie sehr ich sie liebte. Meine Tochter. Aber das war nicht möglich. Niemals.

Nicht, wenn ich wollte, dass sie am Leben blieb. Ihre Existenz durfte nicht bekannt werden. Außer den Wenigen, die von ihr wussten und denen ich vertraute, durfte kein Lebewesen je von ihr erfahren. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten und mein Kind vor meinem eigenen Wächter zu bewahren, hatte ich sie vor nunmehr sechzehn Jahren weggegeben. Aufgewachsen war sie bei einem Werwolfpaar, das keine eigenen Kinder bekommen konnte, und irgendwann mal in Traceys Kartei aufgetaucht war. Die Bradleys waren zuverlässige Leute. Sie sorgten gut für Melody. Seit dem Tag ihrer Geburt war ich aus ihrem Leben verschwunden. Melody wusste nicht, dass es mich gab. Und wenn es nach mir ginge, würde sie es niemals erfahren. Ihre Sicherheit, ihr Leben, war meine größte Sorge.


Von meinem Beobachtungsposten, dem Hausdach auf der anderen Straßenseite, hatte ich Traceys Haus perfekt im Blick. Die Menschenfrau war meine einzige Verbindung zu meiner Tochter. Hätte Tracey bei der Adoption nicht darauf bestanden, dass das Mädchen in ihr Programm käme, würde ich gar nichts mehr von ihr hören. Oder mir meine Informationen auf illegalem Wege beschaffen müssen.

Ihre erste Wandlung stand kurz bevor. Mein Kind erreichte langsam das richtige Alter. In den nächsten Monaten würde sich zeigen, ob meine Lüge für sie bestehen bliebe, oder die Warggene ihres Vaters die Oberhand gewinnen würden. Nie verschwendete ich auch nur einen Gedanken daran, dass Claude ihr Erzeuger sein könnte.

Sollte sie sich nicht von allein verwandeln, so würde ich Melody gegenübertreten und ihr alles erklären müssen. Dann müsste ich ihr diese ganze, große Lüge offenbaren und alles würde auffliegen …

Mit jedem Tag, der verging und sie sich nicht wandelte, schien der Wahnsinn in meinem Herzen weiter zu wachsen. Hunger quälte mich öfter als normal. Öfter als gut war. Meine Wandlungen waren länger und schmerzhafter. Ich war leicht reizbar und sehr schnell aus der Ruhe zu bringen. Dauernd aufmerksam, ob sich nicht schwarze Rabenflügel am Himmel zeigten. Auch, wenn wenigstens das schlicht unmöglich war. Denn Claude war sicher verwahrt ...

Nachdem Melody das Haus betreten hatte und ich sie sicher wusste, verließ ich meinen Posten und schlug nun meinerseits den Heimweg ein.


*


Er sah ihr noch nach, bis sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte. Dass auch ihre Mutter sie beobachtete, war ihm durchaus bewusst. Ihre Präsenz vibrierte in ihm, wie das Echo einer großen Glocke. Aber er machte sich keine Sorgen darum, dass er bemerkt werden könnte.

Gerade war Melody die Einzige, die ihn sehen konnte. Allein für sie war er hier. Oder genau genommen sein Geist, den er nur für Melody auf die Erde sandte. In einer Gestalt, die er extra für seine Nachfolgerin ausgewählt hatte. Sexy und ein bisschen gefährlich und so, wie es aussah, hatte er genau richtig entschieden. Sie hatte angebissen.

Nun musste er sich ihr nur noch vertraut machen. Sie musste ihm ihr Vertrauen schenken. Nur so konnte sein Plan gelingen. Luzifer holte tief Atem, sog die kühle Luft in seine Lungen und ließ sie mit einem Seufzer wieder aus.

Wie sehr sehnte er sich diesen Tag herbei. So lange wartete er nun schon darauf, plante und erdachte, und nun war es fast soweit. Alles fügte sich genau so, wie er es wollte. Ende des Monats würde Melodys Welt in Schutt und Asche vor ihr liegen und er, Luzifer, wäre derjenige, der ihr Zuflucht böte. Bis dahin würde er sie, sooft er konnte, besuchen und bereits mit ihrer Ausbildung beginnen. Je früher sie lernte eine Herrscherin zu sein, desto besser. Die Hölle war schließlich kein Kindergarten. Auch, wenn sich so manch ein Satan gern mal so benahm. Wieder entrann ihm ein Seufzer, diesmal voller Zufriedenheit, als er sich langsam auflöste, die Morgendämmerung verließ und zurück in seinen Körper kehrte.


*


Der Geruch würde ihm noch tagelang nachhängen. Tief in seine Haut zog er, der Duft von Lust und Fleisch, Frau und Blut, Sünde und Verderbnis.

Ira saß in einem der roten Samtsessel des Wolllust. Nur ein Wochenendausflug von London nach Berlin. Zwar gab es in der alten Stadt auch Clubs wie diese, aber das Wolllust mochte er irgendwie. Er war allein hergekommen, denn für das, was er vorhatte, brauchte er die Gesellschaft seiner Brüder sicher nicht. In den letzten Jahren war er oft allein unterwegs. Wochenlang. Monatelang … Sein Kopf lag auf der niedrigen Lehne, tief hineingesunken in die Polster war sein Körper. Niedergedrückt von der zarten Last auf seinem Schoß.

Sein wolfsfellgraues Haar bildete einen harten Kontrast zu dem roten Samt. Auch, wenn nur noch wenige Strähnen auf ihn fielen. Er hielt es kurz seit einigen Jahren. Zu sehr erinnerte ihn die raue Länge daran, wie sie stets mit ihren Fingern hindurchgefahren war.

Die Frau, die sich so lasziv auf seinem Schoß räkelte, die er dafür bezahlte, dass sie genau das tat, stöhnte leise auf. Ihre lackierten Fingernägel, die exakt die Farbe ihrer Highheels hatten, krallten sich in seine Schultern. Die Spitzen ihres blonden Bobs fielen ihr ins Gesicht, als sie sich vorbeugte, um seinen Hals zu küssen.

Ihre Hüften bewegten sich in einem routinierten, kreisenden Rhythmus. Langsam und fordernd zugleich. Ausgerichtet darauf ihm die größtmögliche Freude zu bereiten. Und dennoch war sein Innerstes kalt.

Kein Feuer. Keine Leidenschaft. Kein Begehren.

Er verspürte nicht einmal besonders große Lust, aber dieser Abend war notwendig, denn der Hunger nagte an ihm. Seit er sie verloren hatte, waren Menschenfrauen alles, von dem er im Stande war, sich zu ernähren. Allerdings reichte das sterbliche, schwache Blut gerade einmal eine Woche, wenn er Glück hatte. Wie dankbar war er da für Etablissements, wie das Wolllust.

 

Der Schrei der Hure lockte einige neugierige Blicke zu ihnen herüber. Das kleine Separee, welches er für sich beansprucht hatte, war zwar von zarten Vorhängen verdeckt, ließ aber dann und wann doch einmal einen Blick hindurch. Ihn störte das nicht und die Frau offenbar auch nicht. Immer wilder und hemmungsloser ritt sie ihn, befriedigte sich schier an ihm, der er nur da saß und seinen unseligen Hunger schürte. Mit den Gedanken war er bei einer anderen. Der einzigen Frau, die er je wieder begehren würde. Wieso nur hatte er sie fortgeschickt?

Er hätte sie einsperren sollen. Oder zu einer der Seinen machen.

Aber diese Schmach, die sie ihm bereitet hatte, konnte er nicht dulden! Niemand hinterging ihn auf so schändliche Weise! Sosehr er sie auch lieben mochte, er würde sich nicht das Kind ihres Wächters unterjubeln lassen! Wütend packte er den Nacken der Hure, die gerade ihren wer-weiß-wievielten Orgasmus erlebte, und versenkte seine Zähne in ihrer Halsschlagader. Wieder schrie sie und ein neuer Schauer ließ ihren Körper erbeben. Im Anschluss hieran hätte sie jedenfalls keinen Grund sich zu beschweren … Wie stets, wenn er sich eine der Frauen nahm, die hier arbeiteten, schloss er die Augen. Mit einer Hand in ihrem Nacken und der anderen an ihrer Hüfte zwang er sie zu noch wilderen, schnelleren Bewegungen.

Nur mit all seiner Willenskraft gelang es ihm, sich vorzustellen, dass das matte Blut, welches seinen Rachen hinunter rann, einen anderen Geschmack hatte. Süßer. Herber. Unsterblicher …

Hinter seinen geschlossenen Lidern verwandelte sich der blonde Schopf der Frau in lange, nachtschwarze Wogen. Wurde der dünne Körper zu üppigen, wohlgeformten Rundungen. Er erinnerte sich an ihren Geschmack … Dieser wilde, ungebändigte, die Sinne betäubende Nachtjasmin, der tief in sein Innerstes drang und sich dort festsetzte. Ewig, wie es schien.

Solange verbrachte er die Nächte nun schon ohne sie und dennoch war sie alles, was seine Gedanken beherrschte. Das Erbeben seines Körpers beendete jäh seine Gedanken. Die Zähne noch tief im Hals der Frau vergraben, stöhnte er auf. Kaum hatte er jedoch seinen Hunger und die übrigen Bedürfnisse seines Körpers gestillt, ließ er die Hure los und stieß sie von seinem Schoß.

Mit einem verwirrten Aufschrei landete ihr bloßer Hintern auf dem schmutzigen Boden. Das Unverständnis in ihren Augen, und vor allem diese bedingungslose Hörigkeit, machten ihn wahnsinnig! „Scher dich weg!“, zischte er und die Augen der Frau wurden noch größer. Der scharfe Geruch von Angst erfüllte die Luft, als sie sich herumwarf und eiligst das Weite suchte.

Ira schnaubte abfällig, während er seine Hose zuknöpfte. Das Gefühl gesättigt zu sein konnte er nicht genießen. Es war kaum von langer Dauer. Sein Hunger verlangte etwas anderes, doch das war schlicht unerreichbar.


*


Oh, verdammt!

In meinem Kopf drehte sich alles. Die Welt um mich herum war undeutlich und verschwommen, als ich die Augen aufschlug. Mein Schädel dröhnte und mein ganzer Körper zitterte vor Schmerz. Als ich mich bewegte, schrie mein Magen in einem protestierenden Gebrüll auf.

Keuchend vor Übelkeit sackte ich zurück. Wo auch immer ich hier war ...

Ich roch nassen Asphalt. Regen und Dreck. Und Blut, aber das war wohl größtenteils mein eigenes. Scheiße, wie war ich denn hier hergekommen? Und was war passiert? Ganz langsam versuchte ich ein erneutes Aufstehen. Und siehe da, mein Körper rappelte sich stöhnend und keuchend auf. Blut tropfte auf den Boden. Meine Hand tastete hinter mich und fand eine Hauswand, an der ich mich abstützen konnte. Dann erst sah ich mich um. Es war dunkel um mich. Eine unbeleuchtete Seitengasse, wie es aussah. Mülltonnen und Unrat. Es wurde gerade wieder Morgen. Am fernen Horizont, den ich nur zwischen den Hausdächern hindurch erkennen konnte, zeichnete sich sanfte Farbe ab. Langsam ließ ich mich an die Wand hinter mir sinken. Ein Grinsen lag auf meinen Lippen.

Verdammt, mir tat wirklich jeder Knochen im Leib weh. Ich glaubte auch, dass einer meiner Knöchel gebrochen war. Schade, dass die Verletzungen nie von Dauer waren. Ein paar Stunden und der Bruch wäre Geschichte. Ebenso, wie die Muskelschmerzen und die äußeren Verletzungen. Trotz der permanenten Unterernährung heilte mein Körper immer noch ziemlich schnell. Viel zu schnell. Meine Fäuste droschen gegen den Backstein. Der Schmerz schoss in heißen, roten Fäden durch mich hindurch. Ich biss mir auf die Lippen, bis sie bluteten, damit ich nicht schrie. Der Schmerz tat gut. Ich wollte ihn. Genauso, wie die Prügelei, die ich letzte Nacht angezettelt hatte und wegen der ich jetzt in dieser Seitengasse aufgewacht war. Ich brauchte diese Gewalt und die Schmerzen, damit ich mich überhaupt noch spürte … Und es lenkte ihn von meiner Tochter ab. Empfand ich körperlichen Schmerz, spürte ihn auch mein Wächter. Und ich wollte, dass dieser Schmerz alles war, was er spürte.

Aber nun sollte ich langsam nach Hause, bevor mich noch jemand fand. Nachsehen, ob Er noch da war.

Vorsichtig stieß ich mich von der Wand ab und wankte aus der Seitenstrasse. Die Hauptstraße, auf die ich kam, erkannte ich wieder. Mal sehen, wo ich mein Motorrad geparkt hatte …


*


Nicolai fuhr mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Das tat er immer, wenn er zu Cassie wollte. Cassandra Emerald. Seine Freundin. Ein Mensch.

Seufzend lehnte er den Kopf gegen die Scheibe. Wie gern würde er sie zu sich nach Craven holen. Jedes Mal, wenn er zu ihr fuhr, drehten sich seine Gedanken um dieses Thema. Sooft in den zehn Jahren ihrer Beziehung hatte er Mark auf Knien angefleht und doch nur immer die gleiche Antwort bekommen: Nein.

Es tat weh, aber Nick wusste, dass Mark recht hatte. Ein Rudel war kein Ort für eine Menschenfrau. Die Sitten waren hart, gerade für ihn als niedrigster in der Rangfolge. Eine Prügelei, bei der sie zwischen die Fronten geriet, und sie würde es wohl nicht überleben. Das Risiko war einfach zu hoch. Ihr Leben zu kostbar. Doch Cassie wusste, was er war, was die anderen in Craven waren und was ihr blühte, wenn sie dieses Geheimnis je verriet.

Das war wohl das schwierigste Jahr ihrer Beziehung gewesen. Nachdem Nick ihr gesagt hatte, dass er ein Werwolf ist. Natürlich wollte sie ihm partout nicht glauben. Welcher normal aufgewachsene Mensch würde das auch schon?

Er hatte es ihr beweisen müssen. Indem er eine Vollmondnacht in der Stadt verbrachte. Als sie das Unglaubliche dann in vollendeter, schwarzer Gestalt vor sich sah, war sie nicht schreiend davongerannt. Sie hatte nicht den Verstand verloren und auch nicht die Polizei gerufen.

Nein, Cassie, seine wundervolle, atemberaubende Cassie, war, wenn auch mit rasendem Herzen und Angstschweiß auf der Stirn auf ihn zu getreten und hatte ihre warme Hand auf seinen Kopf gelegt. „Ich erkenne dich. Das bist immer noch du, Nick.“

Ihre Worte widerhallten in seinen Ohren, wenn er daran zurückdachte. In diesem Moment war sein Herz ein für alle Mal an sie verloren. Nie wieder würde er ein anderes Wesen so lieben, wie diese Frau. Das schrille Klingeln kündigte die nächste Haltestelle an und Nick stieg aus. Cassie war Lehrerin an einer Grundschule in direkter Nähe vom Finsbury Park. Sie bewohnte dort mit einer Kollegin und Freundin ein kleines Reihenhäuschen. Vorgarten, Zaun, Terrasse. Alles, was dazugehörte. Sie führte ein solides, ehrliches Leben und nicht selten kam sich Nick vor wie ihr dunkles, kleines Geheimnis, der Schmutzfleck auf ihrer weißen Weste. Mürrisch stopfte er die Hände in die Taschen und lief den Weg entlang. In seinen Adern kochte bereits die wilde Vorfreude. Nur mit Mühe und Not hatte er sich von Mark die Erlaubnis erkauft, diesen letzten Tag vor Vollmond hierher zu dürfen. Viel Zeit blieb ihm auch nicht mehr, bis die Sonne unterging und seinen Körper zwang, sich zu verändern.

Hätte Cassie am Telefon heute früh nicht so aufgewühlt geklungen, wäre er wohl auch nicht hergekommen. Aber sie bat ihn darum, also war er gekommen. Ein düsterer Teil von ihm knurrte, dass es hoffentlich etwas Wichtiges und er den Weg nicht umsonst gekommen war. Er klopfte an ihrer Tür und trat einen Schritt zurück. Wenn Lydia, ihre Mitbewohnerin aufmachte, wollte er nicht wie ein bedrohlicher Schatten im Türrahmen lauern. Die Tür ging auf und Cassie erwartete ihn.

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