ANGEL

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ANGEL Wolfsmensch

Liesa-Maria Nagel

ANGEL

Band 1

ANGEL

Wolfsmensch

Liesa-Maria Nagel



Impressum

Texte: © Copyright by Liesa-Maria Nagel

Umschlag: © Copyright by JoHoelken

Coverfotos: © ChriSesm, Thothema (photocase.de)

Verlag: Eigenverlag

Liesa Nagel

45147 Essen

kontakt@liesanagel.de

Druck: epubli ein Service der

neopubli GmbH, Berlin


ISBN 978-3-7418-7609-7


Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Mama & Jo.

Ohne euch hätte dieses Buch nie das Licht der Welt erblickt!

Und natürlich für Dich, mein liebster Leser.

Danke!

Prolog


Es war einst, zu Anbeginn der Zeiten, ein ruhiger Morgen. Kein Vogel sang in den grünen Kronen der Bäume. Kein Wind regte sich im weiten Gras.

Kain, der erste Sohn Adams, und sein Bruder Abel waren auf das Feld hinaus gegangen und im Angesicht der glutroten Morgensonne und der allgegenwärtigen Mutter Erde begab es sich das Kain sich wider seinem Bruder Abel erhob und ihn erschlug. Der Herr sprach sodann zu Kain: Wo ist dein Bruder? Kain verleugnete seine Sünde und so sprach der Herr: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun, verflucht seiest du auf der Erde, die ihr Maul aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Doch Kain sprach: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich hinfort von meinem Acker und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. Der Herr aber sprach: Wer Kain totschlägt, soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen auf Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. (1. Buch Mose 3.4.)

Nachdem nun Kain hinfort gegangen und die Erde still und verlassen war von dem Angesicht Gottes, kam ein dunkler Schatten an den Ort, an dem Abels Leichnam lag. Kehre zurück zu mir, so sprach der Schatten, Mein erster Sohn, Abel. Komm zurück ins Leben, auf das du an meiner Seite Gottes Gnade erfahren wirst. Eine Träne von Blut fiel nieder auf den toten Abel und es wart, dass das Leben in seinen Leib zurückfuhr. Den schwarzen Schatten vor sich, gewahrte Abel ein Mal auf seiner Brust. Du bist nun mein Sohn, Abel, Bruder des Kain. Nicht länger magst du Adams Sohn sein, sondern von meinem Blute. Siehe mich, den Engel, als deinen Erzeuger, Retter und Schöpfer. Nicht länger Adam. Nicht länger Gott. Nur mich – den ersten Sohn Gottes.

Kain, alsdann ein stetiger Wanderer kehrte ein an einen Ort im Lande Nod, an dem ihn ein Fremder erwartete. Ein Mann von seltsam blasser Haut und pechschwarzem Haar. Siehe mich, Kain, sprach der Fremde. Trinke mein Blut aus meinen Adern, sowie ich das Deine trinken werde und du wirst niemals wieder der Gnade Gottes anheimfallen. Kain trank das Blut Gabriels und der das des Kain. Siehe mich, Kain, so sprach Gabriel wieder, nun bin ich dein Erzeuger. Nicht länger Adam sei es. Nur ich, Gabriel, der zweite Sohn Gottes. Das Mal auf deiner Brust wirst du ewig tragen, als Zeichen deines Bündnisses mit meinem Blute. Nicht länger sollst du Gott gefällig sein. Nur mir, deinem Schöpfer. Kain, mein Sohn, nur mir sollst du gehorchen.

Und weil die Menschen in Sodom und Gomorrha keine Einsicht kannten, schickte Gott seine beiden ersten Söhne in Gestalt zweier Engel zur Erde hernieder. Nur Lot und den Seinen gewährte er das Leben und schickte sie hinfort nach Zoar. Als Lot am Morgen des nächsten Tages Zuflucht in Zoar fand, ließ der Herr Schwefel und Feuer vom Himmel herab regnen und vernichtete Sodom und Gomorrha und die ganze Gegend und alle Einwohner und was auf dem Lande gewachsen war. Lots Weib gehorchte nun aber nicht dem Geheiß des Herrn und wandte sich um. Sie erblickte die beiden Engel, die gekommen waren, um sie zu retten. Sie sah die beiden Lichtwesen über den Dächern ihrer Stadt schweben, und wie sie mit dem Feuer nach den Menschen warfen, Schwefel spien, und in hallendem Gelächter badeten. Da wart sie zur Salzsäule, so schrecklich war der Anblick. ( 1. Buch Mose 19.24 )

Nachdem Gott entschieden hatte, dass seine Kinder ihrer Aufgabe gerecht geworden waren, sprach er zu ihnen: Meine Kinder, ihr habt meiner Aufgabe genüge getan. Ich werde eure Körper in den Turm der Magier, hoch oben in meinem Atziluth, dem Hohen Himmel, verbergen und eure Seele dem Schicksal überlassen. Damit aber wollten sich die Kinder Gottes nicht abfinden und so begehrten sie auf wider ihrem Vater und wandten sich ab von seinem Angesicht. Der Dunkelheit und dem gefallenen Engel Luzifel verschrieben sie ihre Seelen. Doch Gott, der die Macht seiner eigenen Kinder fürchtete, sperrte sie ein in den Turm der Magier, der umgeben von weißer Magie hoch oben im Himmel stand. Um ihre schwarzen Seelen zu bewachen, schickte er ihnen zwei mächtige Magier. So wird es im Himmel gelehrt.


*


In der Nacht, in der er kam, lag der Mond im Schatten.

Die Welt war finster und so schwarz, wie seine Gedanken. Der Mann, der aus dem nahen Wald auf den Weg hinaustrat, trug ein regloses, weißes Bündel in den Armen. Langes, schwarzes Haar stahl sich daraus hervor und wehte leicht im kalten Nachtwind.

Bewusst hatte er die Schwärzeste aller Nächte gewählt, um diesen grausamen Weg zu gehen. Aus dem Nichts tauchte er auf und mit jedem Schritt, den er seinem Ziel näherkam, wurde sein Herz schwerer.

Er musste sie gehen lassen, allein und ohne seinen Schutz.

Es brach ihm schier das Herz. Jahrhundert über Jahrhundert hatte er sie beschützt und über sie gewacht, war an ihrer Seite geblieben. Doch damit war es nun vorbei.

Claude war sehr froh darüber, allein mit ihr zu sein. So sah wenigstens niemand die Tränen. Seit Ewigkeiten hatte er nicht geweint. Solange, dass er sicher war, es verlernt zu haben. Aber wie es schien, war das eine Sache der Unmöglichkeit.

Diese Frau in seinem Arm, schlafend und dem Tode näher als dem Leben, vollbrachte dieses Wunder. Sie war die Einzige, die sein Herz rührte. Sein Schützling. Seine Aufgabe. Seine Nemesis.

Man hatte ihn an sie gebunden. Mit Herz und Haut. Alles, was sie fühlte, fühlte auch er. Sie fror entsetzlich, alles schmerzte. Sogar das Atmen tat ihr weh. Obwohl sie schlief, spürte sie den Schmerz und so auch er.

In seinem Inneren krampfte sich alles zu einem harten, eiskalten Klumpen zusammen, als er ihr Gesicht betrachtete. Es würde das letzte Mal sein. Wenn nicht für immer, dann für eine sehr, sehr lange Zeit. Er konnte nicht mehr bei ihr bleiben. Zu gefährlich war die Welt geworden. Man jagte jene, die so waren, wie sie. Ganz besonders sie und ihre Schwester, seit man herausgefunden hatte, wo die beiden lebten. Die ungleichen Geschwister waren einzigartig. Nichts konnte man mit ihrer Macht vergleichen.

Doch dank seinem Einsatz würde sich keine von beiden daran erinnern, woher sie kamen oder wer sie wirklich waren. Dafür hatte Claude gesorgt.

Endlich erreichte er das alte Herrenhaus, den sichersten Ort der Welt. Seit er den Ring aus kleinen Salzkristallen überwunden hatte, fühlte er sich behütet.

Hier würde es ihr gut gehen.

Bestimmt.

Wie ein Mantra betete Claude die Worte herunter. Wieder und wieder. In der verzweifelten Hoffnung, er könnte sie endlich glauben.

Mark erwartete ihn bereits auf der Schwelle und hieß die beiden mit ernster Miene in seinem Haus willkommen. Der ältere Mann mit den graugrünen Augen wusste genau, warum Claude hier war und warum er diese Frau mitgebracht hatte. Lange hatte sein Freund überlegt, ob diese Entscheidung die Richtige sei. Ob Mark derjenige sei, der sie an seiner statt beschützen konnte. Doch schließlich hatte Claude begriffen, dass dieser Mann Angels einzige Chance auf ein glückliches, normales Leben war. Mark und ihn verband eine uralte Pflicht. Einst hatte Claude ihm einen Gefallen erwiesen, der mit dem Leben des Mannes aufzuwiegen war. Über Jahre hatte er ihn sich aufgehoben. Bis heute.

Mark würde ihr helfen. Sein Ehrgefühl würde ihn dazu zwingen. Claude konnte ihr nicht mehr beistehen. Die Bürde, die sie trug, war auch ohne ihn schon schwer genug. Ein Werwolf mit ihren Kräften zu sein, war gewiss nicht leicht.

 

„Gibt gut auf sie Acht“, sagte der Wächter zu seinem Freund. „Ich kann sie nicht beschützen, sie ist nicht mehr sicher bei mir. Sag ihr niemals, woher sie kommt. Sie wird sich ohnehin nicht erinnern können. Weder an mich, noch an unsere Zeit oder ihre Entstehung. Du bist der Einzige, dem ich diese Aufgabe anvertrauen kann. Hüte sie gut.“

Der bloße Gedanke daran, sie zu verlassen, brachte ihn schier um. Das Atmen fiel ihm schwerer, als Mark langsam nickte und die bewusstlose Frau aus seinen Armen barg.

So schnell er konnte, wandte sich Claude ab und ging davon. Es kostete ihn alle Mühe, nicht zu rennen. Tausendmal glaubte Claude, den Verstand zu verlieren. Aber er konnte nicht. Er durfte nicht!

Alles, was ihm geblieben war, war sie aus der Ferne zu beobachten. Nur, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, durfte er eingreifen. Es war einfach zu riskant. Fluch hin oder her. Er durfte sie nicht lieben. Er durfte sie nicht begehren. So vieles durfte er nicht ...

Alles, was ihm geblieben war, war sie aus der Ferne zu beobachten und ihr alles Glück der Welt zu wünschen.


Kapitel I


Ich war atemlos, blind und taub. Meine Füße schmerzten. Wie weit war ich wohl schon gegangen?

Irgendwann, vor Tagen oder Wochen, bin ich aufgewacht. An einem schroffen, felsigen Ufer. Meeresrauschen. Kälte. Schnee war auf mich gefallen und hatte alles in einen weißen Mantel gehüllt.

Ohne zu wissen wohin, bin ich gelaufen, immer und immer weiter, bis ich nicht mehr konnte. Ich wusste nicht, wer ich war, woher ich kam. Alles war wie im Nebel, meine ganze Erinnerung. Nichts war geblieben. Nur ein Name.

Ich war gelaufen - ewig, wie es mir schien. Ohne zu schlafen oder zu essen. Einfach geradeaus.

Nun lag ich am Boden, irgendwo. Meine Kraft war aufgebraucht. Ich war müde. Erschöpft. Ausgelaugt. Und ich fühlte mich so merkwürdig. Als ob etwas in mir fehlen würde, mir aber nicht klar war, was. Vorher war etwas da gewesen, dort in meinem Herzen, doch jetzt war es fort. Jemand … Jemand, der mir entsetzlich viel bedeutete. Er hatte mich verlassen! Nun war ich allein, verlassen und allein. Ich erinnerte mich nicht, wer er war. Mir schnürte sich die Brust zu vor Schmerz und ein Schatten bemächtigte sich meines Herzens. Ich war allein, ganz allein mit diesem Schatten, diesem grausamen Schatten, der auch ich war. Mein anderes Ich. Diese große, schwarze, machtvolle Kreatur. Dieses Wesen aus Finsternis ... Finsternis ...


*


Alles, was ich spürte, war Schmerz. Tief im Innern meines Körpers und außen auf meiner Haut. Schlagartig katapultierte mich mein Bewusstsein in die wache Welt zurück. Ich keuchte.

Was war das hier um mich herum? Es war so weich und warm. Leises Knistern und Knacken. Der Geruch von verbranntem Holz und Asche. Doch da war noch mehr. Körperliche, lebendige Wärme. Der sachte Rhythmus eines schlagenden Herzens. Ein Lebewesen, aber kein Mensch.

Was war mit mir geschehen? Wieso war ich hier? Wo war ich? In meinem Kopf drehte sich alles wie in einem Karussell. Die Fragen überschlugen sich. Der Schmerz, der das Auf und Ab begleitete, raubte mir fast den Atem. Ich krallte die Finger in mein Haar und zog daran, würgte an dem schrecklichen Schmerz, der meinen Kopf in zwei Teile zu spalten schien. Doch auch, wenn ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, eine Erkenntnis schaffte es, sich bis in mein Bewusstsein durchzukämpfen:

Ich wusste nicht, was geschehen war. Wenn ich versuchte, mich zu erinnern fand ich nur Schwärze.

Da war nichts!

Ruhe kehrte ein in meinem Kopf. Jeder Gedanke, jeder Schmerz wurde von einer plötzlichen, eiskalten Panikwelle erfasst und weggerissen. Mein Atem überschlug sich. Meine Augen, obwohl sie weit aufgerissen waren, nahmen nichts mehr wahr.

Ein Schrei gellte durch den Raum, ich hörte das Echo der Wände. Es dauerte nur einen einzelnen Herzschlag und ich hörte schnelle Schritte, eine Tür. Jemand fiel neben meinem Bett auf die Knie. Seine Knochen polterten auf dem Boden, der offenbar aus Holz war. Ich versuchte mich wieder gerade aufzusetzen und spürte starke Hände an meinem Rücken, die mir halfen. Mit aller Kraft versuchte ich, sie wegzuschlagen. Ich wollte nicht, dass jemand mich berührte. Doch die Hände gaben nicht auf und mit einem verärgerten Knurren half man mir hoch.

„Angel! Bitte komm zu dir! Du hast schon wieder geträumt!“

Ich verstand die Worte nicht. Nur Augenblicke später hörte ich noch mehr eilige Schritte und spürte dann die Wärme mehrerer Körper. Das schnelle Schlagen ihrer Herzen, die eilig Blut durch Adern pumpten und die persönlichen Gerüche eines jeden von ihnen, die sich in dem Raum miteinander mischten. Erstickend und viel zu viel für mein gemartertes Hirn. Ein innerer Instinkt sagte mir mit Sicherheit, sie waren keine Menschen und der Gedanke ließ mich innehalten.

Keine Menschen.

Artgenossen.

Mich darauf zu konzentrieren fiel mir nicht leicht, aber dann erkannte ich es doch. Ein einzelner, besonderer Geruch stieg mir in die Nase.

Werwolf

Der Geruch war es, der mich auf den Boden der Tatsachen zurückschleuderte. Atemlos blinzelte ich, bis ich wieder klar sehen konnte.

Ich war hier zu Hause!

Ich wandte den Blick und fand, wen ich erwartet hatte. Neben mir hockte Seth, seine Finger mit meinen verflochten. Seine sanften braunen Augen mit den goldenen Sprenkeln blickten voller Sorge zu mir auf. Das rotbraune Haar war zerzaust, als sei er gerade erst aus dem Bett gesprungen. Dass er lediglich eine Boxershorts trug, unterstützte diese Vermutung.

„Schon gut“, keuchte ich und rieb mir mit der freien Hand über die Augen. „Ich … Ich bin wieder da.“

Ein erleichtertes Aufatmen ging durch den Raum. „Gott sei Dank“, seufzte jemand und es klang nach einem sehr müden Victor. Ich hob den Kopf und entschuldigte mich bei ihnen allen. Das ganze Rudel stand in meinem Zimmer.

Mal wieder …

Victor und sein Sohn Nicolai standen schlaftrunken in der Tür, durch die das blasse Licht des späten Nachmittags schien. Hinter den beiden Spaniern erkannte ich Lukas. Sein blonder Haarschopf schaute gerade noch so über Nicks Schultern.

Seth setzte sich zu mir aufs Bett, aber es war nicht er, den ich jetzt ansah, den ich nun stumm um Verzeihung bat. Mein Blick galt Mark, der mich düster musterte. Er sah als Einziger nicht so aus, als käme er gerade aus dem Bett. Vollständig bekleidet und mit ordentlich zusammengebundenem Haar stand er da. Wahrscheinlich hatte er gar nicht geschlafen.

„Wieder dieser Traum?“, fragte er. Ich nickte schwach, woraufhin er nur ein wütendes Schnauben ausstieß.

Immer wenn ich diesen Traum hatte, weckte es seinen Zorn. Er mochte nicht, dass ich unter meinem Gedächtnisverlust so litt. Immerhin war ich schon fast einen Monat hier.

„Wir müssen endlich einen Weg finden, damit diese Träume aufhören!“, rief Seth an meiner Seite und blickte anklagend zu Mark auf. „So kann das nicht weitergehen! Sieh dir an, wie fertig sie ist!“

Mark bedachte ihn mit einem warnenden Blick. „Ich habe Angel bereits nach dem zweiten Mal angeboten, ihr Schlaftabletten zu geben, bis uns etwas Besseres eingefallen ist, aber das will sie nicht.“

Seit ich hier war, hatte es Seth sich zur Aufgabe gemacht, auf mich aufzupassen. Auch gegen den ausdrücklichen Willen seines Alphas. Mark gefiel es nicht sonderlich, dass er eine so enge Verbindung zu mir aufgebaut hatte. Aber nicht einmal das konnte Seth noch davon abhalten.

Mit einer herrischen Geste unterband Mark jedes weitere Wort, ehe Seth erneut auffahren konnte. „Geht wieder schlafen. Du auch, Seth! Lass mich einen Moment mit Angel allein.“

Nur widerwillig erhob sich Seth und verließ zusammen mit den anderen mein Zimmer. Erst, als wir allein waren, setzte sich Mark an meine Seite. Er sah mir fest in die Augen und ich konnte nicht umhin seinen Blick zu erwidern. Je ernster er wurde, desto dunkler wurde das Graugrün seiner Iris. Im schwachen Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge sickerte, wirkte sein Haar viel dunkler, als es wirklich war. Das matte, von zahlreichem Grau durchzogene Schwarz schien jetzt viel reiner.

„Angel, du bist jetzt schon eine ganze Weile hier. Langsam musst du wirklich versuchen, diese Dinge hinter dir zu lassen. Es sieht nicht so aus, als wenn wir je deine Vergangenheit wiederfinden. Alle Suchen blieben bisher ohne Ergebnis. Aber du bist hier sicher und auch, wenn wir immer noch nicht wissen, woher du kommst, wir bleiben bei dir. Du gehörst zu uns und bist ein Teil vom Rudel.“

Ich seufzte schwer und versuchte ein Lächeln. „Du weißt, wie dankbar ich euch dafür bin, und ich will endlich hinter mir lassen können, dass ich nicht mehr weiß, woher ich gekommen bin. Aber es lässt mich nicht los! Jeden Tag, wenn ich schlafe, träume ich von Dingen, die vielleicht gewesen sind oder die ich mir wünsche. Immerzu diese Träume vom Verlassen werden und von meiner Ankunft hier. Mark, ich werde das nicht ewig durchhalten können! Immerzu dieser Traum von der kalten Nacht! Immer wache ich schreiend auf! Und dann dieses Gefühl in mir ... Dieser Schmerz. Mark, es fühlt sich an, als hätte ich das Wichtigste in meinem Leben verloren. Ich kann das nicht so einfach vergessen. Die Träume lassen das nicht zu. Es ist, als wolle etwas in mir unbedingt herausfinden, wer ich bin! Es will sich mit aller Kraft erinnern und ich kann nichts dagegen tun.“ Ein Schluchzen entwand sich ungewollt meiner Kehle. „Ich bin jetzt schon so lange hier und wir konnten nichts über meine Vergangenheit herausfinden. Niemand scheint mich zu vermissen.“

Mark streichelte beruhigend über meinen Kopf. „Wir haben doch schon einmal über die wahrscheinlichste Theorie gesprochen. Es war sicher kein Unfall oder Verbrechen. Es wird ein Zauber gewesen sein, der dich eigentlich umbringen sollte. Du kannst von Glück reden, dass du noch lebst. Also mache dir nicht solche Gedanken darum. Sei froh, dass wir dich gefunden haben. Hier bist du sicher. Übermorgen ist Lammas. Und dieses Jahr ist unser Fest des Lichts etwas Besonderes, da es auf eine Vollmondnacht fällt. Es ist dein erster Vollmond hier, wir müssen dich vorbereiten.“

Ich nickte mit angehaltenem Atem. Diese schrecklichen Träume und die Suche nach einem Hinweis hatten mich so vereinnahmt, dass ich den näher rückenden Vollmond völlig vergessen hatte. An so vieles hatte ich gedacht, aber nicht daran, dass ich mich bald verwandeln würde. Auch, wenn es wahrscheinlich nicht so war, mir kam es mir wie das erste Mal vor. Alles, was ich die letzten Wochen tat und lernte, erfuhr ich zum ersten Mal. Mein Alltag war immer noch erfüllt von 'Ersten Mal's', dass ich den Überblick schon völlig verloren hatte. Die Unterscheidung zwischen Dingen, die ich wusste und Dingen, die ich neu lernen musste, war unglaublich schwierig. Dauernd mischten sich unterbewusste und instinktive Handlungen ein. Niemand wusste, was genau in mir steckte. Ich am allerwenigsten. Das war auch Marks Sorge, was die bevorstehende Verwandlung betraf.

Langsam erhob er sich und streckte seinen immer noch starken, muskulösen Körper. Er war schon alt, älter, als die meisten meiner Art, sah jedoch aus, wie Ende dreißig.

„Hast du die Bücher durch?“, erkundigte er sich. Immer, wenn er mit mir über das Lernen sprach, hatte er diesen Lehrerblick. Streng und wissend. Man konnte nichts vor ihm verbergen.

„Fast. Ich werde bis morgen früh alle durchgelesen haben.“

Mark nickte nur knapp und wandte sich zur Tür. „Du solltest noch etwas schlafen. Du brauchst alle deine Kräfte.“

Der Ratschlag klang halbherzig, aber wahrscheinlich nur, weil er genau wusste, dass ich kein Auge mehr zutat.

„Klar“, erwiderte ich und sah ihm nach, „schlaf gut.“

„Du auch.“ Leise schloss sich die Tür hinter ihm. Ich wartete gerade solange, bis ich das Klicken seiner eigenen Türe hörte, ehe ich nach dem Bücherstapel neben meinem Nachttisch langte.

Seit ich hier aufgewacht war, hatte ich einige Dutzend Bücher verschlungen. Auch in ihnen hoffte ich auf Dinge, die Erinnerungen in mir weckten. Bisher hatte ich jedoch nur Unmengen über Werwölfe und Dämonen erfahren. Den ganzen Stammbaum der Hölle kannte ich auswendig, jeden Feiertag meiner Rasse. Nur ich selbst war mir nach wie vor ein Rätsel. Da gab es auf diesem Planeten Tausende meiner Art und niemand vermisste mich. Dabei brüstete sich die Elite stets damit, dass sie über jeden von uns ihre Hand hielt. Ich erinnerte mich dunkel daran. Mark hatte mir einiges über den Rat erzählt. Wie sie herrschten und wer an der Spitze stand, aber er sagte mir auch, das Craven kein Ort war, der sich beherrschen ließ. Mark war sein eigener Herr und gehorchte niemandem.

 

Bereits eine Woche nach meinem Erwachen war ich wieder vollkommen gesund gewesen. Die Taubheit meiner Glieder, die ich gespürt hatte und die schreckliche Erschöpfung waren verschwunden. Meine Muskeln vollständig erholt.

Warum ich von Anfang an wusste, dass ich kein Mensch war, hatte mir niemand beantworten können. Aber ich konnte wohl von Glück reden, dass ich in der Obhut eines freien Werwolfrudels aufgewacht war und nicht in den Händen eines Menschen. Die dämonische Weltbevölkerung achtete seit Äonen darauf, unentdeckt zu bleiben. Was geschehen wäre, wenn ein Mensch mich in die Hände bekommen hätte – darüber dachte ich lieber nicht nach.

Doch seit ich wieder gehen und mich frei bewegen konnte, gab es nur eine Frage, die mich tagein, tagaus beschäftigte. Jeden Abend, wenn das Leben hier auf Craven begann und alle erwachten.

Wer bin ich?

Jede Nacht versuchte ich aufs Neue, etwas über mich herauszufinden. Das stellte sich jedoch schnell als schwierig heraus. Internet und Telefon waren zwar große Hilfen, genauso wie die anderen Rudelmitglieder, doch bisher verlief jede Spur im Sande.

Seth überließ mir für die Suche stets seinen Computer und ich suchte stundenlang das Internet nach möglichen Artikeln über Autounfälle oder vermisste Personen ab. Sogar alle Krankenhäuser, psychiatrische Anstalten und Pflegeheime in und um London hatte ich abtelefoniert. Ergebnislos. Niemand kannte mich oder suchte nach mir. Da war niemand, der mich vermisste. Nichts, was dieses Loch in meinem Herzen erklärte.

Das Seltsame an meinem Gedächtnisverlust war, dass er sich lediglich auf meine persönlichen Erinnerungen bezog. Als hätte der Jemand, der mich beseitigen wollte, nur ganze bestimmte Bereiche ausgewählt und zerstört. Ich erinnerte mich nicht daran, wo ich aufgewachsen war oder wer meine Eltern waren, dafür aber sehr wohl an die Tatsache, dass ich ein Werwolf war. Mir fehlte das Wissen um mein eigenes Alter, aber ich erinnerte mich daran, wie es war zu jagen und zu töten. Nicht an die Verwandlung selbst erinnerte ich mich, aber ich kannte den Schmerz.

Seufzend stützte ich den Kopf in die Hand und ließ das Buch über Feiertage und den heidnischen Kalender in meinen Schoß sinken. Wer nur könnte mir etwas so Schreckliches angetan haben? Und warum hatte dieser Jemand seinen Job dann nicht vollendet und mich gleich getötet?

Die ersten Tage hatte ich mir das sehnlich gewünscht.

Nun aber war ich nicht mehr allein. Mark hatte mich so freundlich in seinem Rudel aufgenommen, dass ich vor Kurzem beschlossen hatte, einfach hier zu bleiben. Hier war ich Willkommen und gewollt. Hier war ich sicher.

Und dann war da auch noch Seth.

Der rothaarige Mann war mir wohl am Nächsten von allen Rudelmitgliedern. Seit dem ersten Tag meines Hierseins war er an meiner Seite. Er versorgte mich, half mir, wo er konnte und fuhr mich in die Stadt, wann immer mir danach war.

Nichtsdestotrotz blieb immer das leise Gefühl eigentlich nicht hierher zu gehören. Ich fühlte mich zwar wohl in dem alten, englischen Herrenhaus, aber zu Hause war ich hier nicht. Immer, wenn ich in den Spiegel sah, fragte ich mich, zu wem dieses Gesicht eigentlich gehörte. Angel war der Name, den ich im Kopf hatte, als man mich danach fragte, aber war es wirklich meiner? Den, den meine Mutter mir einst gegeben hatte? Hatte ich das lange, pechschwarze Haar und die dunkelgrünen Augen von ihr oder von meinem Vater? Sahen meine Hände den ihren ähnlich? Hatte ich vielleicht Geschwister? Kinder wohlmöglich? Einen Gefährten?

So unendlich viele Fragen, auf die ich wohl nie eine Antwort finden würde …

Werwölfe konnten sehr alt werden. Unsere natürliche Lebenserwartung lag bei mehreren Hundert Jahren. Am Tag unserer größtmöglichen Stärke hörten wir auf zu altern. Daher war es nicht möglich zu sagen, ob ich wirklich erst achtundzwanzig oder bereits achtundneunzig war. Vielleicht war meine Familie, so ich denn jemals eine gehabt hatte, längst tot.

Tattoos besaß ich keine und auch meine Narben gaben keinen Aufschluss über meine Herkunft. Zwar war mein Körper übersät mit den Erinnerungen meiner Haut, aber keine war so besonders, dass man sie einem Kult, einem Land oder einem Volk zuordnen konnte. Wir heilten sehr schnell, weshalb Narben nur selten entstanden, aber Wunden, die durch Silber oder Salz verunreinigt wurden, hinterließen immer Spuren.

Fast jeden Abend, wenn ich aufstand, sah ich mir mein nacktes Spiegelbild an und versuchte mich zu erinnern, woher all die Narben kamen. Schön fand ich mich nicht. Zwar hatte ich eine sehr weibliche Figur mit üppigen Rundungen, aber meine Haut war gezeichnet. Unter meiner linken Brust klaffte eine faustgroße Narbe, die so sensibel war, dass ich sie kaum berühren mochte. Arme und Beine, Rücken und Hals, überall erinnerte mich meine Haut an Verletzungen, die ich vergessen hatte.

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