Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit

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Für diese Frau kann man nur Mitleid haben. Wie stark muss ihre Angst sein, dass sie sogar vor ihren Kollegen wegläuft, völlig auf ihre Würde verzichtet und sich lieber zum Gespött machen lässt, als souverän mit der Herausforderung umzugehen. Die Frau ist ein Opfer der Angst. Und so ergeht es leider sehr vielen Menschen. Sie haben tatsächlich Angst vor dem Virus, obwohl sie meist im besten Alter sind und zumeist selbst schon mindestens einmal eine Grippe überstanden haben. Doch damals war es nur eine normale Grippe. Heute, so wurde ihnen beigebracht, ist es Corona und da müsse man Angst vor haben. Und so haben sie Angst, fürchterliche Angst. Allein dieses Angsterzeugen stellt eigentlich eine vorsätzliche Körperverletzung dar. Unzählige Menschen leiden darunter.

Eine Frau schrieb uns: „Das Verhalten mancher Bürger kommt schon fast zwanghaft rüber. Das erschreckt mich und mir macht das mehr Angst als das Virus. Jeder schaut nur auf sich. Ob jemand einem anderen noch hilft, wenn er auf der Straße zusammenbricht, oder aus Angst, er könnte ein Virus haben, die erste Hilfe unterlässt? Solche Gedanken finde ich viel bedrohlicher.“41

Doch es geschieht noch mehr als stilles Leiden. Viele Menschen verlassen aus Angst ihre Wohnungen nicht mehr. Der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité in Berlin, Professor Dr. Michael Tsokos, sagte: „Wir haben natürlich jetzt auch … als Rechtsmediziner viel weniger Covid-19-Tote, sondern vielmehr die Kollateralschäden, die wir jetzt sehen. Allein letzte Woche haben wir mehrfach Menschen obduziert, die seit dem Lockdown nie wieder aus ihrer Wohnung raus sind, die da wirklich jetzt hochgradig fäulnisverändert in Messiewohnungen lagen. Mit Gasmasken und Astronautennahrung, … die auch keiner vermisst hat. Und das sehen wir ganz viel, dass Wohnungen aufgemacht werden und da werden eben hochgradig fäulnisveränderte Leichen von Menschen gefunden, die nicht ins Krankenhaus gegangen sind, weil in ihnen als Drohszenarien, die aufgemacht wurden, eben die Angst überwog, rauszugehen.“42 Das ist so traurig und unmenschlich, dass es einem das Herz zerreißt. Dabei gäbe es doch auch eine ganz andere Bewältigungsstrategie als die Flucht vor dem Virus.

2.2 Angriff

Gehen wir wieder zurück in die Steinzeit Ostafrikas. Unser Steinzeitvorfahre hat nämlich eine weitere Strategie parat, die eigentlich das genaue Gegenteil darstellt, den Angriff. Tritt Angst auf, untersucht unser Unterbewusstsein ja, wie gesagt, in Sekundenschnelle, ob wir der Gefahr gewachsen sind oder nicht. Kommt es zu dem Ergebnis, wir sind es nicht, flüchten wir. Kommt es zur Auffassung, dass wir die Gefahr beherrschen können, greifen wir an. Unser Steinzeitvorfahre ist wieder in der Serengeti und hört ein Rascheln hinter dem Felsen, das sich als Leopard entpuppt.

Diesmal ist er aber nicht allein, sondern fünf erwachsene Jäger aus seiner Familie sind bei ihm, alle mit Lanzen bewaffnet. Höchste Gefahr, aber zusammen schaffen wir das (Entschuldigung, solche Urmenschensprüche verwenden manche noch heute). Die Steinzeitmenschen richten alle ihre Lanzen in Richtung Leopard, ihr Adrenalinspiegel steigt, ihre Muskeln spannen sich an. Sie richten sich auf, machen sich groß und gehen mutig auf den Leoparden los, von drei Seiten gleichzeitig. Dabei schreien sie ihn so laut sie können an. „Du Mistvieh. Wir zeigen es dir!“ Ihre Pupillen erweitern sich. Der Erste wirft seine Lanze, die den Leoparden verfehlt. Der Leopard faucht und reißt sein Maul auf. Wieder fliegt ein Speer, der ihn am Hinterlauf trifft. Jetzt wird er vollends wütend, greift an. Wir sehen in sein zähnebesetztes Maul, sehen seine Reißzähne vor uns, er springt uns an. Intuitiv richten wir die Lanze auf seinen Hals. Alles geht so schnell, wir stoßen zu. Treffer. Der Leopard schreit auf, Blut spritzt. Dann bricht er tot vor uns zusammen. „Jaaah, Sieg. Geschafft. Die Bestie ist besiegt.“ Wir alle jubeln vor Freude, Stolz. Wir sind die größten. Schließlich ziehen wir dem Tier sein Fell ab und hängen es uns triumphierend um. Wir sind so stark wie ein Leopard. Wir sind sogar noch stärker. Wir sind unbesiegbar.

Hier haben wir nahezu die gleiche Situation wie beim Beispiel der Flucht. Eine einzelne Sache ist aber anders und entscheidend. Nämlich unsere innere Einschätzung. Dieses Mal sagt unser Unterbewusstsein in Sekundenschnelle, dass wir dem Tier gewachsen sind. Und diese Entscheidung allein erzeugt ein ganz anderes Verhalten. Die erste Angst verschwindet, die eben beschriebenen Angstreaktionen des Körpers treten gar nicht auf. Niemand zittert oder macht sich in die Hose. Nein, statt einer Fortsetzung der Angst tritt nun die Wut ein, die sich zur Rage steigern kann. Zumindest entsteht ein hohes Selbstbewusstsein, eine subjektiv gefühlte Stärke. Statt wegzulaufen, werden die Lanzen geworfen, wird die Bestie angegriffen. Durch lautes Schreien, Sich-groß-Machen und Aggressivität wird der Feind eingeschüchtert. So machten das auch alle Armeen bei ihren Angriffen. Ein lautes „Hurrahhh“ beim Vorwärtsstürmen gab es noch im Ersten Weltkrieg an allen Fronten. Dazu lautes Trommeln, am besten noch im Takt, um alle geschlossen als starke Masse erscheinen zu lassen. Keine Zeit für Angst, denn wir sind stärker und kämpfen mutig. Lautes Trommeln wurde in der Coronazeit auch bei den Demonstrationen eingesetzt, etwa beim verbotenen Kerzenumzug um die Leipziger Innenstadt am 7. November 2020. Etwa 20.000 Menschen zogen friedlich unter „Wir-sind-das-Volk“-Rufen und lautem Getrommel trotz polizeilichen Hinderungsversuchen ihren vorgesehenen Weg.43 Mutig, geschlossen und friedlich riefen sie „Frieden-Freiheit-Demokratie“ und trotzten so erfolgreich den Versuchen der Stadtverwaltung, die Demonstration aufzulösen.44 Die Menschen zogen so, sich gegenseitig Mut machend, in Wiederholung der Demonstrationen am Ende der DDR, geschlossen mit Kerzen und Friedensfahnen ohne Angst und im Bewusstsein, sich für eine freie und moralisch edle Gesellschaft einzusetzen, ihren Weg. Auch wenn es friedlich war, die Politiker sahen es selbstverständlich als Angriff an. In psychologischer Sicht verständlich. Die Grünen forderten Konsequenzen und den Rücktritt des Innenministers, der die Verantwortung gleich an das Oberverwaltungsgericht abgab, das alles genehmigt hatte.45 Die Linke sprach von Staatsversagen und der Polizeipräsident sah sich am nächsten Tag zu einer Stellungnahme genötigt.

Die Menschen hatten ein Zeichen gesetzt, hatten gezeigt, dass sie keine Angst haben, dass sie sich nicht ängstigen lassen. Es gibt also eine Möglichkeit, aus der Angstspirale herauszukommen, den Angriff, der sogar in friedlicher Form erfolgen kann. Bevor wir später näher darauf eingehen, wie man seine Ängste auf friedliche Weise überwinden kann, wollen wir aber zuerst die dritte Reaktionsweise auf Angst sowie die sozialen Ängste betrachten. Die dritte Form haben zu Coronazeiten die meisten Menschen gewählt, die Erstarrung.

2.3 Erstarrung

Es kann gefährliche Situationen geben, wo eine Flucht nicht möglich ist und wir auch nicht die Kraft eines Angriffs haben. Wir fühlen uns zu klein und es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Was macht unser Steinzeitvorfahre dann? Beginnen wir mit einer kleinen Geschichte über unsere beiden Wellensittiche Peti und Anthea. Sie wohnen in ihrem Käfig, der auf der Fensterbank in der Küche steht. Meist können sie sich frei im Raum bewegen und sie fliegen gern hin und her oder sitzen auf ihrem Lieblingsplatz, oben auf der Gardinenstange. Das geht natürlich nicht, wenn wir kochen, denn die Herdplatten sind viel zu heiß und gefährlich. An einem Abend saßen sie daher in ihrem Käfig, während wir Fisch in der Pfanne zubereiteten. Dabei geriet etwas Fett auf die Herdplatte und es gab eine Stichflamme, nur ein bis zwei Sekunden lang. Am Fliesenspiegel blieb etwas Ruß zurück, ansonsten verlief alles glimpflich. Alles gut also.

Aber ganz anders reagierten Peti und Anthea. Sie saßen völlig erstarrt und total verängstigt in der hinteren Ecke ihres Käfigs und wirkten wie ausgestopft. Keine Regung, kein Pieps, nur ein starrer Blick in Richtung Herdplatte. Nicht mal eine Bewegung der Augenlider war erkennbar. Die beiden Wellensittiche hatten sich offenbar erschrocken, obwohl sie in ihrem ganzen Leben noch nie ein Feuer gesehen hatten. Auch konnten sie nie selber gelernt haben, dass Feuer gefährlich sein kann. Für ihre Vorfahren in Australien, was sicher mehr als zehn Generationen zurücklag, bedeutete Feuer in Form von Buschbränden im Outback allerdings eine große Gefahr, auf die durch die großen Wellensittichschwärme mit Fortfliegen, also Flucht, reagiert wird. Insoweit macht eine Angst vor Feuer Sinn. Aber dass diese Angst so tief in ihrem Erbgut gespeichert ist, das war uns neu. Aber woher kam nun ihre Erstarrung?

Das Feuer hatte tiefste Angst ausgelöst. Angriff dagegen war nicht möglich. Also Flucht. Doch diese ging am Gitter des Käfigs nicht weiter. Sie saßen fest. Auch die Flucht funktionierte also ab da nicht mehr. Als dritte Lösung auf Gefahr trat nun der Totstellreflex ein. Peti und Anthea saßen völlig erstarrt in der hintersten Ecke des Käfigs. Wir gingen zu ihnen und erklärten ihnen liebevoll, dass alles okay sei. Keine Reaktion. Wir pfiffen ihr Lieblingslied. Auch keine Reaktion. So ging es eine ganze Stunde lang. Auch das Vorspielen eines Videos mit Wellensittichen auf dem Handy, ihr Lieblingsprogramm, führte zu keiner Reaktion. Völlige Erstarrung. Wir redeten ihnen ermutigend zu, imitierten ihre Töne des Wohlbefindens. Nichts. Erstarrung. Nach etwa eineinhalb Stunden bewegte Peti leicht sein Bein und innerhalb der nächsten halben Stunde kamen leichte Bewegungen auf, um Kontakt miteinander aufzunehmen und sich eng aneinanderzuschmiegen und sich gegenseitig zu trösten und zu kuscheln.

Was bringt so eine Erstarrung? Bei Feuer eigentlich nichts. Beim Buschfeuer wären die beiden so verbrannt. Aber im Australischen Outback gibt es ja auch keine Gitter und die Flucht wäre erfolgreich gewesen. Die Erstarrung ist eigentlich nur der letzte Versuch, wenn die beiden anderen Strategien nicht zum Zuge kommen können.

 

Schauen wir wieder unseren Steinzeitmenschen an, der allein durch die Savanne zieht. Wieder kommt ein Leopard. Das Unterbewusstsein checkt wieder ab. Flucht? Nein, der Steinzeitmensch ist heute zu langsam. Angriff? Nein, er ist zu schwach und seine Lanze zerbrach eben beim Erbeuten eines Savannenhasen. Geht also auch nicht. Was nun? Dritte Strategie also. Der Steinzeitmensch schleicht langsam zu einem großen Felsen, lehnt sich in eine Nische und verhält sich ganz leise. Nur nicht auffallen. Vielleicht verliert der Leopard ja das Interesse. Bloß kein Geräusch machen. Auch keine Atemgeräusche. Bloß keine Bewegung, die die Raubkatze bemerken könnte. Ruhig bleiben. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wie soll man innerlich ruhig bleiben bei einer so direkten Gefahr. Aber es muss sein. Am besten, wir schalten alles ab, dann sind wir am ruhigsten. Und so schaltet unser Inneres tatsächlich ab. Wir erstarren, werden in eine Art Winterschlaf versetzt oder fallen ganz in Ohnmacht. Herzschlag und Atmung werden automatisch auf das absolut Nötigste heruntergefahren. Wir wirken wie tot. Und so werden wir tatsächlich am wenigsten bemerkt, zumindest eine kleine Chance besteht als letzte Lösung. Vielleicht zieht so der Leopard von dannen. Viele Tiere fressen nur frisches Fleisch. So entdeckt der Leopard uns vielleicht, hält uns aber für tot und zieht, angewidert von diesem Aas, Leine. Erst nach einer ganzen Zeit erwachen wir wieder. Aber vorsichtig. Die Gefahr könnte ja noch da sein. Vorsichtig öffnen wir die Augen. Nichts zu sehen. Dann erst leichte Bewegungen, vorsichtig weiter ausschauend. Der Leopard ist weg und so kehrt die Lebenskraft zurück. Noch schwach, ruhen wir uns wieder unter der Akazie aus, gar nicht genau wissend, was eigentlich genau geschehen ist.

Grundsätzlich bestehen die drei angeborenen Möglichkeiten, um auf eine Gefahr zu reagieren, der Angriff, die Flucht und das Erstarren. Diese drei Möglichkeiten treten nicht nur bei Vögeln, sondern auch bei allen Säugetieren auf. Sie sind also evolutionär schon sehr früh entstanden. Da es sie bis heute gibt, liegt es nahe, dass sie im evolutionären Sinn vorteilhaft sind. Hieraus können wir erklären, warum wir uns noch heute bei Angst so oder so verhalten.

Im Internet war im Herbst 2020 ein bewegendes Video zu sehen. Eine weit über 90 Jahre alte Frau, die im Krieg mehrere Personen vor den Nazischergen versteckt hatte, wurde gefragt, was die Angst mit den Menschen damals gemacht habe. Sie antwortete: „Da waren alle ganz still und haben sich zurückgezogen, wenn sie keine Kämpfernatur waren.“ Übersetzt heißt das also, wenn sie keinen Mut hatten und nicht geflüchtet waren, gingen sie in die Erstarrung. Und genauso verhalten sich die Menschen in der Coronazeit. Eine Flucht ist nicht möglich, da ja fast die ganze Welt betroffen ist, einen Angriff gegen die Regierungen trauen sie sich noch nicht zu. Die Folge ist der soziale Rückzug in die eigenen vier Wände. Dieses Verhalten wird noch dadurch unterstützt, als in den Lockdowns Gaststätten sowie Sport- und Freizeiteinrichtungen geschlossen sind. So verkriechen sich die Menschen und vermeiden auch private Kontakte über die Verbote der Coronaregelungen hinaus. So geschah es, dass eine Freundin zum 60. Geburtstag nur Absagen beschert bekam, obwohl private Geburtstagsfeiern zulässig waren. Die Menschen gehen nur noch raus, wenn sie zur Arbeit oder zu notwendigen Besorgungen raus müssen. Viele Geschäfte, in denen man früher stöberte, leiden darunter. Laufkundschaft gibt es nicht mehr und was die Leute brauchen, bestellten sie verstärkt über das Internet. Unser Postbote, immer noch gut gelaunt, schuftet heutzutage deutlich mehr als vor Corona, seine Paketanlieferungen haben sich 2020 verdoppelt. Wo früher in den Fußgängerzonen reges Leben war, schleichen jetzt ein paar vermummte Gestalten daher; wo früher die Touristen Leben brachten, sind nun die Hotels geschlossen, Kneipen und Restaurants dunkel und vor der Kleinkunstbühne und dem Kino prangen Hinweise: „Wegen Konkurs geschlossen.“ Selbst wo früher der allabendliche Stau stattfand, rauscht man während des Lockdowns ab 19 Uhr über verlassene Straßen. Und zu Hause werden dann schnell die öffentlich-rechtlichen Medien eingeschaltet, um sich die tägliche Angstauffrischung reinzuziehen. Ist das noch ein menschenwürdiges Leben?

Dieser Rückzug an allen Fronten geschieht als Reaktion auf Angst. Er ist ein alter Schutzmechanismus, der uns viele Jahrtausende das Überleben gesichert hat, als wir noch in der Natur lebten. In der modernen Gesellschaft dagegen hindert er uns am Leben. Ein Spruch unbekannter Herkunft tauchte 2020 im Internet auf: „Ich hätte nie gedacht, dass ich eine Zeit erleben würde, in der so viele Menschen so große Angst vor dem Sterben haben, dass sie bereitwillig aufhören zu leben.“

Angemerkt sei noch, dass manche Tiere die drei Möglichkeiten auch in Kombination nutzen. Erst ein Stück Weglaufen und dann irgendwo verstecken. Oder erst verstecken und nur im Notfall angreifen, wie manche Schlangen das machen. Eine Schlange ist für den Menschen eigentlich kaum gefährlich, da sie uns schon bemerkt, wenn wir noch weiter entfernt sind. Kommen wir ihrem Versteck aber zu nahe oder treten wir ahnungslos auf sie, dann beißt sie zu, geht also nach dem Erstarren in den Angriffsmodus. Anders macht es der Hase. Er versteckt sich im Gras und erst, wenn wir ihm zu nahe kommen, wechselt er auf den Fluchtmodus und rennt plötzlich los. Das erschreckt uns erst einmal und diese Schrecksekunde nutzt er, um schon mal Abstand zu bekommen. Zusätzlich hat dieser „Angsthase“ die Strategie, im Zickzack zu laufen, wodurch ein Verfolger noch mehr verwirrt wird. Eine prima Dreierkombination, um zu überleben.

Auch der Mensch kann zwischen den drei Strategien wechseln. Der Mutige, der seinen Job und seine Ersparnisse verloren hat, kapituliert vielleicht und zieht sich depressiv zurück. Wer sich zurückzieht, flüchtet vielleicht irgendwann nach Schweden oder überwindet seine Angst und wird zum tapferen Kämpfer gegen die Unterdrückung. Alle Kombinationen sind möglich.

Häufig wurde schon die Frage gestellt, welche Ängste genetisch oder epigenetisch angeboren sind. Bei unseren Vögelchen ist es sicher die Angst vor dem Feuer, bei uns Menschen ist das weniger klar, treten die einzelnen Elemente, vor denen wir Angst haben, doch bei jedem etwas anders auf. Ist Höhenangst vielleicht ein Relikt aus der Frühzeit, oder Angst vor Dunkelheit oder Geräuschen im Dunkeln? So ganz klar ist das nicht. Allerdings scheint manches Schutzverhalten evolutionär angelegt zu sein. Schauen wir uns einmal an, wie sich eine Gaststätte füllt, so sehen wir zumeist, dass erst die Tische an den Wänden besetzt werden, die in der Mitte zuletzt. Den Rücken sichern und Ausblick nach vorne haben, ist eine gute Methode, um in der Wildnis zu überleben. Intuitiv wenden wir sie immer noch an, kommen heute allerdings dann auch damit klar, wenn wir als zuletzt kommend nur noch einen Tisch in der Mitte finden. Angst scheint also eventuell auch teilweise genetisch oder epigenetisch in uns prädisponiert zu sein. Doch sie zu überwinden, können wir lernen. Aber wir können auch lernen, Ängste zu bekommen. Und das geht leider sehr leicht. Schauen wir uns zunächst an, wie Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen durch Lernen entstehen kann.

33 NIETZSCHE 1881.

34 FROMM 1956.

35 Vgl. FREUD 1926, GOLDSTEIN 1971, KIERKEGAARD 1984, GONDECK 1990, LACAN 2010.

36 In neuester Zeit haben sich besonders der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther und der Psychologe Prof. Dr. Rainer Mausfeld um wertvolle Beiträge zum Thema Angst verdient gemacht (HÜTHER 2018, 2020a, 2020b, MAUSFELD 2019a).

37 Zur Lebenswelt der Serengeti siehe u. a. GRZIMEK & GRZIMEK 1959.

38 A. A. 2019a, b, c, d.

39 Juliane S., Mitteilung vom 08.09.2020.

40 Mitteilung von Juliane S.

41 Mail von Madlin Handt vom 01.09.2020.

42 TSOKOS 2020.

43 Es gab tatsächlich auch Gewalt, allerdings nicht von Seiten der Demonstranten. Einige Antifa-Aktivisten versuchten zu randalieren. Am Hauptbahnhof konnte eine Gruppe beobachtet werden, die sehr schnell und effektiv von einer Polizeieinheit gestoppt wurde. Bei einem der eingesetzten Reisebusse wurden von Antifamitgliedern Scheiben eingeworfen.

44 In der Presse wurde am selben Abend noch berichtet, die Masse hätte „Sieg-Heil“ gerufen, was eine infame Lüge war.

45 A. A. 2020zzz.

3. Angst ohne den Leoparden

„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen,

der wird am Ende beides verlieren.“

Benjamin Franklin,

amerikanischer Wissenschaftler und Staatsmann (1706–1790).

„Die Freiheit ist das einzige Gut, das sich nur abnutzt,

wenn man es nicht benutzt.“

Voltaire, französischer Philosoph (1694–1788).

Wird ein Kind geboren, hat es erst einmal vor vielen Dingen keine Angst. Trifft ein einjähriges kleines Mädchen etwa auf eine Maus, so findet es diese interessant und spielt mit ihr. Warum auch nicht. Ein kleines Mäuschen ist harmlos und süß und weich und kuschelig. So vergnügt man sich miteinander. Nach einer ganzen Weile kommt die Mama hinzu, sieht die Maus und schreit laut auf. „Iiihhh, eine Maus!“ Sie schnappt das Kind entsetzt und erregt und nimmt es rettend auf den Arm. Das Kind wundert sich, spürt aber die Emotionen der Mutter. Es war alles so schön, aber Mama ist so ängstlich. „Ist dir auch nichts geschehen, mein Kind?“ „Nee“, denkt das Kind und spürt, dass es wohl etwas nicht richtig gemacht hat. Mama hat schließlich immer recht. Wenn sie mich so beschützt, war etwas nicht in Ordnung. Und Mama hatte Angst. So werden fortan „Maus“ und „Angst“ miteinander im Kind verknüpft. Vielleicht erklärt die Mutter noch, dass Mäuse beißen können, oder stellt eine Falle auf oder eine ähnliche Situation wiederholt sich. Am Ende speichert das Kind ab: Maus = Gefahr. Und diese Konditionierung kann lebenslang erhalten bleiben. Eine Bekannte hat selbst mit 82 Jahren noch Angst vor Mäusen und diese Angst hatte sie selbstverständlich so oder ähnlich an ihre Tochter weitergegeben, die einmal panikartig aufschrie, als im Garten ein kleines Mäuschen über ihren Fuß gelaufen war. Für mich eine lustige Situation, für sie ein großer Schrecken. Gelernte Angst.

So wie vor Mäusen können wir lernen, vor allem Möglichen Angst zu bekommen, vor Spinnen, Ratten, Schlangen, Zahnärzten, Weihnachtsbäumen oder auch vor Müllcontainern oder Coronaviren. Ängste, die sich auf spezielle Objekte beziehen, nennen wir Phobien. Alle Dinge sind möglich, angstbesetzt zu werden. Aber nicht nur Dinge, auch für alle denkbaren Situationen kann Angst gelernt werden, sowohl von anderen Menschen als auch durch eigenes Erleben.

Wird ein kleiner Junge von einem Pferd getreten, kann er lebenslang eine Abneigung gegen diese Tiere haben, vielleicht als Erwachsener sogar, ohne noch zu wissen, dass er einmal getreten wurde. Ein Pferdebild im Augenwinkel kann zum Trigger werden und aus ihm unerklärlichen Gründen taucht Angst auf. Ein heftiges Anschreien eines Kindes von einer blonden Frau kann dazu führen, dass der Erwachsene später nur auf brünette oder schwarzhaarige Frauen steht. Wird die Mutter bei Gewitter ängstlich, weil sie das an den Bombenhagel im Weltkrieg erinnerte, übernehmen Kinder das möglichweise und meiden Gewitter selber und geben das vielleicht sogar an ihre Kinder weiter, sodass ein Angstverhalten über Generationen fortgesetzt werden kann. Sagt der kriegsbeeinflusste Vater ständig, dass es nur zu Hause sicher ist und in der Welt draußen ungeahnte Gefahren lauern, bekommen wir vielleicht eine Agoraphobie, also eine Angst, uns allein zu weit vom eigenen Heim zu entfernen. Wir können dann z. B. nicht allein in den Urlaub fahren.

 

Die Zahl der Ängste, die wir erlernen können, ist somit unbegrenzt. Und jeder Mensch hat andere Ängste in unterschiedlicher Stärke. Was dem einen Angst macht, macht dem anderen keine. So genießt die eine Frau die weiten Blicke vom Aussichtsturm, während ihrer Wanderbegleiterin so ein Turm die Angst hochschnellen lässt. Darauf klettern? Niemals. So wartet sie derweil lieber unten.

Wirklich ganz frei von Ängsten sind wohl nur die allerwenigsten. Wir allein erfahren unterschiedlichste Prägungen in der Kindheit, erlernen Muster, wie wir handeln sollten, übernehmen Bewertungen von Situationen von anderen, machen Erfahrungen und verinnerlichen Ängste der Eltern.

Diese jeweiligen Ängste hindern uns, uns frei ausleben zu können. Sie schränken uns ein, indem wir manche Dinge nicht tun, weil da diese Angst ist. Wir vermeiden solche Situationen. Der schwedische Drehbuchautor Ingmar Bergmann sagte einmal: „Es gibt keine Grenzen, weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“

Was ist nun aber überhaupt Angst? Bisher haben wir noch keine Definition versucht. Und solche Definitionen sind in der Literatur auch sehr unterschiedlich. Es ist einfach ein Gefühl, sagen die einen, und die anderen definieren sie über die körperlichen Reaktionen heraus. Das ist beides nicht gerade die Spitze der Erkenntnis. Wir selbst wissen sofort, wenn wir Angst haben. Aber eine Definition fällt da schon schwer. Ist es einfach nur das Gefühl für Gefahrensituationen? Immerhin definiert der berühmte „Ofenstein“, das Lehrbuch der angehenden Psychotherapeuten: Angst ist ein zum Überleben wichtiger natürlicher Affekt der Wirbeltiere, der eintritt, wenn die körperliche, seelische oder moralische Unversehrtheit gefährdet ist.46 Aber die kleine Maus oder der Aussichtsturm sind ja keine wirklichen Gefahren für uns.

Wir gehen davon aus, dass Angst immer dann entsteht, wenn die betroffene Person subjektiv mit einem möglichen Verlust konfrontiert wird.47 Als vorläufige Definition können wir das erst mal für einen Augenblick so stehen lassen. Doch wessen können wir nun aber alles verlustig gehen?

Wir hatten schon gesehen, dass der eine vor Dingen Angst hat und die andere vor den gleichen Dingen nicht. Sogar auf den Leoparden reagierten die Steinzeitmenschen ja, wie wir gesehen haben, unterschiedlich. Angst ist also immer sehr persönlich, subjektiv. Es liegt an unserem eigenen Denken, ob wir in der kleinen Maus ein Kuscheltier oder eine fürchterliche Gefahr sehen. Somit entstehen Ängste durch unser Denken. Denken wir, dass wir alles beherrschen, kommt keine Angst auf. So geht der Dompteur frei und selbstbewusst in den Tigerkäfig und die Tiger führen ihre Zirkusdressur vor. Ginge dort jemand hinein, der sich den Tieren nicht gewachsen fühlt, bricht Angst aus. Und die würden die Tiger auch bemerken und losfauchen, wenn nicht Schlimmeres tun. Unser Denken ist das Entscheidende, ob wir Angst bekommen, zumindest, ob wir nach einem Schrecken in Angst bleiben oder wir uns wieder fangen und souverän reagieren.

In uns läuft jedes Mal eine Kette von Geschehnissen ab:

1. Wir geraten in eine bestimmte Situation.

Diese Situation muss nicht im Außen liegen. Es reicht, wenn wir uns etwas vorstellen, z. B. den Zahnarztbesuch nächste Woche. Dieser Gedanke reicht völlig aus, um Angst aufkommen zu lassen, denn unser Gehirn kann nicht unterscheiden, ob etwas gerade stattfindet oder wir nur gerade an eine Situation denken. Anders als die Tiere, können wir so vor Ereignissen der Vergangenheit oder der Zukunft Angst bekommen, Tiere leben dagegen immer im Hier und Jetzt.48 Die gedachten Situationen können wir immer schlimmer denken und so die Angst förmlich emporpushen. „Angst malt den Teufel an die Wand“, heißt es daher.

2. Wir bewerten die Situation danach, ob wir sie bewältigen können oder nicht. Und dies machen wir nicht unbedingt mit logischem Denken, sondern oft sehr subjektiv, emotional und intuitiv.

3. Das entsprechende Gefühl kommt auf. Angst (oder vielleicht Wut, Langeweile, Uninteressiertheit, Freude oder andere Empfindungen).

4. Wir reagieren auf Angst mit den drei Möglichkeiten der Flucht, des Angriffs oder der Erstarrung. Wenn wir es schon gelernt haben, können wir aber auch souverän bleiben und dann mit dem Großhirn entscheiden, wie es weitergeht.

5. Eine oder mehrere der drei Angstreaktionen können zu einem dauerhaften Verhalten werden.

Nun ist die Gefahr, heute einem Leoparden Aug in Aug gegenüberzustehen, recht unwahrscheinlich. Auch andere Raubtiere gibt es zumindest in Europa kaum noch. Und wenn, sind sie, vernunftmäßig gedacht, nicht gefährlich. Aber was ist schon vernünftig. Erscheint doch einmal ein Tier, dann springen die Ängste sofort wieder schreckhaft an. Als 2006 der Bär Bruno von Südtirol nach Bayern wanderte, kam es dort zu einer Panik und man ließ Bärenfänger aus Finnland kommen, weil Bruno ein paar Schafe und Hühner gegessen hatte. Bruno hatten keinem Menschen etwas getan, wieso auch, das hatte er ja bisher in Südtirol und Tirol auch nicht. Ministerpräsident Stoiber malte jedoch den Teufel an die Wand: „Stellen Sie sich mal vor, die Leute wären raus und wären jetzt dem Bären praktisch begegnet!“, sagte er, als Bruno ein Huhn auf einem Bauernhof verspeist hatte.49 Umweltminister Schnappauf machte Bruno ebenfalls zur Gefahr und so wurde das arme Tier schließlich an der Kümpflalm erschossen und steht heute ausgestopft in Schloss Nymphenburg. Er war ein Opfer der menschlichen Angst geworden.

Ein ähnliches Theater gibt es immer wieder bei der Einwanderung von Wölfen in die einzelnen deutschen Bundesländer. Seit Jahren sind sie in Sachsen heimisch, fügen sich in die ökologischen Kreisläufe ein und es gibt keine Probleme. Aber in jedem Bundesland, in das sie sich ausbreiten, springt die Angst an. 2008 zog ein einsames Tier durch das Münsterland und eine Bekannte traute sich nicht mehr aus dem Haus. Selbst ansonsten sich mutig gebende gestandene Männer forderten den Abschuss, der zum Glück nicht erfolgte, weil der Wolf zurück nach Niedersachsen marschierte. Heutzutage gibt es in den Kreisen Wolfsbeauftragte und es bedarf großer Informationsbemühungen, um die Harmlosigkeit dieser Tiere deutlich zu machen. Doch die Angst bleibt in vielen Menschen. Schließlich hat man als Kind diese Angst doch im Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf gelernt.50

Auch andere Naturgefahren bestehen heute kaum noch. Hohe Felsen sind meist durch Schilder, Schutzzäune und Sicherungsmaßnahmen ungefährlich geworden und bei Dunkelheit können wir einfach auf den Lichtschalter drücken. Da bräuchte es ja eigentlich die Angst gar nicht mehr, wäre sie lediglich eine Emotion für akute Lebensgefahr. Es muss also mehr dahinterstecken.

Der Psychologe Abraham Harold Maslow stellte 1943, gestützt auf die Erkenntnis, dass Bedürfnisse insgesamt die Grundlage der menschlichen Motivation darstellen, seine Theory of human motivation auf.51 Berühmt geworden ist er dabei besonders mit seiner Bedürfnispyramide, einem Stufenmodell der menschlichen Motivation. Er geht davon aus, dass es fünf Stufen unterschiedlicher menschlicher Bedürfnisse gibt. Auf der untersten Stufe die physiologischen Grundbedürfnisse (Nahrung, Wasser, Wärme etc.), auf der zweiten die Sicherheitsbedürfnisse (Schutz, Stabilität etc.), auf der dritten dann die sozialen Bedürfnisse, wie Zugehörigkeit, Liebe, soziale Anerkennung etc. Stufe vier umfasst die Individualbedürfnisse (Freiheit, Unabhängigkeit, Erfolg, Selbstbewusstsein, Respekt, Prestige, ästhetische und Wissensbedürfnisse etc.) und schließlich findet sich auf der obersten Stufe die Selbstverwirklichung.

Maslow ging davon aus, dass eine Stufe nur erreicht werden kann, wenn sämtliche Bedürfnisse der jeweils darunter liegenden Stufe befriedigt sind. Dies ist bis zu einem gewissen Grad einleuchtend. Stellen wir uns einen armen Slumbewohner in Kalkutta vor, der jeden Tag darum kämpfen muss, überhaupt etwas zu essen zu haben. Er wird allein damit beschäftigt sein, seine Grundbedürfnisse irgendwie zu decken, um zu überleben. Der Gedanke, sich selbstverwirklichen zu wollen, ist so weit von ihm entfernt, dass er ihn wohl überhaupt nicht kennt. Traurig, dass Menschen auf unserem reichen Planeten noch heute auf dieser Stufe feststecken müssen.