White Moon

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„Hannah?“

Ich schaue zu ihm zurück. „Warum mussten wir das All in gestern so schnell verlassen?“

Dieses Mal lässt er mit seiner Antwort nicht so lange auf sich warten. „Weil Eric da war.“

„Und wer ist Eric?“

„Er ist einer unserer Anführer und der Besitzer des All in. Wenn Eric anwesend ist, wird unser Mitternachtssnack, wie du es so treffenderweise formuliert hast, meist ziemlich blutig. Ich wollte nicht, dass du dabei bist.“

„Anführer? Heißt das, ihr seid Eric unterstellt?“

„In gewisser Hinsicht schon. Jede Gruppe, ob groß oder klein, braucht jemanden, der sie führt und die Richtung vorgibt. Eric ist eben unser Anführer. Und er hat seinen Job viele Jahre gut gemacht.“

Chris wirkt nachdenklich. „Aber in den letzten Jahren ist er stark vom Weg abgekommen.“

„Wie das?“, frage ich nach. „Hat das mit euren blutigen Snacks zu tun?“

Chris winkt ab. „Das muss ich dir ein anderes Mal erklären. Wir sollten langsam aufbrechen.“ Aus tiefen dunklen Augen schaut er zu mir herüber.

Erschrocken weiche ich auf meinem Stuhl zurück. „Was ist mit dir?“

Mein Herz rast.

Er wendet den Blick ab. „Nichts. Ich bin nur ... Verdammt! Ich bin einfach so ... hungrig.“

„Hungrig? Wir hatten gerade Frühstück. Ein Ausgiebiges möchte ich meinen.“ Verwundert schaue ich ihn an.

„Sorry, Babe, aber da war nichts dabei, was meinen Hunger hätte stillen können.“ Er zieht seine Worte in die Länge.

Es dauert einen Moment. Dann verstehe ich.

„Wie lange hast du schon nichts getrunken?“

Er schweigt.

„Chris! Wie lange?“, frage ich fordernd nach.

„Etwa drei Tage“, gibt er zögernd zu.

„Drei Tage? Ist das nicht etwas lange? Nicht, dass ich mich da auskenne, aber hey, es sollte dir nicht gerade schwerfallen, jemanden zum Aussaugen zu finden, oder?“ Ich klinge etwas gereizter als beabsichtigt.

„Wir trinken nicht immer frisches Blut. Ich muss mir also nicht zwingend jemanden zum Aussaugen suchen. Wir ernähren uns durchaus auch von Blutbeuteln, weißt du.“

„Und warum hast du dir keinen gegönnt?“, hake ich nach. „Weißt du eigentlich ... Fuck ... Chris, deine Augen ... Ich ...“

Er sieht mich mit einem Blick an, der mir im Normalfall Angst eingejagt hätte. Doch ein kleines vertrautes Summen in mir beruhigt mich und normalisiert meinen Herzschlag.

„Ich wollte warten“, gibt er zähneknirschend zu.

„Warten? Worauf denn? Wenn ich vor Hunger fast umkomme, fällt mir das Warten echt schwer.“

„Hannah, ist das nicht offensichtlich, auf was ich warten wollte? Oder besser gesagt, auf wen?“

Ich schlucke.

Ach so.

Und dann weiß ich, was ich tun muss. Das Summen in mir verrät es mir.

„Komm“, sage ich zu ihm und nehme ihn an die Hand. Ich führe ihn erst in Richtung Toiletten und anschließend in den Keller, wo ich die Personalräume des Cafés vermute. In einer abgedunkelten Ecke bleibe ich stehen und betrachte den schwer atmenden Chris. Mit tiefen dunklen Augen starrt er auf mich herab.

„Hannah ...“ Mehr bringt er nicht hervor.

Ich stelle mich dicht vor ihn und lege mir die braunen Locken über die Schulter, so dass er eine freie Sicht auf meinen Hals hat.

„Hannah, nicht ...“

„Nimm dir, was du brauchst.“

Chris atmet noch einmal tief durch, dann senkt er seine Fangzähne in meine Halsschlagader.

Ein Keuchen entfährt mir, als er meine Haut durchbohrt und den ersten Schluck aus meiner Ader nimmt. Ich bin wie berauscht. Taumele. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Er umfasst mit einer Hand gekonnt meine Hüfte und drückt mich an sich. Mit der anderen Hand stützt er meinen Kopf, den ich ihm bereitwillig übergebe. Er brummt bei jedem Schluck an meinem Hals, während mein Unterleib sich dabei auf die süßeste Art und Weise zusammenzieht.

Mir bleibt nichts anderes übrig als mich fester an ihn zu pressen und meine Hüften gegen seine zu drücken.

„Chris, oh Gott, ich ...“ Ich stöhne auf.

Sein Saugen an meinem Hals raubt mir den Verstand und bringt mich weiter an eine Schwelle, die mehr als nur Lust bedeutet. Ich kralle meine Hände in seinen Rücken. Seine Muskeln sind gespannt. Ich spüre, wie sie arbeiten, während er mich an sich drückt.

„Chris, bitte! Ich ...“, bringe ich atemlos hervor, doch just in diesem Augenblick löst er seine Fangzähne aus meiner Haut und haucht mir einen flüchtigen Kuss auf die Bisswunde.

„Ich weiß, Babe“, flüstert er mir ins Ohr, „und es wäre nicht das erste Mal.“

Erschrocken schaue ich auf und er zwinkert mir zu. „Aber dieses Etablissement ist eindeutig nicht der richtige Ort für einen ...“

„Hey, was haben Sie hier zu suchen?“

Verdammt. Der überbemühte Kellner von vorhin.

Ich will gerade zu einer Erklärung ansetzen, da hat Chris auch schon das Wort ergriffen. „Hey, tut mir leid. Ich wollte mit meinem Mädchen kurz alleine sein. Bitte verzeihen Sie. Wir sind sofort weg.“

Schweigend schaut er uns an. Schließlich nickt er und verschwindet.

Den Wink mit dem Zaunpfahl muss er uns nicht zweimal geben. Verstohlen schauen wir uns an, machen uns dann aber grinsend auf den Weg zurück nach oben.

Sacht streiche in mit den Fingern über die Bisswunde an meinem Hals. Fühle nach, ob sie noch blutet. Doch als ich meine Hand betrachte, ist dort ... nichts.

„Keine Sorge. Vampirbisse heilen innerhalb von Sekunden ab. Und Narben hinterlassen sie auch nicht.“ Chris hat sanft die Hand an meinen Rücken gelegt, als wir die Treppe hochgehen.

Mein Herz pocht noch immer wie wild in meiner Brust. Ich versuche, ruhiger zu atmen, doch es gelingt mir kaum. Auch wenn die Bisswunde an meinem Hals längst abgeheilt ist, so hat sich doch in eine kleine pochende Erinnerung verwandelt, die wohlige Schauer durch meinen Unterleib jagen lässt. Himmel, was hatte er nur mit mir gemacht?

Auf halber Treppe nach oben bleibt Chris stehen und presst mich an die Wand. Der Handlauf drückt sich schmerzhaft in meinen Rücken und für einen Moment bin ich wie erstarrt. Große blaue Augen durchdringen die meinen. Erst jetzt wird mir bewusst, wie schnell auch seine Atmung noch immer geht. Er öffnet den Mund, vermutlich um mit irgendeiner Erklärung anzusetzen, bekommt aber kein Wort heraus und leckt sich stattdessen flüchtig über die Lippen. Wie gerne ich jetzt diese Zunge wäre. Oh mein Gott, diese vollen Lippen, umrahmt von seinem Dreitagebart, der auch an meinen intimsten Stellen ein herrliches Kratzen hervorrufen würde ...

„Hannah“, bringt er schließlich mit rauer Stimme hervor, „das war ... Ich ...“, stammelt er weiter. „Danke.“

Dann senkt er sein Gesicht auf mich herab.

Als unsere Lippen sich berühren, gehe ich für einen Moment in die Knie. Seine starken Arme fangen mich auf und halten mich, bis ich aufhöre zu schwanken. Langsam wandert eine seiner Hände meinen Rücken hoch und verursacht dort die schönste Gänsehaut, die mir je widerfahren ist. Ich biege meinen Rücken durch, wölbe mich ihm entgegen. Als sein Mund sich öffnet und sich seine Zunge vorsichtig aber bestimmt ihren Weg sucht, entfährt mir ein heiseres Stöhnen.

Der Geschmack meines Blutes macht sich zwischen unseren Zungen breit und für einen Moment bin ich irritiert ob der metallischen Note. Doch auf irgendeine verruchte Art und Weise heizt mich dieser Geschmack total an und lässt mein Herz noch etwas schneller schlagen.

Seine Hände umfassen mein Gesicht und er intensiviert seinen Kuss. Alles um uns herum scheint zu verschwimmen. Vergessen sind alle Sorgen und Zweifel, alle Wut und Unverständnis. Wir sind nur noch im Hier und Jetzt. Und verdammt, ich will nicht, dass das je wieder aufhört.

„Ich dachte eigentlich, ich hätte mich klar ausgedrückt!“

Der Kellner.

Fuck.

Nur widerwillig löst sich Chris von mir. Mit verschränkten Armen steht der Situationssprenger am Fuße der Treppe. Chris hebt beschwichtigend die Arme und wir gehen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zurück an unseren Tisch.

Chris grinst mich schelmisch an. Noch bevor ich mich wieder hinsetzen kann, hat er sich die angebrochene Flasche Champagner geschnappt und flüstert mir ein verschwörerisches „Komm, lass uns von hier verschwinden“ ins Ohr.

Die Vorstellung, bei ihm zu Hause an der Stelle weiterzumachen, an der wir auf der Treppe aufgehört hatten, lässt meine Libido wild herumhüpfen. Und so sehr ich mir auch wünsche, genau das zu tun, so sehr sollte, nein, so sehr muss ich mir genau in diesem Moment eingestehen, dass ich nach Hause gehöre. Jetzt. Allein.

Er scheint meine Zweifel zu spüren und streicht mir vorsichtig über die Wange.

„Chris“, setze ich an und schmiege dabei mein Gesicht in seine Hand. „Das geht mir alles zu schnell. Der Abend gestern. Das Gespräch in der Küche. Fuck, das eben ...“

„Schon okay“, erwidert er sacht und streicht mir mit dem Daumen über die Lippe, „ich bin gut im Warten.“

Ich löse mein Gesicht aus seiner Hand, was mir alles andere als leicht fällt, und verliere mich kurz in seinen Augen. „Du bist mir wirklich nicht böse, wenn ich jetzt gehe?“

„Nein. Du brauchst sicher Zeit zum Nachdenken, eine Flasche Chardonnay und deine Lieblingsserie auf DVD. Oder streamst du jetzt endlich?“

Fassungslos starre ich ihn an. Er lacht laut auf und wirft dabei seinen Kopf in den Nacken.

„Hey“, beruhigt er sich schließlich, „ich hatte zehn Wochen Zeit dich kennen zu lernen. Da erfährt man schon einiges.“ Er haucht mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Bin gleich wieder da.“ Er stellt die Champagnerflasche ab und geht strammen Schrittes zum Tresen des Cafés.

 

Ein schlechtes Gewissen macht sich in mir breit. Sollte ich jetzt wirklich gehen? Sollte ich nicht vielleicht doch mit zu ihm? Nein, das wäre zu früh. Ich kenne ihn doch kaum. Und doch ...

„Komm, ich fahr dich nach Hause.“

Ich schnappe mir meine Jacke und wir verlassen das Café. Auf dem Weg zum Auto schweigen wir. Mein Gedankenkarussel rast. Wann werde ich ihn wiedersehen? Will ich ihn überhaupt wiedersehen? Oder sollte ich es besser lassen? Immerhin ist er ein Vampir. Fuck, er ist es definitiv. Und er hatte von mir getrunken. Mehr noch, ich hatte mich ihm hingegeben. Und unser kleines Making Out auf der Treppe war so ziemlich das Heißeste, was mir in letzter Zeit widerfahren war.

Ja, ich will ihn wiedersehen. Aber zuerst muss ich mich sortieren. Meine Gedanken in den Griff bekommen.

„Vielleicht nehme ich doch lieber ein Taxi.“

Chris bleibt überrascht stehen. Er zieht die Augenbrauen hoch.

„Es ist nur ...“

„Ich verstehe schon.“ Chris winkt einem vorbeifahrenden Wagen.

Ist dort ein Hauch von Enttäuschung in seinem Tonfall zu hören?

Der Wagen hält neben uns am Bordsteinrand. Bevor ich einsteige, zieht Chris mich in seine Arme. Mit einem tiefen Seufzer drückt er mich an sich. Als er seine Umarmung löst und sein Blick dem Meinen begegnet, findet er beruhigende Worte: „Ich weiß, dass die letzten zwölf Stunden alles andere als normal verlaufen sind. Und dass dir das eine Scheißangst eingejagt haben muss. Ruh' dich aus, Babe. Denk über alles nach und hör auf das Summen in dir. Es wird dir helfen, das alles zu verstehen. Meine Nummer ist in deinem Handy.“ Er haucht mir einen Kuss auf den Haaransatz.

„Ich ruf dich an“, verspreche ich ihm. Dann steige ich ins Taxi und fahre nach Hause.

6 Kapitel

Als ich endlich zu Hause ankomme, schmeiße ich meine Pumps gezielt in die Ecke. Himmel, die taugen wirklich nur zum Ausgehen was. Wie halten die ganzen Tussis das nur den ganzen Tag aus?

Erleichterung durchströmt mich, als ich mich auf mein Sofa plumpsen lasse. Ich atme tief durch und genieße den vertrauten Geruch meiner Wohnung, meiner Ruhezone, wo alles so läuft, wie ich es will, wo sich keiner einmischt, wo ich so sein kann, wie ich bin und wie ich will.

Erst jetzt bemerke ich, dass mir irgendwie alles weh tut. Mein Rücken ist total verspannt und meine Füße unfassbar geschwollen. War das eine Blase am kleinen Zeh?

Verdammt.

Die Bisswunde an meinem Hals, die sich unter meinen Fingern noch leicht erhaben anfühlt, pocht in süßer Erinnerung vor sich hin.

Hmm ...

Ich grinse lüstern in mich hinein. Der Rest meines Körpers sehnt sich einfach nur noch nach Jogginghose und Schlabberpullover. Den Wunsch erfülle ich mir gerne.

Ich raffe mich also vom Sofa auf und tappe in mein Schlafzimmer. Nachdem ich mir bequeme Sachen angezogen habe, Spitzenhöschen und BH gegen Shorty und gar nichts eingetauscht habe, finde ich auf meinem Nachttisch endlich mein Handy wieder. In wilden Farben blinkend kann es meine Ankunft wohl kaum erwarten.

Fuck.

Das Display verkündet mir stolz, dass ich seit gestern Abend fünf Anrufe in Abwesenheit und satte elf neue Nachrichten erhalten habe. Alle von Hailey. Wem sonst.

Hey Babe, mir geht’s irgendwie gar nicht gut. Rufst du mal durch?

(21:02 Uhr)

HUHU! Lies mal meine Nachricht!

(21:05 Uhr)

Okay, vielleicht bist du ja noch unter der Dusche. Macht nichts. Ruf durch, sobald du fertig bist. Knutsch, H.

(21:07 Uhr)

HANNAH?

(21:10 Uhr)

ALLES OK?

(21:11 Uhr)

Ok, Babe, du hast es nicht anders gewollt: Ich komme nicht vom Klo runter. Keine Ahnung, warum. Es kommt oben wie unten raus. Steven hat sogar seinen Flug gecancelt. Sorry ... Ich wollte so gerne mit dir abf

(21:15 Uhr)

Sorry, musste kurz wohin. Jedenfalls bin ich heute nicht mit dabei. Gehst du trotzdem?

(21:22 Uhr)

SACH MA, IGNORIERST DU MICH ETWA?

(21:27 Uhr)

Sorry, wollte dich nicht anschreien. Mir geht’s nur echt mies ...

(21:31 Uhr)

Fuck. Du meldest dich echt gar nicht ... Bist du schon unterwegs?

(21:40 Uhr)

Okay. Sieht so aus, als hättest du dein Handy zu Hause vergessen. LOL. Na, das wirst du noch bereuen ... ;) Wir hören uns morgen früh, oder so. Hab viel Spaß!

(21:52 Uhr)

Die Anrufe kamen jeweils zwischen den Nachrichten.

Mist.

Es scheint sie echt erwischt zu haben. Hailey lässt sich normalerweise nicht so schnell umhauen. Ich erinnere mich an letztes Jahr, als sie allen Ernstes mit Fieber im All in abgegangen ist wie ein Zäpfchen. Der letzte Cubra Libre hatte sie dann allerdings so umgehauen, dass ich fast einen Krankenwagen rufen musste. Zum Glück war ihr Freund Steven in der Stadt. Er brachte sie, nachdem ich ihn angerufen und meine ernsthafte Besorgnis zum Ausdruck gebracht hatte, nach Hause.

Ich setze mich aufs Bett und wähle Haileys Nummer.

„Na, du kleine Partylöwin? Endlich wieder zu Hause?“, meldet sie sich nach nur einem Klingeln zu Wort.

„Jipp, bin wieder da. Sorry, ich hatte echt mein Handy vergessen.“

„Hab ich gemerkt, Babe. Wie war dein Abend?“

„Hmm, eigentlich ganz passabel.“ Innerlich macht sich ein hysterischer Lachanfall breit und ich versuche mit aller Macht, ihn am Ausbrechen zu hindern.

„Ganz passabel?“ Haileys Stimme erhebt sich. „Willst du mich verarschen? Es ist fast zwei Uhr! Also entweder bist du heute Nacht völlig abgestürzt und hast bis eben deinen Rausch ausgeschlafen oder du bist jetzt erst nach Hause gekommen. Ich höre?“

Fuck ...

Hailey war nicht doof.

„Ja, schon gut. Hast mich erwischt.“

Scheiße verdammt. Und jetzt? Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Dass ein heißer Typ mich aus dem Club gezerrt und über Vampirismus in der Stadt aufgeklärt hatte? Dass ich bei ihm übernachtet hatte und ich mich nach einem ausgiebigen Frühstück von ihm hatte beißen lassen? Und scheiße, dass mir dabei fast einer abgegangen ist und ich nur durch den Gedanken daran jetzt noch feucht werde?

„Halloho? Bist du noch dran?“ Hailey klingt etwas irritiert. Ich kann es ihr nicht verübeln.

„Ja, sorry, bin noch dran. Bin gestern ziemlich abgestürzt. Hab keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen bin.“

Bitte glaub es, bitte glaub es ...

Hailey bricht in schallendes Gelächter aus. „Oh Mann, das wurde ja auch mal Zeit. Warst aber nicht alleine, oder?“

Erleichterung durchströmt mich. Sie hat es mir abgenommen. „Tja, weißt du ... Da war schon dieser eine Typ und ... Na ja ...“ Ich grinse ins Telefon. Ein bisschen Wahrheit kann ja nicht schaden.

„Scheiße, du hast jemanden kennengelernt?“ Hailey ist völlig aus dem Häuschen. Und ich kann es ihr nicht verübeln. Meine letzte Beziehung ist fast zwei Jahre her und seitdem habe ich mich selten auf Männer eingelassen und wenn, dann eigentlich auch nur für das eine.

„Ja“, sage ich gedehnt, „irgendwie schon.“

Haileys Lachen ist herrlich erfrischend. Himmel, ich liebe diese Frau und vermisse sie in diesem Augenblick so sehr, dass es fast weh tut.

„Hannah, ich freue mich für dich.“

Ein breites Grinsen legt sich von meinem einen Ohr zum anderen. „Danke“, bringe ich nuschelnd hervor.

„Los sag! Wie sieht er aus?“

Chris? Wie sollte ich ihn beschreiben? Groß, dunkel, dunkelblondes Haar, dass er immer mit dieser einen Bewegung nach hinten streicht, gut aussehend, muskulös, gottgleich? Und dann fallen mir seine Augen wieder ein. Diese Augen ... Die entweder in einem strahlenden Blau vor sich hin leuchten oder sich in einen tiefen dunklen Abgrund verwandeln, wenn er Hunger hat.

„Ähh, gut?“, ist das Einzige, was ich herausbringe.

„Ach Hannah, komm schon. Details?“, harkt Hailey neugierig nach.

„Süße, ich war echt voll.“

Fuck, was sage ich nur?

„Aber gut küssen konnte er.“ Gelogen war das nicht. Ganz und gar nicht. Was er noch alles gut kann, will ich mir lieber nicht ausmalen. Wenn ich an unser kleines Stell-dich-ein auf der Treppe zurückdenke, werde ich immer noch feucht.

„Okay, schon gut. Erzähl‘s mir, wenn du nüchtern bist.“

Ich sehe ihr Zwinkern praktisch durchs Telefon, dass mir just in diesem Moment einen anderen Anrufer ankündigt.

Luke. Mein Chef.

Verdammt.

Was will der denn jetzt?

„Süße, ich muss auflegen. Luke ruft gerade an.“

„Luke?“ Hailey klingt genauso überrascht, wie ich es bin. „Auf nen Sonntag? Hannah, hast du Mist gebaut?“

Mein Herz rutscht mir in die Hose und der Schweiß bricht mir aus. „Ich hoffe nicht. Ich muss auflegen. Ich melde mich später.“ Ich lege auf und nehme Lukes Anruf entgegen.

„Hey Luke. Was gibt’s?“ Ich versuche, so gelassen wie möglich zu klingen.

„Verdammt, Hannah, warum dauert das so lange?“, höre ich Luke in strengem Ton durchs Telefon schnauben.

Mist, das verheißt nichts Gutes. Ich wappne mich innerlich für die nächste Schimpftirade.

„Sorry, ich ...“, will ich gerade ansetzen, aber Luke unterbricht mich harsch.

„Ist auch egal. Ich erwarte Sie in zwanzig Minuten in Ihrem Büro, Hannah.“

„Okay, ich mache mich auf ...“ Doch noch bevor ich den Satz beendet habe, hat er auch schon aufgelegt.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Irgendetwas musste passiert sein. Irgendetwas, das unser letztes Projekt betraf? Nein, das konnte nicht sein. Es war alles in trockenen Tüchern. Alle Dokumente waren unterzeichnet und abgelegt. Die Druckerei hatte alle Dateien erhalten und den Auftrag und das Lieferdatum bestätigt. Genauso wie die TV Clips. Eigentlich war alles okay. Eigentlich.

Ich springe vom Bett auf, ziehe mir eine Jeanshose an und eile in den Flur. Lederjacke und Helm sind innerhalb von zwei Minuten angezogen und aufgesetzt. Mein Motorrad steht im Hinterhof.

Verdammt.

Die Panik in meiner Brust lässt kaum nach. Und wenn doch irgendetwas vergessen wurde? Wenn ich etwas übersehen hatte?

Ich lasse den Motor an und jage vom Hof, jage durch die Straßen und versuche den Kloß in meinem Hals und die aufsteigenden Tränen zu ignorieren. Die Kontrolle über die mächtige Maschine zwischen meinen Schenkeln verleiht mir Sicherheit. Mein Puls beruhigt sich und ich kann wieder klarere Gedanken fassen. Ich glaube, das ist der wahre Grund, warum ich Motorrad fahre. Die meisten Menschen trauen mir das nicht zu. Vermutlich wegen meiner Körpergröße. Doch nach meiner ersten Fahrt mit einem Freund war ich wie besessen. Dieses ekstatische Gefühl, der Geschwindigkeitsrausch. Es war, als wäre ich süchtig. Von jetzt auf gleich.

Ich parke direkt auf dem Bürgersteig vor der Agentur. Sonntags sollte das niemanden stören. Ich öffne die Eingangstür des Gebäudes und gehe im Militärschritt durch die Lobby und direkt zum Treppenhaus. Um auf den Fahrstuhl zu warten, fehlen mir wahrlich die Nerven. Ich haste die Treppen hoch in den zweiten Stock. Vor der Tür zu Pro Visions bleibe ich stehen und versuche, mich zu sammeln. Nach ein paar tiefen Atemzügen öffne ich die Tür. Ich lege Jacke und Helm an der Rezeption ab und gehe schnurstracks den Gang herunter in mein Büro.

Luke ist bereits dort und hat sich mit verschränkten Armen an meinen Schreibtisch gelehnt. Sein Blick verrät mir, dass ich es mal wieder verbockt habe.

Fuck.

„Wissen Sie, Hannah, als ich Sie zum ersten Mal während unseres Bewerbungsgespräches sah, war ich voller Hoffnung. Endlich ein Kopf mit frischen Ideen. Umso enttäuschter war ich, als Sie hier angefangen haben. Ich habe lange an mir gezweifelt, ob ich der Agentur mit ihrer Einstellung einen Gefallen getan hatte. Welche Aufgabe auch immer ich Ihnen geben wollte, alles schien im Sande zu verlaufen. Und dann kam der Deal mit Runner‘s High. Und ihr Auftritt während des ersten Meetings. Ganz ehrlich? Am liebsten hätte ich Sie noch vor der Mittagspause gefeuert.“

 

Ja, das klang alles ganz nach meinem Chef. Ein typischer Luke-Vortrag.

Ich wage es nicht, ihn zu unterbrechen oder zu korrigieren. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung macht sich in mir breit und ich merke, wie sich langsam wieder Tränen in meinen Augen sammeln. Der Kloß in meinem Hals ist zurück und mein Puls rast, als wäre ich gerade nicht mit dem Motorrad hierher gefahren, sondern die komplette Strecke gelaufen.

„Ich war überrascht“, fährt Luke fort, „als die Manager ihre Idee für gut befanden und wir unsere komplette Kampagne auf ihren Visionen aufbauten. Tja, ich muss ehrlich zugeben, dass Sie wirklich gute Arbeit geleistet haben. Ich habe mein Team lange nicht mehr mit solch einer Begeisterung arbeiten sehen.“

Ein Kompliment? Aus Lukes Mund? Ich schlucke. Ich glaube, das gab es noch nie. Umso mehr steigt jetzt die Panik in mir auf, denn das konnte unmöglich alles gewesen sein.

„Lief doch gut, oder? Alles erschloss sich zur vollsten Zufriedenheit von Runner‘s High und seinem bekannten Werbeträger.“

Ein hämisches Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht.

Ich schlucke erneut.

„Tja. Und dann schaue ich vorhin auf seinen Twitter-Account und stelle fest, dass unsere Werbekampagne doch glatt eine Woche früher gestartet ist als vereinbart.“

Verwirrung macht sich in mir breit. „Was meinen Sie damit?“

„Was ich damit meine? Ihr verdammter Ex, das Werbegesicht unserer Kampagne, hat auf Twitter preisgegeben, dass er eine große Sache mit Runner‘s High am Start hat“, donnert Luke los, wobei er die letzten Worte mit einer Theatralik ausdrückt, die seinesgleichen sucht. Lukes Gesicht ist wutverzerrt.

„Aber wir haben doch eine Verschwiegenheitsvereinbarung“, erwidere ich. „In der ist genau festgelegt, ab wann und vor allen, worüber er sich äußern darf.“

„Ja. Die haben wir.“ Lukes Stimme klingt unheilvoll. „Und wo ist die, wenn ich fragen darf?“

„Zusammen mit den anderen Unterlagen in der Akte?“, frage ich vorsichtig nach.

Sein Blick wird finster. „Leider nein.“

Verdammt.

Das konnte gar nicht sein. Ich war mit Martin alle nötigen Unterlagen durchgegangen. Mehrmals. Selbstverständlich auch in Anwesenheit seines Anwalts. Es konnte einfach nicht sein, dass dieses wichtige Dokument fehlte.

„Vielleicht sehen Sie lieber selbst noch einmal nach.“ Luke tritt von meinem Schreibtisch weg, so dass ich genug Platz habe, die sich türmenden Papierstapel zu inspizieren.

Jetzt rächt sich meine Champagnerlaune vom Freitag und die Unlust, den Papierberg doch noch abzuheften. Ich beuge mich über meinen Schreibtisch und blättere die einzelnen Stapel durch.

Bitte lass sie da sein!

Plötzlich streicht ein kleiner Luftzug mein Ohr. Ich drehe mich um und zucke zusammen. Luke. Er steht keinen halben Meter vorn mir entfernt.

„Weißt du, was ich in deinen ersten Tagen hier am meisten genossen habe?“ Er sieht mich mit einem undurchdringlichen Blick an.

Ich kralle meine Hände in die Schreibtischplatte und halte die Luft an. „Deine Demut. Du kamst hier echt an mit der Vorstellung, die Welt verändern zu können. Aber den Zahn habe ich dir schnell gezogen. Du musstest erstmal auf dem Boden der Tatsachen ankommen, bevor du für uns arbeiten konntest. Was du dann geleistet hast, war zugegeben ziemlich eindrucksvoll.“

Er kommt einen Schritt näher auf mich zu. Unsere Gesichter sind nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und sein Aftershave steigt mir in die Nase.

Mir wird schlecht. Panik wallt in mir auf und ich verspüre den dringlichen Drang, ihn einfach von mir fortzustoßen und das Weite zu suchen. Aber ich bin wie gelähmt. Kann mich nur an meiner Schreibtischplatte festhalten. Und atmen.

Atme Hannah!

In diesem Moment wird mir bewusst, dass er mir so nahegekommen ist, dass ich ihn spüre. Eine harte Beule drückt sich fordernd gegen mein Becken.

Bitte nicht ...

„Ich weiß Sie mittlerweile sehr zu schätzen, Hannah.“ Er beugt sich vor und ich spüre seinen Atem an meinem Ohr.

Ich schlucke und versuche nicht zu taumeln, obwohl meine Knie nachzugeben drohen.

„Und manchmal hege ich die Hoffnung, dass Sie mich auch schätzen.“ Er streicht mit seiner Hand zärtlich über mein Gesicht. Sein Mittelfinger umkreist mein Ohr und wandert langsam an meinem Hals herunter, bis er schließlich auf einer kleinen roten Stelle zum Liegen kommt. Eine Stelle, die an meine erste Begegnung mit Chris' Reißzähnen erinnert.

Chris. Ich wünschte, er wäre hier.

„Aber Hannah, Sie summen ja“, haucht er in mein Ohr.

Fuck!

Was hatte er gerade gesagt? Er kann unmöglich vom Summen gesprochen haben. Erschrocken reiße ich mich aus meiner Starre und drehe mich zu seinem Gesicht. Nur Millimeter trennen unsere Lippen. Ich blicke in tiefe dunkle Augen, die von einem wissenden Grinsen umrahmt sind. Dieses Dunkel erinnert mich an ... Chris?

Was zum Teufel ...

Mit einer plötzlichen Bewegung greift Luke hinter mich auf den Schreibtisch. „Ach, da ist sie ja.“ Er lässt von mir ab und wedelt mit der Verschwiegenheitsvereinbarung vor meinem Gesicht herum.

Ich bin völlig perplex und durcheinander, bringe aber ein kleinlautes „Hab ich doch gesagt“ hervor.

„Tja, dann will ich mich mal mit Martins Anwalt in Verbindung setzen. Ich hoffe doch sehr, dass wir uns außergerichtlich einigen können. Wäre ja zu schade, wenn unsere Kampagne gleich mit so einem Skandal starten würde, oder?“ Seine Stimme trieft gerade zu vor Sarkasmus. Vergnügt schlendert Luke aus meinem Büro. „Wir sehen uns dann morgen, Hannah!“, flötet er.

Ich stehe noch immer wie gebannt an meinem Schreibtisch. Mein Puls rast. Was zur Hölle war hier gerade passiert? Hastig eile ich aus meinem Büro und erinnere mich gerade noch an Jacke und Helm. Mit zittrigen Schritten eile ich durchs Treppenhaus, haste durch die Lobby und reiße die Türen nach draußen auf. Ich schwinge mich auf meine Maschine, starte den Motor und will nur noch eins: Weg von hier.

Ich lege den Gang ein und drehe den Gasgriff. Als ich über meine Schulter schaue, um mich zu versichern, dass die Straße frei ist, sehe ich aus den Augenwinkeln eine dunkle Gestalt auf mich zu hasten.

Unmöglich.

Ich drehe am Griff und bin weg.

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