White Moon

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3 Kapitel

Verdammte Scheiße!

Ich haste nach vorne und versuche noch, sie aufzufangen. Doch ich bin zu spät. Ihr Körper fällt ungebremst auf den harten Asphalt.

Fuck!

Ich stoße einen rüden Fluch aus und hebe sie vorsichtig hoch. Wie leicht sie doch ist. Und wie zerbrechlich.

Ach, Hannah ...

Ein metallischer Geruch steigt mir in die Nase.

Nein, das konnte nicht wahr sein!

Über ihrer rechten Schläfe ist eine tiefe Wunde zu sehen. Eine tiefe blutende Wunde. Meine Sinne reagieren prompt.

Verdammt.

Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht so.

Ich versuche, mich zu beruhigen, tief durchzuatmen. Leicht ist das nicht gerade. Ich beiße meine Kiefer fest aufeinander und versuche, mich auf meinen Herzschlag zu konzentrieren. Er rast.

Fuck!

Hannah war schon immer das Köstlichste, was mir je begegnet ist. Und jetzt rinnt ihr Blut keine zwanzig Zentimeter von meinen voll ausgefahrenen Reißzähnen entfernt ihre Schläfe herunter. Wenn das mal keine Zerreißprobe ist.

Vorsichtig trage ich sie zu meinem Audi, den ich nicht weit von hier geparkt habe. Die Luft ist geschwängert vom Duft ihres Blutes.

Konzentrier' dich, Chris!

Wie leicht es wäre, einfach in einer Seitenstraße zu verschwinden und mir das zu nehmen, was ich jetzt am dringendsten bräuchte.

Fuck!

Ich hätte vielleicht doch nicht Nein sagen sollen zu dem Blutbeutel, den Liam und Angel mir heute Morgen angeboten hatten. Seit ein paar Tagen schon hatte ich nichts mehr getrunken. An sich kein Problem, denn heute war ja der Tag. Doch alles war etwas anders gelaufen, als geplant. Was musste Eric auch ausgerechnet heute Nacht hier auftauchen? Das Gemetzel, das er jedes Mal zulässt, wenn er im All in ist, wollte ich ihr nun wirklich ersparen. Außerdem wurde es vielleicht langsam Zeit, dass ich sie über ihr Schicksal aufkläre. Verdammt, daran konnte ich jetzt nicht auch noch denken.

Behutsam setze ich sie in mein Auto, schnalle sie an, stelle den Sitz so weit wie möglich zurück. Blut tropft auf ihre Jacke. Ich schlucke.

Ich fahre auf direktem Weg zu unserer Wohnung. Die Fahrt dauert nicht lange und doch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Ihr Geruch ist überall. Hat sich in meiner Nase festgesetzt. Auf meinen Lippen. Ich schlucke.

Bleib bei der Sache, Chris!

Ich parke das Auto in unserem Hinterhof und trage sie vorsichtig nach oben. Sie hat sich bisher immer noch nicht gerührt. Ihre Atmung geht flach, aber gleichmäßig.

Meine Sorge frisst mich fast auf. Hoffentlich hat sie keine Gehirnerschütterung oder so.

Ich knalle die Tür zu unserer Wohnung auf. Liam und Angel kommen gackernd aus ihrem Zimmer. Nackt. Provokativ lehnen sie sich in den Türrahmen, ohne ihre Blöße zu verstecken. Auf dieses Spiel hatte ich nun wahrlich keinen Bock.

„Na, Bruderherz, was bringst du denn da mit nach Hause?“ Amüsiert mustert uns Liam von oben bis unten.

„Endlich bringst du sie mal mit“, zwinkert Angel mir zu. „Allerdings ... Wow, Chris ist alles okay?“ Besorgnis schleicht sich in ihren Blick, als sie die reglose Hannah in meinen Armen erblickt.

Als schließlich auch Liam meine dunkel verfärbten Augen erkennt, schalten sie beide. Angels Pupillen weiten sich. „Fuck, sie blutet.“

Ich nicke. Meine Kiefer mahlen aufeinander. Nur mit Mühe kann ich an mich halten. Angespannt lehne ich mich an die Wand.

„Dann ist das mein Stichwort.“ Ohne auch nur einen weiteren Blick auf uns zu werfen, verschwindet Angel in Liams Zimmer. Ich kann es ihr nicht übel nehmen. Verzweifelt wende ich mich an Liam.

„Ich zieh' mir was an.“

Dankbarkeit durchflutet mich in kühlen Wellen, als Liam mir nach einer gefühlten Ewigkeit in Trainingshose entgegenkommt und Hannah aus meinen Armen nimmt.

„Sie ist auf den Asphalt gestürzt. Hat sich verletzt“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mein ganzer Körper zittert. Ich halte mich an der Wand fest. Ihr Blut hat eine so verdammt krasse Wirkung auf mich.

„Schon gut. Ich kümmere mich um sie. Geh duschen. Und trink endlich was!“ Mit diesen Worten trägt Liam sie in mein Zimmer.

4 Kapitel

Ich erwache in einem Zimmer, das ich nicht kenne. In Bettwäsche, die nicht nach mir riecht. Und in einem riesigen Shirt, das nicht mir gehört. Vorsichtig setze ich mich auf. Der spitze Schmerz in meinem Kopf verheißt nicht Gutes. Als würde sie mich verhöhnen, scheint auch noch die Sonne in voller Pracht ins Zimmer.

Wo zum Teufel war ich?

Als hätte jemand meine Gedanken gehört, klopft es auch schon an der Tür.

Chris.

Behutsam guckt er ins Zimmer, sieht, dass ich wach bin, und tritt schließlich ein.

„Guten Morgen, Sonnenschein.“ Dieses Grinsen. Für einen kurzen Moment kribbelt es wie verrückt in meinem Bauch.

„Morgen“, bringe ich nuschelnd hervor. „Wo bin ich?“

„Bei mir zu Hause. Kaffee?“

Ich nicke.

„Brauchst du Milch?“

Ich nicke erneut. Und starre ihn an. Hatte er gestern auch schon so gut ausgesehen? Diese Augen. Diese Gesichtszüge. Diese Wangenknochen. Und diese verdammt vollen Lippen, eingerahmt von einem leichten Dreitagebart, der einen etwas dunkleren Ton aufweist als seine dunkelblonden Haare, die er auch heute leicht nach hinten gestylt hat. Ich schlucke.

„Bin gleich wieder da.“

Ich reibe mir vorsichtig über Augen und Schläfen. Was auch immer er mir gestern in den Drink getan hatte, musste echt ein fieses Zeug gewesen sein. Ich fühle mich, als hätte mich ein Bus überfahren. Moment, klebt da ein Pflaster an meiner Stirn?

Und dann fällt es mir wieder ein. Mein Abgang. Mein Taumeln. Mein Sturz. Ich brauche dringend einen Spiegel. Bitte lass mich nicht so schlimm aussehen, wie ich mich fühle.

Mit einem Ruck schwinge ich mich aus dem Bett. Und bereue es sofort. Alles dreht sich und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich zurück ins Bett fallen zu lassen.

Fuck.

In meinem Kopf hämmert ein Presslufthammer.

„Einmal Kaffee mit Milch.“ Chris steht grinsend im Türrahmen.

Dankend nehme ich die dampfende Tasse entgegen und trinke einen kleinen Schluck. „Der Kaffee ist gut.“ Etwas Geistreicheres fällt mir im Moment nicht ein.

Chris wirkt besorgt. „Wie geht’s dir heute Morgen?“ Langsam kommt er auf mich zu und setzt sich auf die Bettkante. „Du hast gestern ganz schön was abbekommen.“

„Hmm. Das hast du mitbekommen, ja?“

„Ich stand praktisch neben dir, als du gefallen bist.“

„Und du bist nicht auf die Idee gekommen, mich aufzufangen?“ Ich bereue meine Worte augenblicklich. Er konnte ja nun wirklich nichts dafür.

Chris schnappt nach Luft. „Es ist nicht so, dass ich es nicht versucht hätte, aber du warst leider nicht ganz in Reichweite. Und ...“

„Schon gut“, falle ich ihm ins Wort. „Du trägst keine Schuld daran.“ Ich nippe an meinem Kaffee. „Danke, dass du dich um mich gekümmert hast.“

Eine leichte Röte steigt ihm ins Gesicht. War er etwa ...

„Wie spät ist es?“, frage ich nach, bevor die Situation noch unangenehmer wird. Der Sonne nach müsste es schon fast Mittag sein.

„Es ist kurz nach zehn“, klärt Chris mich auf. „Und das Serum sollte deinen Organismus bald verlassen haben.“

Ich verschlucke mich an meinem Kaffee.

Serum? Organismus?

Und dann kehren meine Erinnerungen schlagartig zurück. Das All in. Meine Suche nach Hailey. Unsere seltsame Flucht aus dem Club. Unser Gespräch auf der Brücke. In der Bar.

All das war wirklich passiert.

Und dieses Summen.

Vorsichtig horche ich in mich hinein. Es war immer noch da ...

Erschrocken blicke ich ihn an.

„Chris, ich ...“, stammle ich.

„Ich weiß. Ich ...“ Weiter kommt er nicht.

Zwei mir völlig unbekannte Personen betreten das Zimmer und beenden unser Gespräch. Chris verdreht die Augen und murmelt ein „Sorry“ in meine Richtung.

„Guten Morgen ihr beiden!“ Ein junger Typ steht in Boxershorts und freien Oberkörper im Türrahmen. Er hat den Arm um eine nicht minder bekleidete Brünette gelegt und zeigt das gleiche schelmische Grinsen wie ... Chris?

„Hey Liam. Darf ich vorstellen?“, fragt er an mich gewandt. „Mein Bruder.“

„Hey Sweety, endlich lerne ich dich mal kennen.“ Er zwinkert mir zu.

„Und die andere Halbnackte ist Angel“, fährt Chris fort, „seine ...“

„Seine gar nichts“, fällt Angel ihm ins Wort, „wir ficken nur.“

Liam blickt schmunzelnd zu Boden. Dann reißt er Angel in einer ausladenden Bewegung an sich und küsst sie. Wenn mich nicht alles täuscht, sehe ich Zungen aufblitzen ...

„Himmel, Leute, echt jetzt“, murrt Chris, „euer Zimmer ist den Gang runter links.“

„Wissen wir, Chris“, schnurrt Angel während einer kurzen Atempause, „aber ich bin noch viel zu wund, um da weiterzumachen, wo wir gerade aufgehört haben.“

Ich verschlucke mich erneut an meinem Kaffee und sitze hustend im Bett.

„Beruhig dich, Sweety“, murmelt Liam und beendet endlich den Kuss mit Angel. „Wir wollten nur kurz Hallo sagen. Treffen wir uns nachher beim Frühstück?“

Er nimmt Angel bei der Hand, zwinkert mir erneut zu und verschwindet mit ihr den Gang herunter.

 

„War das wirklich ...“, fange ich an.

„Jipp, das war wirklich mein Bruder. Und seine, na ja, nennen wir es mal Bettgespielin.“

„Nicht seine Freundin?“

„Nein.“ Chris schüttelt den Kopf. „Sie bestehen beide darauf, dass sie kein Paar sind.“

„Warum denn das?“

„Das erkläre ich dir ein anderes Mal. Erstmal nimmst du das hier und eine heiße Dusche.“ Er drückt mir eine kleine weiße Tablette in die Hand und für einen Moment steigt Panik in mir auf.

„Keine Sorge, das ist nur 'ne Aspirin. Deine Klamotten hat Roberta für dich gewaschen. Du findest sie im Bad.“

„Die Klamotten oder Roberta?“ Jetzt ist es an mir, zu grinsen. Der hämmernde Kopfschmerz lässt mich dies aber augenblicklich bereuen.

„Witzig“, zwinkert mir Chris zu, dem mein schmerzverzerrtes Gesicht nicht entgangen ist.

„Danke“, nuschle ich, „und wer ist Roberta? Ist sie auch ein ...“ Ich wage nicht, das Wort in den Mund zu nehmen. Den ganzen Morgen schon wirbelt es in meinem Kopf herum. Wenn Chris einer ist, dann Liam garantiert auch. Und Angel. Und folglich vielleicht auch ...

Oh Himmel! Das ist doch absurd.

„Nein, sie ist kein Vampir. Sie ist Puerto Ricanerin und die gute Seele unseres Hauses. Na ja, unserer Wohnung. Sie trägt das Herz auf der Zunge und stellt nicht allzu viele Fragen. Den Rest bemerkst du schon noch, wenn du ihr begegnest. Das Bad befindet sich den Gang runter rechts.“

„Du meinst gegenüber von ...?“

„Ja, genau. Hör einfach nicht hin. Man gewöhnt sich mit der Zeit daran.“ Mit diesen Worten steht er vom Bett auf und verlässt das Zimmer. „Ich bin in der Küche.“

Der Tag schien verheißungsvoll zu werden.

Das Bad ist mehr, als man von einem Badezimmer einer Wohnung erwartet hätte. Sowohl eine geräumige Dusche als auch eine Badewanne finde ich vor. Alles ist aus edlem weißen Marmor. Das Doppelwaschbecken verfügt sogar über indirektes Licht.

Nicht schlecht.

Auf einer kleinen hölzernen Truhe finde ich meine Hose, mein Spitzentop und, herrje, sogar meine Unterwäsche. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich eine eng anliegende Boxershorts trage.

Verdammt.

War das etwa seine? Ich beschließe, lieber nicht danach zu fragen, und denke auch lieber nicht darüber nach, wie sie an meinen Körper gekommen ist.

Stattdessen stelle ich mich in die Dusche und lasse das Wasser an. Vorsichtshalber dränge ich mich in die äußerste Ecke der Kabine, doch anstatt kalten Vorwassers läuft es direkt in einer angenehm warmen Temperatur aus der Düse.

Die heiße Dusche tut gut. Es fühlt sich fast an, als würde ich all den Frust von gestern, allen Stress und Ärger abwaschen und zum Abfluss hinunter spülen.

Nachdem ich mich abgetrocknet und angezogen habe, die Klamotten duften herrlich, sehe ich mich nach einer Bürste für meine Haare um. Als hätte Roberta meine Bedürfnisse vorausgeahnt, liegen im Spiegelschrank über dem Waschbecken in einem Utensilio mit der Aufschrift Hannah eine neue Bürste, Schminkutensilien und, dem Himmel sei dank, eine neue Zahnbürste bereit. Sogar einen neuen Föhn finde ich im Unterschrank des Waschbeckens.

Eine ganz passabel aussehende Hannah schaut mir im Spiegel entgegen. Durch das Wasser ist allerdings das Pflaster an meiner Stirn völlig aufgeweicht. Gebannt ziehe ich es ab. Ein hässlicher Kratzer kommt zum Vorschein, umgeben von einer rötlichen Beule.

Das wird bestimmt noch schön blau.

Dann mache ich mich auf den Weg in die Küche. Schwer zu finden ist sie nicht. Das Stimmengewirr ist zu hören, noch bevor ich die Tür vom Badezimmer vollständig geöffnet habe. Leise trete ich auf den Flur und lausche.

„Himmel, Chris, hast du sie immer noch nicht verwandelt?“, höre Liam fragen.

„So schwer ist das nicht, weißt du“, stimmt Angel ihm zu. „Nur ein kurzer Biss hier, ein bisschen Blut da, ein kleiner Tod und: Tadda! Ein neuer Vampir ist geboren.“

„Ich weiß, wie das mit der Transformation funktioniert“, erwidert Chris genervt. „Ich will sie nur erst kennen lernen, bevor ich sie verwandle.“

„Wovor hast du solche Angst?“, fragt Angel genervt. „Ich meine, ihr seid Seelenpartner. Was soll passieren?“

„Na ja“, erwidert Liam, „mir würde da schon was einfallen.“

Ein bisschen schäme ich mich, dass ich hier so reglos auf dem Flur herumstehe. Ob ich mich vielleicht doch bemerkbar machen sollte?

„Hannah, ich weiß, dass du vor der Tür stehst. Komm ruhig rein.“

Chris.

Wie hatte er das nur bemerkt?

„Guten Morgen nochmal“, begrüße ich alle schüchtern.

Angel und Liam sitzen am Frühstückstisch und haben diesmal glücklicherweise mehr Klamotten an als vorhin. Chris steht mit einer Tasse Kaffee in der Hand an den Küchentresen gelehnt. „Setz dich doch.“

Der Tisch ist herrlich gedeckt und lässt an nichts mangeln. Von frischen Brötchen über Eier, Obst und Joghurt, an alles ist gedacht. Schade nur, dass mir nach den kurzen Gesprächsfetzen der Appetit vergangen ist. Um mir nichts anmerken zu lassen, greife ich wenigstens nach einer Tasse und gieße mir den nächsten Koffeinkick ein.

„Also, Hannah“, sagt Angel kauend zu mir „was meinst du, warum er dich noch nicht verwandelt hat?“

Gebannt starre ich in meinen Kaffee und beobachte die kleinen Blasen, die beim Eingießen der Milch entstanden sind und jetzt langsam vor meinen Augen zerplatzen. Es dauert einen Moment, bis ich meine Sprache wieder finde. „Verwandelt hat?“

Drei Augenpaare schauen mich todernst an. Dann wenden sich zwei dieser Augenpaare an Chris.

„Ich dachte“, fängt Liam an.

Chris reibt sich genervt über die Augen. „Fuck, so weit war ich noch nicht.“

Angel lacht genervt auf. „Echt jetzt? Du triffst sie seit Wochen und sie weiß noch nichts über ihr Schicksal?“

Betreten schaut Chris zu Boden.

„Welches Schicksal?“, frage ich so ruhig nach, wie ich es in dieser Situation eben aufbringen kann.

„Welches Schicksal?“ Angels Tonfall wird zunehmend gereizt.

„Okay, Angel, genug. Ich denke es liegt an mir, ihr alles zu erzählen. Und das werde ich garantiert nicht hier tun.“ Chris‘ Stimme lässt keine weiteren Widerworte zu.

„Ich finde, sie sollte ausreden.“

Chris funkelt mich an.

Ich versuche, möglichst gelassen an meinem Kaffee zu nippen.

Das Grinsen auf Angels Gesicht strahlt eine gewisse Selbstzufriedenheit aus. Hoffentlich hatte ich nicht zu sehr ins Hornissennest gestochen ...

„Also, pass auf: Du und Chris seid füreinander bestimmt. Er weiß das und du auch. Oder willst du mir weiß machen, dass du das Summen in deinem Körper nicht hörst? Ich kann es sehen. Es leuchtet in deinen Augen. Und als eine der älteren Vampirinnen kann ich es sogar hören.“

Sie macht eine kurze Pause und wartet meine Reaktion ab. Ich bin sprachlos.

„Seid zehn Wochen drückt sich Chris schon davor, dich zu verwandeln. Und dass, obwohl er weiß, dass es keinen Weg drum herum gibt. Und so langsam stellen wir uns einfach die Frage, worauf er wartet?“

Das war viel. Viel Bedeutung für wenige Worte. Das Summen in mir konnte ich nicht abstreiten. Es war ... einfach da. Allgegenwärtig. Wie ein stiller Begleiter, den ich seit der Begegnung mit Chris nicht mehr ablegen konnte. Aber was sie da von verwandeln gesagt hatte ...

„Angel, Baby, meinst du nicht, das war ein bisschen zu direkt?“, bricht Liam schließlich das Schweigen.

„Wieso?“, erwidert sie bissig, „war doch längst an der Zeit, dass jemand sie mal aufklärt. Und dieser eine bestimmte jemand“, ein vorwurfsvoller Blick fliegt in Richtung Chris, „schiebt es seit zehn Wochen vor sich her.“

„Angel, das reicht.“ Chris‘ Stimme ist ruhig, aber bestimmt. „Ich denke, alles Weitere geht nur Hannah und mich etwas an.“

„Ach, komm schon, Chris.“ Angel erhebt sich vom Tisch. Ein Funkeln ist in ihren Augen zu sehen.

Ich nippe lieber weiter an meinem Kaffeebecher.

„Wir alle wissen, dass es für dich unerträglich wird, wenn du sie nicht verwandelst, noch unerträglicher, als es ohnehin schon ist. Verdammt sei doch froh, dass du sie endlich gefunden hast. Ihr beiden werdet die Zeit eures Lebens haben, aber dafür muss sie eine von uns werden!“

„Genug!“ Chris starrt Angel finster an.

Diese hebt beschwichtigend die Hände und setzt sich wieder, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

„Hannah, lass uns doch lieber in der Stadt frühstücken gehen“, schlägt Chris vor, ohne den Blick von Angel zu nehmen.

„Klar“, nuschle ich in meinen Kaffeebecher. „Du weißt aber schon, dass draußen die Sonne scheint?“

Fragend schaut er mich an.

Angel kichert leise vor sich hin. Sie schaltet schneller, als ich erwartet hätte. Vielleicht freunden wir uns doch noch an.

„Da macht sich jemand wohl schon länger Gedanken über Vampire“, wirft Liam glucksend ein.

Nun schaltet auch Chris. Ein Grinsen legt sich auf sein Gesicht. „Weißt du, wir sind geborene Vampire. Die Sonne macht uns nichts aus.“

5 Kapitel

Wir fahren mit seinem schwarzen Audi in die Stadt. Der Wagen liegt wie ein Brett auf der Straße und der Motor schnurrt vor sich hin. Sein Inneres ist erfüllt mit Chris' Geruch und ich schwelge dahin. Ich habe meinen Ellenbogen ans Fenster gelehnt und stütze mein Kinn auf die Hand. Nachdenklich blicke ich aus dem fahrenden Auto, während wir durch die Straßen fahren. Nur wenige Menschen sind an diesem Sonntagmorgen unterwegs.

Chris reißt mich aus meinen Gedanken. „Ist alles okay?“, fragt er in seinem maskulinen Basston und schaut dabei mit erhobenen Augenbrauen zu mir rüber. „Du bist so ruhig.“

„Alles ok. Ich bin nur etwas nachdenklich.“

Wie könnte ich auch an irgendetwas anderes denken, als an die Geschehnisse der letzten zwölf Stunden? Vampire? Hier? Jetzt mal ehrlich ...

Ich komme mir ein wenig vor wie in einem schlechten Film. Aber dieser kleine Summton in mir lässt sich nicht leugnen. Und er versichert mir, erneut, dass ich all dem hier Glauben schenken darf. Zugegeben, mein Wissen über Vampire war eher rudimentär und klaffte mit dem, was ich bisher von Chris und den anderen beiden erfahren hatte, weit auseinander. Nicht, dass ich mich je für Vampirismus interessiert hätte. Mein Buchgenre war bisher eher die klassische Frauenliteratur.

„Was hast du vorhin gemeint, als du sagtest, ihr seid geborene Vampire. Ich dachte immer, Vampire können keine ... Na ja, also ... Sie können nicht ... Also sich nicht fortpflanzen, sondern nur andere erschaffen oder so. Eben durch ihre Bisse.“

Himmel, ich fasele vor mich hin. Je mehr Wörter aus mir heraussprudeln, desto lächerlicher klinge ich. Wie sehr würde ich es in diesem Moment begrüßen, wenn der Boden sich einfach unter mir auftäte, damit ich darin versinken kann. Chris amüsiert sich sicher königlich.

Doch als ich einen verstohlenen Seitenblick wage, um seine Reaktion in seinem Gesicht ablesen zu können, ruht sein Blick nur konzentriert auf der Straße.

„Wer behauptet denn, Vampire können keine Kinder bekommen?“

Fuck.

Er blieb wirklich ernst. Kein Auflachen, kein vorwurfsvoller Blick, kein Sarkasmus.

„Ähh, die Literatur?“

„Hmm. Die Belletristik also. Na gut, dann kläre ich dich jetzt mal auf.“ Seine Stimme ist ruhig und gefasst, kein Unterton herauszuhören. „Vampire gibt es schon ziemlich lange, fast schon so lange, wie es Menschen gibt. Viele Jahre haben wir im Verborgenen gelebt, doch das wurde mit der Industrialisierung zunehmend anstrengender, so dass wir schließlich andere Wege finden mussten. Seitdem leben wir unter euch, gehen meist sogar normalen Jobs nach. Wir haben unser Leben soweit angepasst, dass wir praktisch nicht auffallen. Nur das mit dem Sonnenlicht war quasi schon immer ein Problem. Und das mit dem Blut.“

Er zwinkert mir zu.

„Ein paar von uns fällt es schwer, sich zu kontrollieren, was das Leben unter Menschen natürlich nicht einfach macht. Gegen das Sonnenlicht haben wir für die Transformierten ein Serum entwickelt. Nehmen sie es regelmäßig, verbrennen sie in der Sonne nicht. Für uns geborene Vampire war Sonnenlicht nie ein Problem.“

Noch bevor ich Zeit habe, etwas zu erwidern, fährt er fort: „Ja, Vampire können Kinder bekommen. Idealerweise finden sich dafür zwei geborene Vampire. Die Kombination aus Geborenem und Transformierten ist dafür eher ungünstig, aber unmöglich ist es nicht. Unsere Kinder kommen selbstverständlich ebenfalls als Vampire zur Welt und wachsen genauso wie eure Kinder auf. Nur sind sie meist etwas wilder und impulsiver und werden direkt als Abhängige geboren. Na ja, eigentlich ähnlich wie ihr.“

 

Wir halten vor einer roten Ampel.

Ich denke nach. In meinem Kopf rattert es. Ich kneife die Augenbrauen zusammen und schauen ihn fragend an.

„Wie meinst du das?“

„Jeder ist von irgendetwas abhängig“, erklärt Chris weiter, „und so wir ihr Menschen von der Sonne und Wasser abhängig seid, so sind wir Vampire auf Blut und den Mond angewiesen.“

Das bringt mich noch mehr zum Grübeln. „Okay, Blut verstehe ich ja, aber eine Abhängigkeit vom Mond?“

„Weißt du, eigentlich ist es ganz logisch. Wir Vampire sind Wesen der Nacht und auch wenn es uns auf Grund unseres Geburtsstandes oder Einsatzes von Technologien möglich ist, im Sonnenlicht zu wandeln, so fühlen wir uns bei Nacht immer noch am wohlsten. Die meisten Vampire haben ihren Tagesrhythmus dem der Menschen angepasst. Aber es gibt immer noch kleine Gruppen, die das Tageslicht meiden und ihr Leben im Schein des Mondes führen.“

Das ergibt Sinn. Irgendwie.

„Sorry, ich hatte keine Ahnung. Das ist ... Nun ja, das ist viel mehr, als ich erwartet hätte. Das klingt, als hättet ihr eine eigene Geschichte, die sogar Jahrtausende alt ist?“

„So ist es.“

„Seid ihr trotzdem unsterblich?“

Fuck, die Frage konnte ich mir einfach nicht verkneifen.

Chris lacht laut auf. „Hannah, niemand ist unsterblich. Auch Vampire können sterben. Zugegeben, wir werden ziemlich alt, weil unser Alterungsprozess extrem verlangsamt ist. Das erklärt auch, warum sich unser Aussehen im Laufe der Jahre nur langsam verändert. Trotzdem ist noch niemand an Altersschwäche gestorben.“

„Darf ich fragen, wie alt du bist?“ Ich platze fast vor Neugier.

„Fragen darfst du schon.“ Er grinst in sich hinein.

Chris parkt den Wagen in einer Seitenstraße, die mit ihrer Grünbepflanzung fast wie eine kleine Allee wirkt. Das Café, in das er mich führt, wirbt mit einem herrlichen Frühstücksangebot.

Wir suchen uns einen etwas abseits gelegenen Tisch und bestellen ein ausgiebiges Frühstück, das nur kurze Zeit später auf einem Servierwagen herangefahren wird. Ein Kellner bringt uns außerdem eine Flasche Champagner und Erdbeeren. Fragend werfe ich einen Blick zu Chris, der nur belustigt mit den Schultern zuckt.

„Fehlt ja nur noch die Sahne“, murmle ich vor mich hin, während der Kellner alles auf unserem Tisch abstellt.

„Tut mir aufrichtig leid, Miss. Ich bringe Ihnen die Sahne sofort.“ Und schon eilt er davon.

Chris prustet los.

„Mist, hab ich das etwa laut gesagt?“

„Hmmm“, murmelt Chris zustimmend, „unser Kellner scheint neu hier zu sein und dementsprechend wohl etwas, na sagen wir überbemüht.“ Grinsend schiebt er sich eine Erdbeere in den Mund.

„Bist du öfter hier?“, frage ich und suche mir eins der Brötchen aus.

„Eigentlich nicht. Vampire gehen nicht so oft Essen, weißt du.“

Neugierig schaue ich von meinem Brötchen auf.

„Nun, versteh mich nicht falsch“, fährt er fort. „Unser Hunger wird nur auf eine Weise gestillt, aber ein kleiner Snack gegen den Appetit hat noch keinem geschadet.“ Er zwinkert mir zu und nimmt sich eine weitere Erdbeere.

Ich träufle etwas Honig auf mein Brötchen. „Woher weißt du dann, dass der Kellner neu hier ist?“ Ich beiße vorsichtig ab und könnte vor Genuss dahinschmelzen. Himmel, war das lecker. Das Letzte, was ich gegessen hatte, war gestern Abend ein Rest der Fettuccine, die ich zum Mittagessen hatte. Erst jetzt bemerke ich, wie hungrig ich bin.

„Nur beobachtet. Er huscht wie ein nervöses Wiesel durch die Gegend und der Chef hat ihn schon mehrfach angefahren. Ergo: neu hier.“

Wie auf sein Stichwort erscheint der Kellner mit einer Schale Sahne.

„Danke.“ Ich lächle ihn freundlich an und habe ein wenig Mitleid mit ihm. Mit Stress auf der Arbeit kenne ich mich schließlich auch aus.

Nachdem ich mein Honigbrötchen verspeist und eine weitere Tasse Kaffee getrunken habe, kann ich meine Neugier und Nervosität nicht länger zurückhalten.

„Chris?“, setze ich vorsichtig an. „Ich glaube, du schuldest mir noch eine Erklärung.“

Nun ist es an ihm, von seinem Brötchen aufzublicken und mir in die Augen zu sehen. Langsam schluckt er seinen letzten Bissen herunter und wischt sich den Mund mit einer Serviette ab.

„Ich weiß, dass das alles mit Worten nur schwer zu fassen ist“, fängt er zögerlich an. „Darum bitte ich dich, hör auf dein Summen.“

Das Summen.

„Ich weiß, dass du Angst hast. Aber das brauchst du nicht. Es ist alles okay. Hör einfach hin.“ Chris bedeckt mich mit einem sanften Blick.

Ich horche in mich hinein. Das Summen war allgegenwärtig. Zugegebenermaßen hatte ich schon versucht, es zu ignorieren. Aber es ließ sich nicht abstellen. Es war in meinen Zellen verankert. Und es sagte mir mit jeder Schwingung, dass Chris und auch Angel und Liam die Wahrheit gesagt hatten. Aber das auch zu akzeptieren, fällt mir nicht leicht.

Ich atme seufzend aus und nehme einen Schluck Orangensaft. Nachdem ich das Glas wieder abgestellt habe, versuche ich meine Gefühle in Worte zu fassen.

„Okay. Es gibt also Vampire. Hier bei uns und überall. Und du bist einer von ihnen. Der Szeneclub der Stadt wird in Wirklichkeit von deinesgleichen betrieben, was ihn zu einer Art Vampirtreffpunkt macht, den aber auch Menschen besuchen, deren Gedächtnis nach ihrem Besuch mittels eines Serums gelöscht wird. Hab ich es soweit zusammen?“ Ich sehe ihn fragend an.

Er nickt zustimmend, schaut aber betreten in seine Tasse. Ich hatte wohl etwas vergessen. Oder übersehen.

Und dann dämmerte es mir.

„Oh mein Gott, ihr trinkt von uns.“ Wie Schuppen fällt es mir von den Augen. „Ihr holt uns jede Woche in euren Club, um von uns zu trinken, oder?“

Chris schaut von seiner Tasse auf. „Ja, das stimmt.“ Ein Lächeln legt sich auf seine Lippen. Hatte er gar kein schlechtes Gewissen?

„Doch, ein wenig schon.“ Er grinst mich an.

„Bist du etwa schon wieder in meinem Kopf?“ Ich fasse es nicht!

„Du bist gerade etwas aufgebracht und das kommt einer außerordentlichen Situation ziemlich nahe. Und in solchen Momenten kann ich ...“

„Lass das!“, fauche ich ihn an. „Das ist unfair! Ich komme nicht in deinen Kopf. Oder?“

Vielleicht konnte ich ja auch ...

Abwehrend hebt er die Hände. „Schon gut. Bin schon raus. Und: Nein, kommst du nicht.“ Er zwinkert mir zu.

Empörung macht sich in mir breit.

Chris grins weiter vor sich hin.

„Okay“, versuche ich mich soweit zu beruhigen. „Wir Menschen sind also euer“, ich zögere, „Abendessen. Oder, vermutlich der Dramaturgie geschuldet, eher euer Mitternachtssnack. Du unterbrichst mich, wenn ich falsch liege?“

Er nickt zustimmend und gießt sich ebenfalls einen Orangensaft ein.

„Du sagtest, ich käme seit zehn Wochen ins All in, ohne dass ich mich daran erinnern kann. Das bedeutet, ich lasse mich seit zehn Wochen von irgendjemanden dort aussaugen, ohne dass ich es weiß?“

Er setzt sein Glas ab. „Nicht von irgendwem.“ Sein Blick wird ernst.

Fuck.

Ich verschlucke mich fast an der Erdbeere, die ich mir gerade mit etwas Sahne in den Mund gesteckt habe.

Chris lehnt sich über den Tisch und flüstert mir ins Ohr: „Und ohne angeben zu wollen: Du schmeckst köstlich.“ Er lehnt sich wieder zurück und prostet mir mit dem Rest seines Orangensaftes zu.

Ich bin sprachlos. Ich schwanke zwischen Ekel und Erregung. Chris hatte gerade nicht nur zugegeben, dass er von mir getrunken hatte, nein, er hatte auch noch gesagt, ich sei ... köstlich.

Fuck.

Das war irgendwie ... heiß. Ein Kribbeln macht sich zwischen meinen Beinen breit.

Himmel ...

In aller Ruhe tupfe ich mir mit einer Serviette den Mund ab und starre ihn provokativ an. Ich verschränke mit hart erkämpfter Gelassenheit die Arme vor der Brust und versuche, etwas Empörtes herauszubringen. Ich öffne den Mund, kann ihn aber nur schnappatmend wieder schließen.

Chris grinst. Ohne den Blick von mir zu wenden gießt er uns ein Glas Champagner ein. Er reicht mir ein Glas.

„Cheers!“

Wir stoßen an.

Ja, Champagner schien mir in dieser Situation doch genau das Richtige sein.

Ich wende den Blick von ihm ab. Nachdenklich lasse ich meine Gedanken durch das Café schweifen und bleibe schließlich an einem kleinen Bild an der Wand nahe des Eingangs hängen. Es zeigt eine alte typisch englische Landschaft mit einem kleinen Cottage.