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Kapitel I

Jetzt, wo es endlich so weit war, bekam ich doch noch eine Panikattacke. Alles war vorbereitet und erledigt. Ich musste nur noch mit meinem Koffer und dem Handgepäck ins Flugzeug steigen und losfliegen.

Dana hatte mich heute Morgen noch angerufen und mir mitgeteilt, dass nun endlich auch meine Koffer, die ich bereits vor einer Woche verschickt hatte, angekommen seien. Sie hatte veranlasst, dass sie noch vor meiner Ankunft in mein Apartment gebracht werden würden. Vier an der Zahl, alle bis zum Bersten gefüllt. Wie viel ich wegen der maximalen Gewichtsüberschreitung mehr zahlen musste, verriet ich lieber keinem. Also, alles war gut und trotzdem spürte ich die Angst in mir aufkeimen, irgendetwas vergessen zu haben. Sämtliche Verträge hatte ich unterschrieben und zurückgefaxt, die Originale waren in einer Dokumentenmappe in meinem Handgepäck. Genauso wie der Schlüssel für mein Apartment, für die Haustür und das Tor. Warum es drei verschiedene Schlüssel waren, fragte ich mich immer noch. Aber wahrscheinlich gab es in meiner neuen Heimat keine modernen Schließanlagen. Oder die Leute fühlten sich erst sicherer, je schwerer der Schlüsselbund war. Leute, mit denen ich in Zukunft auskommen musste.

Ich war nicht vollkommen unvorbereitet. Im Gegensatz zu vielen Auswanderern, deren Misserfolge jeder bequem vor dem Fernseher sitzend beobachteten konnte, hatte ich mich schon Jahre vorher vorbereitet. Naja, es waren eigentlich nur zweieinhalb Jahre gewesen.

Kurz nachdem ich meine Ausbildung zur Laborantin begonnen hatte, war in mir der Wunsch entstanden, für ein paar Jahre ins Ausland zu gehen. Ich hatte mich ein wenig schlau gemacht. Aber von Anfang an zog es mich in den Osten. Das war wohl tief in meinen Wurzeln verankert. Meine Mutter stammte aus Rumänien. Ich hatte sie nie kennen lernen können, weil sie kurz nach meiner Geburt im Kindbett verstorben war. Vielleicht entschied ich mich gerade deshalb für ihr Heimatland. Um mich mit ihr verbunden zu fühlen.

Ich hatte mich auch über Ungarn, Tschechien und Polen informiert, sogar Italien kam kurz in Betracht, doch dann wurde es eben doch Rumänien. Ich bewarb mich noch bevor ich ein Abschlusszeugnis hatte. Gleich die dritte Bewerbung klappte. Ein mittelständisches Chemieunternehmen lud mich zum Vorstellungsgespräch ein. Ich flog hin und kam mit einem Arbeitsvertrag wieder zurück. So einfach war es.

Die Firma war sehr hilfsbereit. Zusammen mit meiner langjährigen Brieffreundin Dana kam ich zu dem Apartment. Eigentlich war es ein Studentenwohnheim, doch da ich vom Alter gut rein passte, hatte die Heimleitung nichts dagegen einzuwenden. Lieber zahlte jemand wie ich Miete, als dass das Apartment leer stand. Und ich hatte wirklich einen Glücksgriff gemacht. 65 Quadratmeter würden mein Eigentum sein. Ich hatte eine kleine Küchenzeile mit Ofen, Herd und sogar einer kleinen Spülmaschine, genug Platz für einen Esstisch mit vier Stühlen, im selben Raum, leicht nach vorne versetzt war dann mein Wohnzimmer mit Sitzgelegenheiten und einem Fernseher. Das Bad war klein, aber ausreichend: Toilette, Waschbecken mit Spiegel und eine Badewanne mit integrierter Dusche. Sowohl im extra liegenden Schlafzimmer als auch im vorderen Eingangsbereich waren zwei großzügige Einbauschränke. Da ich ein Eckapartment bekommen hatte, hatte ich vier Fenster und zwei Balkone. Einer davon war so klein, dass gerade ein schmaler Tisch und ein Stuhl darauf passten, der andere dagegen war etwas größer und bot mehr Platz. Ich hatte mir schon überlegt, was ich dort alles anpflanzen könnte.

Ich blickte mich verwirrt in meinem alten Zimmer um. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich noch in Deutschland war. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Halb zwei, in einer Stunde mussten wir los. Oh Gott! Nur noch eine Stunde! Ich musste mich doch noch vernünftig verabschieden! Vom Haus, von meinem Zimmer, der altvertrauten Umgebung.

Tschüss altes Leben und hallo Neues!

Gestern besuchte ich wohl vorerst zum letzten Mal das Grab meiner Mama. Irgendwie war es seltsam, nicht wirklich bedrückend, aber einfach nicht so, wie sonst immer. Meine Schwester Magda war dabei und Ewa, unsere Haushälterin. Beide waren immer sehr still am Grab. Magda konnte sich noch ein bisschen an Mama erinnern, sie war damals fünf und deshalb fiel es ihr noch heute, zwanzig Jahre später, schwer, an ihrem hübschen Grab zu stehen. Ich ließ sie immer in Ruhe, das war wohl das Beste in diesem intimen Moment. Papa ging noch seltener hin, für ihn war damals eine Welt zusammengebrochen. Für immer allein. Zwei Sachen hielten ihn weiterhin am Leben: Seine Arbeit als Monteur und seine Töchter, Magda und ich. Das erste Jahr verbrachte er zu Hause bei uns, dann vermisste er seine Arbeit so sehr, dass er sich nach einer Haushälterin, die gleichzeitig auch den Job eines Kindermädchens inne hatte, umschaute. Er fand recht bald Ewa, sie war damals bereits 41 Jahre alt, hatte sich aber dazu entschieden noch einmal für ein paar weitere Jahre in Deutschland zu arbeiten, um Geld auf die Seite zu schaffen. Sie war ledig und deshalb ungebunden. Der Plan war, dass Ewa bleiben sollte, bis ich in die fünfte Klasse kam. Denn dann konnte ich auch im Internat angemeldet werden und Papa brauchte dann nur in den Ferienzeiten auf uns aufpassen. Letztendlich bleib Ewa bis heute. Nun war sie 60 Jahre alt, aber immer noch fit wie ein Turnschuh. Papa, Magda und ich waren ihr so ans Herz gewachsen, dass sie einfach nicht mehr gehen wollte, obwohl sie immer wieder Heimweh nach Polen hatte.

Und jetzt würde ich gehen. Nicht ins Internat, sondern ganz weg. Wir würden uns nicht mehr so häufig sehen. Vor dem Abschied am Flughafen graute es mit jetzt schon.

Ich nahm meine kleine Tasche vom Bett und überprüfte ihren Inhalt. Dokumenttasche, Schlüssel, Ausweis, Labello, meine Geldbörse, ein Buch, das Smartphone, mein Samsung Tab, alles war drin. Sorgfältig verschloss ich den Reißverschluss wieder. Dann widmete ich mich der Reisetasche, in der ich alles verstaute, was bisher noch hier gewesen war. Ein paar Klamotten, Bettzeug, Bilder von meiner Familie und noch etwas Kleinkram.

Von meinen Möbeln nahm ich nichts mit. Auch in Rumänien gab es Ikea und vorerst würde das Mobiliar, das im Apartment war, ausreichen. Ein Bett, ein Tisch, mehr brauchte ich für den Anfang nicht. Dana hatte mir außerdem versprochen, mit mir einkaufen zu gehen, da sie ein großes Auto besaß – oder eher von ihren Eltern ausleihen konnte.

Ich stopfte gerade den letzten Rest in die Tasche, als Magda rein kam. Sie hatte ein Lächeln aufgesetzt, von dem ich genau wusste, dass es mehr Schein als Sein war.

„Ich kann es noch gar nicht glauben“, murmelte sie an ihrem T-Shirt nestelnd, „erst war es so weit hin und jetzt ist es auf einmal so weit. Ich weiß gar nicht, was ich fühlen soll. Freude, weil ich dich Nervensäge los bin oder Trauer, weil ich dann niemanden mehr zum Ärgern habe?“ „Ach so ein Quatsch! Wir telefonieren oder skypen einfach ganz viel. Du wirst gar nicht merken, dass ich nicht mehr da bin.“ Magda zuckte nur mit den Schultern. „Ewa hat ihr Bigos fertig. Kommst du?“ Ich nickte. Ewas Bigos war ein Traum. Ich schaufelte mir so viel, wie es ging, in mich hinein. So schnell würde ich das nicht mehr zu essen bekommen. Ewa hatte mir zwar das Rezept gegeben, aber selbst, wenn ich es haargenau nachkochen würde, es würde niemals an ihr Bigos hinkommen.

Im Auto war es sehr still. Papa fuhr, neben ihm saß Ewa, hinten waren Magda und ich. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und selbst am Flughafen sprach man nur das Nötigste. Hast du das Ticket? Welcher Flug ist es? Wo ist der richtige Terminal?

Und dann war es so weit. Ich stand mit meiner Tasche, die ich als Handgepäck mit in den Flieger nahm, vor ihnen. Meine Familie war da, Freunde, ja sogar ein paar Arbeitskollegen hatten sich die Zeit genommen und waren gekommen, um mich zu verabschieden. Es flossen Tränen und Versprechen wurden gegeben, sich nicht aus den Augen zu verlieren. Ich umarmte jeden mindestens zwei Mal, zuletzt noch einmal Ewa, dann Magda und dann Papa. Mir taten die Augen vom Weinen weh. Tapfer hielt ich das Lächeln auf meinen Lippen aufrecht, auch wenn es mir furchtbar schwer fiel. Immer wieder blinzelte ich, um meine Umgebung klar sehen zu können. Leute liefen an uns vorbei, kaum einer schenkte uns seine Aufmerksamkeit. Zu oft gab es auf Flughäfen gefühlsschwangere Szenarien wie die unsrige. Nichts Ungewöhnliches, nur für die Beteiligten von Bedeutung.

„Pass auf dich auf!“, flüsterte Papa, sogar in seinen Augen blitzen verräterisch Tränen, „Melde dich, sobald du gelandet bist. Schreibe mir jeden Tag. Und ruf Ewa an. Wenn etwas sein sollte, sag sofort Bescheid.“

Er hielt mich von sich weg, betrachtete mich mit stolzem und traurigem Blick, dann drückte er mich noch einmal so fest an sich, dass ich kaum Luft bekam. „Es ist schwer, wenn sie flügge werden. Aber ich bin stolz auf dich!“ Er hatte so leise gesprochen, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen.

„Ich hab dich lieb“, nuschelte ich. Der erneute Tränenschwall ran über meine geröteten Wangen.

Im Flugzeug versuchte ich, mich mit Hilfe meines Tablets wieder etwas aufzuhübschen. Meine Haut war rot und aufgedunsen, die Augen verquollen, aber ich konnte schon wieder lächeln. Eine freundliche Stewardess reichte mir ein Döschen mit getönter Tagescreme und etwas Wimperntusche. Danach sah ich tatsächlich wieder besser aus.

Bis nach Wien dauerte der Flug eine Stunde und fünf Minuten. Wir hatten einen guten Flug und keine Verspätung. Der Aufenthalt in Wien reichte für ein Abendessen und einen kurzen, nervösen Bummel durch die Duty-free-Shops.

 

Nach weiteren eineinhalb Stunden Flug erreichte ich aufgekratzt den Flughafen Sibiu. Es war bereits halb elf Uhr abends, doch ich war schon lange auf den Beinen, normalerweise wäre ich jetzt allmählich müde geworden, doch Adrenalin durchflutete meinen Körper und ließ mich hellwach bleiben. An der Gepäckausgabe musste ich fast eine halbe Stunde warten.

Ungeduldig stand ich vor dem Band, wippte auf den Füßen vor und zurück. Ich inspizierte jeden vorbeiratternden Koffer genauestens, egal welche Form oder Farbe er hatte, Hauptsache ich hatte eine Beschäftigung. Und dann tauchte er endlich mein eigener am anderen Ende auf. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis ich ihn vom Band heben konnte.

Während ich durch den Bereich Zollfrei lief, wurde mein Herzschlag immer heftiger. Bis das kleine Ding mir fast zum Hals heraushüpfen wollte. Beklemmende Übelkeit kroch den Rachen hinauf, einbitterer Beigeschmack im Mund.

Dana entdeckte mich zuerst. Sie sprang in die Luft und wedelte heftig mit den Armen. Ihre langen Haare wirbelten dabei durch die Luft und bildeten eine dunkle Wolke um ihr hübsches Gesicht. Etwas der Anspannung verpuffte plötzlich, als ich ihr breites Grinsen sah und die Freunde, die ihr förmlich aus dem Gesicht hüpfte.

Dana war etwas größer als ich, jedoch drückte sie mich mit so einer Kraft an sich, dass es den Anschein machte, sie wäre mindestens zwei Köpfe größer. Ich spürte, wie sich ihre Brüste gegen meine drückten und ihre waren dabei um einiges größer und voluminöser als meine, dann hielt sie mein Gesicht mit beiden Händen fest, um mir – links, rechts, links – dicke, herzliche Küsse auf die Wange zu drücken.

„Herzlich Willkommen in Hermannstadt! Wie war dein Flug? Du siehst etwas zerknautscht aus. War der Abschied wirklich so schwer, wie du befürchtet hast?“

Mir war immer noch schlecht, aber mein Puls begann sich bereits wieder zu beruhigen. Ich lächelte plötzlich total erschöpft und nickte, weil ich im ersten Moment nicht sprechen konnte. Mir fielen zwar die rumänischen Worte ein, doch sie brauchten eine Ewigkeit, um über meine Lippen zu kommen.

„Danke“, stotterte ich wie eine blutige Anfängerin, „Flug … gut, Abschied … schrecklich.“

Dana lachte belustigt auf. „Oh, da hat es dir aber ganz schön was durcheinander gebracht. Aber das wird schon wieder. Du hast ja mich, stimmt’s?“ Sie ließ mir keine Zeit zum Antworten. „Ich bin auf alle Fälle für dich da. Tag und Nacht. Ruf mich einfach an, wenn dir danach ist. Ich stelle dir morgen dann Alex und die anderen vor. Heute ist es zu spät. Ich bin mir sicher, dass du dich erst einmal ausruhen möchtest. Morgen geht es ja gleich in der Früh weiter bei dir. Ich hab dir auf den Küchentisch einen Zettel gelegt. Dort steht die Busverbindung drauf und falls dir das doch zu stressig ist, auch eine Nummer von einem guten Taxiunternehmen. Mach einfach vorher den Preis aus, dann ist es nicht so teuer.“

Sie nahm mir den Koffer aus der Hand und wir verließen gemeinsam den Flughafen.

Dana hatte wirklich alles gut vorbereitet. Die Kisten und Taschen standen vor dem kleinen Balkon, wo sie erst einmal niemanden störten. Auf dem Küchentisch lag, wie versprochen, die Notiz mit den Busverbindungen. Ich nahm den Zettel mit ins Schlafzimmer, dort setzte ich mich auf das Bett und streckte mich erschöpft aus. Dana war nicht mehr mit hochgekommen, sie hatte bemerkt wie müde ich plötzlich geworden war. Unten an der Tür hatte sie mich noch einmal fest an sich gedrückt und mir eine gute Nacht gewünscht. Den letzten Weg hatte ich also allein bestritten. Mit dem Aufzug ging es in den vierten Stock. An den Türen der anderen Apartments vorbei, bis zu meiner Eingangstür.

Nun lag ich hier auf dem fremden Bett. Die Matratze war grausam, das musste ich gleich als Erstes ändern. Aber zuerst stand mein erster Arbeitstag an. Nicht nur die Firma und die Kollegen waren fremd, auch die Mentalität hier, die Arbeitsweise, da musste ich mich erst einmal umgewöhnen. Aber Dana hatte mir versprochen, mir am Anfang ganz viel zu helfen. Sie hatte für morgen Abend ein Abendessen bei ihr zu Hause organisiert. Ihre Freunde, die alle hier in der Wohnanlage lebten, hatte sie auch eingeladen, damit ich so schnell wie möglich neue Freunde finden würde. Von Alex, ihrer besten Freundin, hatte sie mir gelegentlich schon etwas erzählt. Aber an die anderen Namen konnte ich mich nicht mehr erinnern. Es waren noch ein Mädchen und drei oder vier Jungs. Aber morgen würde ich sie alle kennenlernen. Morgen nach meinem ersten Arbeitstag; 19 Uhr.

Beim Hinfahren hatte ich bereits die Bushaltestelle entdeckt. Ich fuhr nicht gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln, irgendwie war mir das zuwider, aber bis ich ein eigenes Fahrrad hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als den Bus zu nehmen. Knapp 5 Kilometer waren es von hier bis zu meiner Arbeitsstätte, zu weit zum Laufen.

Nach einem kurzen Blick auf Danas Zettel wusste ich, dass ich zumindest nur mit einer Linie fahren brauchte; kein lästiges Umsteigen.

An meinem ersten Tag musste ich um 8 Uhr morgens anfangen, da konnte ich den Bus um 7:20 Uhr nehmen, dann hatte ich gut eine halbe Stunde Zeit, um zur Firma zu laufen. Ich stellte den Wecker auf 6:30 Uhr. Somit blieben mir knapp fünf Stunden zum Schlafen, falls ich jetzt sofort einschlief. Doch ich trug noch meine Straßenklamotten, außerdem musste ich auch dringend unter die Dusche. Meine Haut klebte, es war einfach unangenehm. Obwohl das Bett nicht sonderlich bequem war, fiel es mir schwer aufzustehen. Doch dann hievte ich mich endlich hoch. Aus fünf Stunden Schlaf wurden letztendlich nur vier und ein Viertel.

Trotz der kurzen Nacht wachte ich am nächsten Morgen von selbst auf, noch bevor der Wecker klingelte.

Mit einer unheimlichen Gelassenheit verrichtete ich meine Morgentoilette. Gestern war mir gar nicht aufgefallen, wie schön das Bad war. Überhaupt war das Apartment eine kleine, aber sehr schöne Bleibe. Hier konnte man sich rasch wie zu Hause fühlen, wenn erst einmal genug Mobiliar und eine persönliche Note vorhanden war.

Das Bad hatte eine schmale Form, war in verschiedenen Grautönen gehalten, es besaß im oberen Drittel der Wände eine breite Borte, die wie Marmor aussah. Die Toilette und die Badewanne waren ganz normal weiß, aber mir gefiel, dass die Badewanne eine Duschwand aus Glas hatte, anstelle dieser billigen und ständig schmutzigen Duschvorhänge. Unter dem Waschbecken gab es einen kleinen Schrank, den ich gut als Stauraum nutzen konnte. Und auch ein Medikamentenschränkchen mit milchigen Glastüren hing bereits an der Wand. Hier gab es wenig, das verbesserungswürdig war. Lediglich einen Badezimmerteppich und einen größeren Spiegel als der, der bereits hier war, konnte ich mich gut vorstellen.

Die Gelassenheit blieb auch noch beim Frühstück bestehen. Viel gab es nicht zu essen. Ich hatte mir von zu Hause Semmeln mitgenommen, doch ganz vergessen, dass ich darüber hinaus nichts mitgenommen hatte. An Wurst, Käse oder Marmelade hatte ich überhaupt nicht gedacht.

Vorsichtshalber schaute ich in den Kühlschrank. Er war leer, ich hatte Dana nicht gebeten, etwas zu besorgen. Also musste ich gleich heute noch los zum Supermarkt um die Ecke. Soweit ich mich erinnern konnte, war ein Billa nicht weit weg. Billa gehört zur REWE Group Deutschland, also vorerst genau dass, wonach mir im Moment der Sinn stand. Dort würde ich nicht nur Lebensmittel bekommen, sondern auch alles andere: Hygieneartikel, Waschmittel, Utensilien zur Raumpflege und vieles mehr.

Beim Anziehen spürte ich wie die ersten Anzeichen von Nervosität über mich herfielen. Und immer diese Übelkeit, wenn das nicht wäre, wäre es halb so schlimm. Ich bereute fast schon die Semmel, die ich zuvor noch entspannt gefrühstückt hatte. Nun lag sie schwer im Magen und rivalisierte mit den Aufregungskrämpfen. Ich war schon auf dem Weg nach draußen, als mir plötzlich heiß und kalt wurde. Meine Speiseröhre wurde schlagartig fest und mein Magen krampfte sich ein, zwei Mal nervös zusammen. Ich presste die Handfläche meiner linken Hand gegen den oberen Brustkorb und atmete bewusst tief ein und aus. Das machte ich immer so, wenn mir schlecht wurde. Meistens half es und ich behielt den Mageninhalt dort, wo er hingehörte. Auch heute klappte dieser kleine Trick. Ich schloss für ein paar weitere tiefe Atemzüge die Augen, dann nahm ich die dünne Weste und meine Handtasche und machte mich auf den Weg zum Bus, trödeln konnte ich jetzt nicht mehr.

Der erste Tag verging rasant. Meine Aufregung und die Angst legten sich nach den ersten Stunden, doch ganz entspannen konnte ich nicht. Man zeigte mir meinen Spint, in dem ich meine Sachen ablegen und mit einem Vorhängeschloss verschließen konnte. Ich durfte meine Straßenkleider zum Arbeiten größtenteils anbehalten. Ich musste lediglich einen weißen Kittel darüber ziehen – den 99% der Belegschaft offen ließ, wie ich bald herausfand. Sicherheitsschuhe waren Pflicht. Beides fand ich in meinem Spint und zog auch alles pflichtbewusst an. Auf weitere Schutzausrüstung, wie Schutzbrille oder Handschuhe, wurde hier komplett verzichtet.

Das Unternehmen war ein reines Auftragslabor. Der Kunde sagte, was er wollte, wir machten die Arbeit und brachten die Ergebnisse. Der Schwerpunkt lag auf analytischer Chemie. Hier gab es den nass-chemischen Bereich und die instrumentelle Analytik. Beides jeweils weiter unterteilt.

Im nass-chemischen Bereich gab es drei Teams: Eines für Nachweisreaktionen und Flammenfärbung, eines für Photometrie und eines für Volumetrie und Gravimetrie. Die instrumentelle Analytik war ebenfalls in drei Teams aufgeteilt.

Team Eins war für Spektroskopie und Massenspektroskopie zuständig, Team Zwei für Chromatografie und das dritte Team bearbeitete den Bereich der elektroanalytischen Messmethoden.

Ich hatte mich eigentlich für den elektroanalytischen Bereich beworben, da ich mich in diesem Gebiet noch am wenigsten auskannte und ich gerne etwas Neues dazulernen wollte. Doch bei der Spektroskopie war eine Mitarbeiterin schwanger geworden und durfte ihre Arbeit nicht mehr ausführen. In meinen Prüfungen hatte ich als Wahlfach Spektroskopie belegt, offenbar genug Grund, mich von der einen Abteilung in die andere zu schieben und das, noch bevor ich überhaupt angefangen hatte. Nicht, dass ich mich beschwert hätte, aber die Arbeit mit UV/VIS oder IR oder gar einer ICP-MS Kopplung waren nicht meine bevorzugten Tätigkeiten.

Außerdem hatte ich die beiden Frauen aus dem elektroanalytischen Team bereits bei meinem Einstellungsverfahren kennengelernt. Saskija und Lanica waren beide noch unter Dreißig und bei unseren ersten Begegnungen sehr freundlichen gewesen. Mein jetziges Team wurde mir hingegen erst heute vorgestellt.

Da war einmal Romica Becheș, ihn schätzte ich auf Anfang, Mitte Vierzig. Er war groß, hatte breite Schultern und sein kurzes Haar ergraute an den Schläfen. Die Zweite im Bunde war Vira Fecher, vermutlich im selben Alter wie Herr Becheș, der übrigens darauf bestand, gesiezt zu werden – aber von allen, nicht nur von mir. Vira war klein, pummelig und hatte irgendetwas Rassiges an sich. Vielleicht waren es die langen Haare, die fast schon schwarz waren. In natürlichen Wellen fielen sie ihr über die Schultern und reichten ihr weit über den Rücken. Sie trug das Haar offen. Ich hatte gelernt, dass Haar im Labor stets zusammenzubinden, einfach aus Sicherheitsgründen.

Aber wie ich schon sehr schnell feststellen musste, hielt man hier nicht so viel von Arbeitssicherheit.

Einen eigenen Arbeitsplatz hatte ich auch nicht. Ich konnte meine Sachen einfach irgendwo abstellen, dort, wo gerade Platz war.

Nachdem man mir meinen zukünftigen Arbeitsplatz gezeigt hatte, führte man mich noch einmal durch alle Abteilungen. Ich konnte mir von den wenigsten Kollegen die Namen merken, eigentlich nur die der beiden Abteilungen, mit denen ich bereits in Berührung gekommen war. Den Rest würde ich mir im Laufe der Zeit aneignen.

Die Mittagspause verbrachte ich mit Vira in einem nahegelegenen Café. Bei einer Tasse Kaffee mit Sahne – ich hatte versehentlich Sahne statt Milch bestellt, eigentlich mochte ich keine Sahne im Kaffee – und einem Stück Harlekinkuchen, hörte ich meiner neuen Kollegin zu.

Harlekinkuchen war typisch Siebenbürgisch. Ich hatte das selbst schon gebacken, aber eigentlich für Weihnachten. Vielleicht sollte ich das mal wieder machen, in meiner neuen Küche.

Vira trank nur Kaffee und redete, redete und redete. Ich hörte höflich zu, obwohl ich keine Ahnung hatte, von wem oder was sie eigentlich sprach. Ich fragte mich im Laufe der Pause, wo die anderen wohl hingegangen waren. Vielleicht sollte ich mich ihnen anschließen.

 

Nach dem Mittag wurden mir die Geräte erklärt. Dabei war es völlig egal, welcher von den beiden mich einwies, beide konnten es nicht wirklich. Ich war etwas deprimiert, weil alles, was ich sagte, fragte oder machte erst einmal falsch war. Das Team war kein wirkliches Team. Beide Teammitglieder lebten in ihrer eigenen Welt aus Technik, Abkürzungen und persönlichen Spinnereien. Sie redeten zwar gern über ihre Geräte, aber keiner von beiden wollte sich so richtig in die Karten schauen lassen. Das würde schwer werden, verdammt schwer.

Am Ende des ersten Tages war ich sehr erschöpft und auch ein wenig traurig. Ich hatte in meiner Ausbildung so gut wie mit jedem Gerät, das mir heute gezeigt wurde, gearbeitet und das nicht nur einmal. Das ein oder andere war auch in den Prüfungen abgefragt worden, dennoch hatte ich das Gefühl, dass ich überhaupt nichts konnte oder wusste. Es war frustrierend.

An der Bushaltestelle starrte ich einfach nur auf den Boden, damit die anderen die Tränen nicht sahen, die in meinen Augen brannten. So schwer hatte ich es mir nicht vorgestellt und auf einmal überkam mich die Angst, nicht gut genug zu sein. Ich schluckte ein paar Mal, um die hochkriechenden Schluchzer zu unterdrücken.

Im Bus holte ich mein Handy hervor. Noch hatte ich den deutschen Vertrag, aber Ende des Monats brauchte ich nur die Simkarten auszutauschen und dann würde die Rechnung wieder ansehnlich sein.

Ich schickte Magda eine lange Nachricht über WhatsApp; Papa bekam eine SMS mit nur ein paar Worten: „Mir geht’s gut. Flug war OK. Arbeit ist anstrengend. Bis bald!“

Magda schrieb mir kurz darauf zurück. Bis ich bei Billa angekommen war, schrieben wir hin und her. Sie machte mir Mut und redete mir gut zu. Danach fühlte ich mich wieder etwas besser.

Nach dem Einkauf blieb mir genug Zeit, um mich zu duschen und frisch zu machen. Ich schlüpfte in meine Lieblingsstoffhose, zog eine hübsche Bluse aus Chiffon an und frisierte meine Haare über die rechte Schulter. Zwar hatte mir Dana versprochen, mich abzuholen, doch ich warf trotzdem einen Blick auf den Busplan, den ich mir mitgenommen hatte. Sie lebte noch bei ihren Eltern und diese hatten vor ein paar Jahren ein Haus außerhalb der Stadt bauen lassen. Ich hatte Danas Zuhause noch nie gesehen, ihre Eltern auch nicht, Geschwister hatte sie keine. Ich war aufgeregt, dieses Mal war es aber positive Aufregung.

Um halb sieben klopfte es an meiner Tür. Ich nahm meine Handtasche, ein paar Mitbringsel aus Deutschland und meinen Blazer in die Hand und öffnete die Tür.

Dana strahlte mich fröhlich, wie immer, an. Sie umarmte mich – und wieder das Ritual mit den Küsschen… Dieses Mal verhielt ich mich nicht wie ein Sack Kartoffeln, sondern hauchte ihr ebenfalls Küsschen auf die Wange. Ich wollte gerade anfangen, zu erzählen, als ich ein weiteres Mädchen entdeckte. Nicht, dass sie so klein gewesen wäre, dass ich sie hinter Dana nicht entdeckt hätte. Doch ich war so auf meine – momentan einzige – Freundin fixiert gewesen, dass ich sie einfach nicht wahrgenommen hatte. Sie war knapp zehn Zentimeter größer als Dana, also um einiges größer als ich, fast einen ganzen Kopf, nahm ich an. Unter ihrer weitfallenden Bluse machte ich eine sportliche Figur aus, sie war super schlank, trug das brünette Haar bis zum Kinn, mit verspielten Wellen darin. Es waren aber ihre Augen, die mich etwas einschüchterten. Sehr dunkel und wahnsinnig ausdrucksstark.

Ich wusste nicht, ob es ihre Augen waren oder ihre ganze Körperhaltung. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich sehr distanziert und neutral beobachtete. Sie war nicht feindselig, aber auch nicht so herzlich und freundlich wie Dana.

Unwohl hob ich die Hand zu einem scheuen Gruß, dann streckte ich sie ihr doch entgegen.

„Hi“, sagte ich höflich, „ich bin Eden.“ Zu meiner Erleichterung nahm sie meine Hand und drückte einmal kräftig zu. Ein guter, persönlicher Händedruck.

„Hi, und ich bin Alex.“

Das war also Alex, Danas beste Freundin. Mein Lächeln blieb ihrerseits unbeantwortet.

Dana deutete zum Aufzug.

„Die anderen lernst du später kennen. Jetzt fahren wir drei erst einmal zu mir. Erzähl, wie war dein erster Tag?“

In Anwesenheit von Alex konnte ich nicht ganz so unbefangen antworten, wie ich es gern getan hätte, aber vielleicht gab es später noch Gelegenheit, um in Ruhe miteinander zu reden.

Die Fahrt dauerte eine Viertelstunde und verlief größtenteils schweigend. Ich saß auf der Rückbank und schaute aus dem Fenster. Ich beobachtete zwei Straßenhunde, die sich um ein Stück Müll stritten. Ich hatte schon ganz andere Tiere hier gesehen. Diese sahen verhältnismäßig gesund und gepflegt aus. Beide besaßen eine rote Ohrenmarke. Solche Ohrmarken kannte ich größer und in Gelb an Nutzvieh, Kühen oder Schweinen, aber hier, hatte ich gelesen, bedeutete es, dass der Hund von einem Tierschutzverein kastriert, durchgecheckt und wieder freigelassen worden war. Rot bekamen die Hündinnen, blau die Rüden. Ich mochte diese Tierschutzprojekte, es war das Beste für die Tiere; sie konnten ihr Leben in Frieden zu Ende führen, ohne dabei unkontrolliert Nachwuchs zu produzieren.

Danach gab es nichts mehr Spannendes zu sehen. Straßen, alte Häuser, ein paar Menschen.

Danas Zuhause war ein dreistöckiges, blass gelbes Haus, das an ein Anwesen erinnerte, mit weiß gestrichenen Holzläden und riesengroßen, ebenfalls weißen, Sprossenfenstern.

Umgeben wurde das gesamte Grundstück von einer zwei Meter hohen Steinmauer mit schmiedeeisernen Spitzen oben drauf.

Wir passierten ein automatisches Metalltor. Auf einem weißen Kiesweg ging es dann bis vor eine Vierfachgarage. Dana stellte ihr Auto einfach mitten vor einem der Tore ab und bat uns auszusteigen. Dabei sagte sie es eigentlich nur zu mir, Alex war schon aus dem Wagen gesprungen, bevor er überhaupt richtig gestanden hatte.

Das Haus war auch im Inneren wahnsinnig schön. Die Räume waren extrem hoch, hell und luftig. Sie präsentierten sich dem Gast auf charmante Art und Weise und es erweckte ein bisschen den Anschein, als würde man sich in einer kleinen Sommerresidenz eines beschaulichen Prinzens befinden.

Ich war erschlagen und sprachlos bei so viel Brillanz.

Nach einer kleinen, 20-minütigen Führung durch sämtliche Zimmer, gingen wir durch den angrenzenden Wintergarten, bei dem man eine Seite komplett öffnen konnte und nahtlos auf die Terrasse übergehen konnte.

Ich hatte schon viel von Sommerküchen gehört, gesehen hatte ich allerdings noch keine. Von der Terrasse aus führten drei Stufen auf eine erhöhte Plattform, die komplett überdacht war. Das Pavillondach wurde von sechs weißen Säulen gehalten, darunter befand sich eine freistehende Küchenzeile mit Spülbecken, zwei Kochfeldern, einem Holzkohlegrill und einem Pizzaofen. Es gab Platz für Feuerholz, Kohle, Kochutensilien und Geschirr. Am Rande der Plattform stand eine Tafel aus Massivholz, an den Längsseiten zwei Bänke waren und an den sich gegenüberliegenden Stirnseiten befanden sich zwei Stühle, die beinahe wie zwei Throne aussahen. Zehn Leute fanden dort sicherlich, ohne beenget sitzen zu müssen, Platz.

Im verhältnismäßig langweilig angelegten Garten dominierte der in den Boden eingelassene Pool. Mit dem Holzboden außen rum, auf dem zwei gepolsterte Liegestühle standen und ein freischwingendes Holzbett, sah es aus wie aus einem dieser Werbekataloge, in dem man das Bestmögliche zeigte, was sich der Ottonormalverbraucher letztendlich dann aber niemals leisten konnte.