Bedingungslos

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Eine Stunde, sagst du?“

Elina nickte und auf einmal kam sie mir nicht mehr wie eine arrogante, gefallsüchtige, sich ständig in den Mittelpunkt schiebende Tussi vor, sondern, wie sie so da stand und mich aus einer Mischung aus Verlegenheit und Angst anschaute, eher wie eine sehr unsicheres Mädchen.

„Okay, ich beeile mich. Willst du solange reinkommen?“

„Ich warte unten, wenn du nichts dagegen hast.“

Die Tür fiel ins Schloss und ich hetzte los. Weil ich in der Früh einfach was im Magen brauchte, stürzte ich eine Tasse Milchkaffee hinunter und aß ein großzügiges Stück süßen Maiskuchen, den ich am Freitag noch auf dem Markt besorgt hatte. Danach eilte ich ins Bad, duschte, putzte die Zähne und machte dann aus den noch nassen Haaren einen Dutt. Ich brauchte erstaunlich wenig Zeit, um meine mitgenommenen Reitsachen zu finden. Ich hatte eigentlich nur eine Hose und ein T-Shirt, sowie eine ärmellose Weste mitgenommen, mehr als Erinnerung als mit der Absicht, sie hier tragen zu können. Fertig angezogen betrachtete ich mich kritisch im Spiegel. Die schwarze Reithose mit dem hellgrauen Ledervollbesatz saß eng, ich sollte allmählich auf mein Gewicht achten. Das graue Shirt mit der Aufschrift Colorado – Where I Want To Be passte hingegen perfekt und auch die schwarze Reitweste ließ sich noch gut tragen. Allerdings hatte ich die Reitstiefel nicht mit, was mir einfiel, während ich mich im Spiegel betrachtete. Mussten eben die alten Wanderschuhe herhalten. Für den Anfang reichte das bestimmt.

Auf einmal überkam mich eine Nervosität, wie bei einem ersten Date. Man freute sich tierisch auf den Moment, den Auserkorenen zu sehen, zu beeindrucken, aber gleichzeitig hatte man Angst, einen Fehler zu machen oder sich zu blamieren. Ich fragte mich, wie ein junger Mann sein musste, um mit jemanden wie Elina zusammen sein zu wollen und wie dessen Schwester war. Was hatten sie für Pferde? Wie war der Stall? Wäre ich gut genug für sie?

Ich schaffte es noch zehn Minuten vor dem ausgemachten Zeitpunkt, fertig zu sein und unten bei Elina zu stehen. Dieses Mal schaute sie mich wieder auf die gewohnte herablassende Art an, wie ich es von ihr kannte.

„Da kannst du dir demnächst ruhig neue Sachen zu legen.“

„Oh Mann, Elina“, seufzte ich, „Reitklamotten müssen gebraucht aussehen. Ansonsten nimmt dir keiner ab, dass du wirklich was tust auf deinem Pferd. Außerdem gehe ich in den Stall, nicht auf eine Modenschau.“

„Ich fürchte, bei denen geht es im Stall etwas anders zu als in den Ställen, in denen du bisher warst.“

Beinahe bereute ich es, überhaupt nachgefragt zu haben, doch so wie ich es verstanden hatte, hatte sie nicht vor, mit zu den Pferden zu kommen.

Wir liefen schweigend zur Straße vor, keine fünf Minuten später kam ein mattschwarzer BMW 1er auf uns zu und hielt direkt vor unseren Füßen. Es stieg ein breit grinsender junger Mann aus. Auch er war, wie beinahe alle hier, recht groß, schlank und trainiert und trug auch dementsprechende Kleidung, damit man seinen Muskeln wunderbar Aufmerksamkeit schenken konnte. Halblanges, schwarzes Haar umrahmte sein Gesicht mit den anmutig hohen Wangenknochen, sein markantes Kinn und die breite Kieferpartie waren von schwarzen Bartstoppeln bedeckt. Er konnte kaum älter sein als ich, wirkte aber schon viel reifer und erwachsener.

Zuerst ging er zu Elina, legte ihr die Hände auf die Hüfte und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund. Obwohl die beiden schon länger zusammen waren, lief Elinas Kopf hochrot an und sie sah einmal mehr absolut hilflos und verlegen aus. Ich nahm mir vor, mich nicht ganz so mädchenhaft zu benehmen und mich nicht von seinem Aussehen beeindrucken zu lassen.

Schließlich reichte er mir seine Hand. „Hi, ich bin David. Und du bist sicher Eden.“

Ich erwiderte den Händedruck so wie ich es im Internat gelernt hatte. Einmal kurz fest drücken, aber dabei nicht die Finger des Anderen zerquetschen. Immer die ganze Hand nehmen, denn dadurch wirkte man selbstsicher, aber freundlich.

„Hi, ja, ich bin Eden. Schön, dich kennenzulernen.“

Er war beeindruckt, dass sah man ihm an. Was so ein bisschen Körpersprache doch ausmachte. Auch wenn mir während der Internatszeit der ewige Richtige-Etikette-Unterricht auf die Nerven gegangen war, so wusste ich ihn jetzt zu schätzen. Es half einem ungemein, ungewohnte Situationen gut zu meistern.

Später fand ich heraus, dass ich eine von Wenigen war, die sich von Davids Aussehen nicht aus der Bahn werfen ließen. Alle Mädchen schienen zu plötzlich gehirnlosen Zombies zu mutieren, sobald er in ihre Nähe kam. Elina als großes Beispiel voran.

Die Fahrt dauerte mit dem Auto nicht lang, trotzdem überlegte ich, wie ich dort hinkam, da ich kein eigenes Auto besaß. Im Sommer mit dem Rad vielleicht und bei schlechtem Wetter mit dem Bus, falls es eine Verbindung gab.

David setzte mich am Stall ab, er versprach, am Abend wieder zu kommen, um mich zurück in mein Apartment zu fahren.

Der Stall war klein, hatte aber eine Reithalle und einen Außenreitplatz. Es war sehr sauber und aufgeräumt, so hatte ich einen Reitstall nur sehr selten gesehen. Oft lag einfach Zeug rum, aber das war hier überhaupt nicht der Fall.

Zwei Mädchen warteten vor dem Stallgebäude auf mich. Beide blond und hübsch, eine um die sechzehn Jahre, die andere vielleicht vierzehn.

Sie stellten sich als Anna, Davids Schwester und Maya, Annas Cousine, vor. Beide wirkten auf mich ein wenig arrogant, aber vom ersten Eindruck ließ ich mich nicht täuschen. Die beiden waren genauso aufgeregt wie ich.

Wir redeten nur ein paar Sätze, dann zeigten sie mir auch schon alles. Die Boxen waren groß, nach vorn konnte man die Türen zweiteilen, der obere Teil war meist offen, damit die Tiere auch in diese Richtung frei nach draußen schauen konnten. Am hinteren Teil hatte jede Box einen angrenzenden Paddock, mit Gummimatten ausgelegt. Sowohl die Boxen als auch die Paddocks waren blitzblank sauber. Keine Pferdeäpfel oder Dreck der herumlag.

„Die Pferde sind auf der Koppel. Da müssen wir zehn Minuten laufen. Aber wir nehmen die Halfter mit und bringen sie gleich in den Stall.“, erklärte Anna.

„Also“, begann Anna auf der Weide, „dieser schöne Cremello-Wallach ist meiner. Er heißt Mac Donald, wird aber eigentlich nur Macy genannt. Er ist mein erstes Pony gewesen. Ich bin mit ihm E und A Dressur gegangen, mit ein paar Siegen und A Springen, da waren wir sehr erfolgreich. Jetzt steht er seit zwei Jahren eigentlich. Ich reite ihn hauptsächlich bei Ausritten. Um ihn müsstest du dich hauptsächlich kümmern. Der Dunkelfuchs dort hinten ist meine Stute Arwen, mit der ich jetzt trainiere. Sie ist erst fünf Jahre alt, aber bereits jetzt M-fertig. Sie wird mal ein tolles Turnierpferd. Der halbe Apfelschimmel gehört Maya, er heißt Blumble Bee, kurz Bee. Sei reitet mit ihm A und L Springen. Letztes Wochenende hat sie ihren ersten Sieg in L eingeholt. Und zu guter Letzt haben wir hier unseren Opa Shadow. Er gehört Mayas Halbbruder. Vor fast zehn Jahren hat Valentin mit dem Reiten aufgehört. Er war so gut… Distanzreiten war damals seine große Leidenschaft. Jetzt interessiert er sich nur noch für sein Studium und für Wein.“ Letzteres hatte Anna mit einer Mischung aus Trauer und Wut gesagt. Ich hatte mir alle vier Pferde genau angeschaut, während Anna erzählt hatte. Sie sahen gesund aus, alle waren, wie der Rest, sauber geputzt, das Fell glänzte in der Sonne, das Langhaar war seidig und knotenfrei. Sie sahen überhaupt nicht wie die anderen Pferde aus, die ich bisher in Rumänien gesehen hatte.

Nachdem Anna mir die beiden Halfter von Shadow und Macy in die Hand gedrückt hatte – sie wollte wohl testen, wie ich mich beim Führen von zwei Pferden anstellte, marschierte ich munter los. Macy, der wunderschöne Cremello war mir am nächsten, also holte ich ihn zuerst. Ohne Probleme ließ er sich das Halfter anlegen und lief neben mir her zu Shadow, auch der Rappe blieb stehen beim Aufhalftern. Jeweils links und rechts ein Pferd führend, ging es zurück zum Stall.

Ganz vorn kam Shadow in die Box, dann Macy und Bee und zuletzt Arwen. Wie ich erfuhr, war Shadow noch stolzer Besitzer seiner Männlichkeit, weshalb es manchmal notwendig war, ihn und Arwen so weit wie möglich auseinanderzustellen.

Die anderen beiden Boxen blieben leer. Sie wurden als Abstellkammer und Geräteschuppen benutzt. Früher hatte es wohl noch zwei weitere Einsteller gegeben, doch nach einem Streit mit den Besitzern, mussten die Tiere umziehen.

„Wie gut kannst du denn überhaupt reiten, Eden?“, wollte Maya wissen. Bisher hatte sie kaum ein Wort gesagt.

„Ich hatte zunächst zwei Jahre Reitunterricht, dann bin ich aufs Internat gekommen, da hab ich dann fünf Jahre ein Pflegepony gehabt. Mit dem bin ich auch gelegentlich auf Turniere gegangen. Eigentlich nur Dressur. Zum Springreiten war es manchmal zu bockig. Aber bei Reiterspielen waren wir immer ganz vorn mit dabei. Nachdem Internat hab ich dann wieder in einer Reitschule Unterricht genommen, während meiner Ausbildung blieb nicht genug Zeit für ein Pflegepferd.“

Was war das für ein Pony?“, hakte Maya interessiert nach.

„Oh, ein deutsches Reitpony. Ein Brauner mit Aalstrich.“

„Bee und Macy sind auch Deutsche Reitponys“, lächelte Maya, „Stört es dich nicht, auf einem Pony zu reiten, ich meine, weil du ja schon so alt bist?“

Alt?!, dachte ich. „Nein, das ist kein Problem. So klein ist Macy ja auch gar nicht. Und er ist sehr hübsch, das wertet alles andere nicht so Perfekte auf.“

Anna rieb sich die Hände an den Oberschenkeln ab, dann deutete sie auf ein anderes Gebäude, auch aus Holz gebaut, genau wie der Stall. „Dort befindet sich die Sattel- und Futterkammer. Nebenan ist ein Raum, in dem man sitzen kann, oder auch mal übernachten. Es gibt Strom, Wasser, eine mobile Kochplatte und eine Toilette. Wir nutzen den Raum eigentlich hauptsächlich, wenn wir den ganzen Tag im Stall sind, ansonsten sind wir dort eher selten. Ich würde vorschlagen, dass du erst mal ein bisschen auf dem Platz reitest, danach können wir zu Mittag essen und wenn alles passt, können wir zu dritt ins Gelände reiten.“

 

Ich nickte, das hörte sich nach einem vernünftigen Plan an. In der Sattelkammer, die viel größer war als man von außen annahm, standen vier doppeltürige Schränke. Sie gehörten in gleicher Reihenfolge zu den Pferden, wie sie in den Boxen standen. Also war Nummer zwei Macys, einfachheitshalber waren auf der Tür ein Bild und der Namen aufgeklebt. Im Schrank befanden sich zwei Sättel. Ein moccafarbener Dressursattel, wie er mir gleich ins Auge stach, der andere Sattel ähnelte einem Springsattel. Anna klärte mich auf, dass es sich dabei um einen Spring- und Geländesattel handele, den sie erst vor ein paar Monaten gekauft hatten. Da stellte sich mir die Frage, warum einen neuen Sattel kaufen, wenn das Tier doch eh kaum noch geritten wurde?

Ebenfalls in Mocca, hing ein Kandarenzaum am Haken, aber ebenso ein ganz normaler Trenszaum, lediglich das Stirnband fiel auf, da es aus dreireihigen Strass-Steinen bestand. Ich entschied mich für die Trense, mit Kandare wollte ich erst reiten, wenn ich das Pferd ein bisschen besser kannte.

Ich putze und sattelte Macy allein, Maya und Anna bereiteten den Reitplatz vor, was auch immer das heißen sollte.

Es war ein wunderschönes Gefühl, im Sattel zu sitzen. Die ersten Runden ließ ich die Zügel lang und horchte erst einmal auf der Tier, auf dem ich saß. Nach einigen Minuten nahm ich sie auf und stellte Macy an den Zügel. Der Wallach war super ausgebildet. Er reagierte auf die kleinste Berührung und setzte selbst schlecht gegebene Kommandos um. Ich merkte während des Reitens zwar ein paar Fehler, doch die lagen zu 99% bei mir. Ich blieb eine dreiviertel Stunde, probierte alle Gangarten und ein bisschen die Seitwärtsgänge aus. Manchmal war Macy etwas steif und geriet aus der Balance, aber das lag sicher daran, dass er seit längerer Zeit nicht mehr gefordert wurde.

Das Mittagessen bereitete ich für die beiden Mädels vor, weil sie sich beide etwas dumm anstellten. Dabei musste man die Suppe, die sie sich von Zuhause mitgebracht hatten, nur aufwärmen. Ich schnitt das Brot auf und brachte dann den Topf mit dem Brot nach draußen, wo Maya und Anna einen Tisch aufgebaut und drei Stühle aufgestellt hatten.

Es war ein einfaches, aber gutes Mittagessen. Nachdem wir das Geschirr abgespült und wieder verräumt hatten, fragte ich sie ein wenig darüber aus, was sie denn vor mir als Gegenleistung verlangten. Beim Ausmisten und sauber machen brauchte ich nicht helfen, weil ein Stallbursche angestellt war, der sich um all das kümmerte. Lediglich, wenn dieser frei hatte, kümmerten sie sich selbst darum. Also schlug ich vor, dafür zu bezahlen. Wir einigten uns auf umgerechnet 80 Euro im Monat, dafür durfte ich so oft reiten, wie ich wollte. Das war ein faires Angebot; jetzt brauchte ich mich nur noch darum kümmern, wie ich hier dann immer hinkam.

Beim Ausritt machten wir extra einen Umweg und Anna zeigte mir eine Bushaltestelle. Sie war ungefähr einen bis zwei Kilometer vom Stall entfernt, lag also noch im machbaren Bereich. Momentan konnte ich ja wirklich mit dem Rad fahren und was ich dann im Winter machte, ließ ich vorerst einfach auf mich zukommen.

Der Ausritt dauerte fast drei Stunden. Wir ritten gemütlich im Schritt, trabten an Büschen und Sträuchern, mit Vögeln darin, vorbei und fegten querfeldein über Wiesen. Wir schreckten ein paar Hasen und Vögel auf und beobachteten die Bauern bei ihrer harten Feldarbeit. Obwohl ich weder Anna noch Maya kannte und beide um einiges jünger waren als ich, hatten wir viel Spaß zusammen.

Wie versprochen holte mich David wieder ab. Elina saß neben ihm, mit dem immergleichen, dümmlichen Zombieausdruck im Gesicht. Wie konnte eine Beziehung funktionieren, bei der der eine ganz genau weiß, dass er gut aussieht und somit am längeren Hebel sitzt und dies auch schamlos ausnutzt, der andere hingegen seine Hirnfunktion einstellt und nur noch auf „Anhimmel-Modus“ läuft? Ich fragte mich ernsthaft, was daran romantisch oder auch nur schön sein sollte?

David fragte mich auf der kurzen Fahrt genauestens aus. Und je begeisterter ich antwortete, um so finsterer wurde Elinas Blick, bis sie sich eine spitze, dämliche Bemerkung nicht mehr verkneifen konnte. Das Gespräch verstummte, doch keiner reagierte so wirklich auf Elina. Zwar schoss ihr nun die Schamesröte in ihr blasses Gesicht, aber letztendlich hatte sie, was sie wollte, denn die restlichen paar Meter blieb es gespenstisch still im Auto.

Ich verabschiedete und bedankte mich rasch nachdem ich ausgestiegen war, dann ging ich, ohne auf Elina zu achten, davon. Ich hörte noch, wie David etwas zu ihr sagte, aber ich war bereits zu weit weg, um zu verstehen, was er sagte. Es war mir eigentlich auch vollkommen egal. Vorerst hatte ich keine Lust mehr, etwas mit Elina zu tun zu haben. Ihre Zickerei und unbegründete Eifersucht waren Dinge, auf die ich gerne verzichtete. David mochte ein gut aussehender Kerl sein, doch nur, weil ich mich mit ihm unterhielt, hieß es doch noch lange nicht, dass ich ihn ihr gleich ausspannen wollte.

Seitdem ich mich um das Pony Macy kümmern durfte, begann ich eine alltägliche Freizeitroutine zu entwickeln. Montagabend nach der Arbeit besuchte ich einen Pilates-Kurs mit Dana und Alex. Die beiden hatten sich nun auch endlich angemeldet, dienstags und donnerstags verbrachte ich im Stall, immer abwechselnd einmal Reitplatz, einmal Ausreiten und Mittwoch und Freitagnachmittag nutzte ich für den Einkauf oder für Hausarbeiten.

Die Telefonate mit Ewa und Magda wurden auch immer seltener, doch ich achtete sehr darauf, dass sie nicht ganz versiegten.

Das Wochenende verbrachte ich mit Deniz allein oder auch mit allen anderen. Oder wenn sie wieder einmal etwas unternahmen, was mir zu teuer war, verbrachte ich die Zeit mit Lotta und ihrer Mitbewohnerin Jana. Wir hatten uns immer mal wieder im Garten beim Essen oder beim Schwimmen im Pool getroffen. Außerdem waren wir Zimmernachbarinnen. Und so hatte sich eine kleine Freundschaft entwickelt. Beide waren sehr ruhig und geduldig– genau das Gegenteil von meinem anderen Freundeskreis -und mit Lotta konnte ich ein wenig Deutsch sprechen. Obwohl meine Rumänischkenntnisse von Tag zu Tag besser wurden, manchmal tat es einfach gut in der Muttersprache reden zu können.

Es dauerte eine Weile bis ich herausfand, dass eben diese Jana dieselbe Jana war, auf die Liviu abfuhr. Doch selbst, als ich es begriffen hatte, hielt ich mich sehr zurück. In fremde Liebesangelegenheiten mischte ich mich nicht ein, das sollten die beiden schön selbst miteinander ausmachen.

Auch dieses Wochenende verbrachten die anderen in einer der angesagtesten Diskotheken Rumäniens. Ich war einmal dabei gewesen und mal ganz davon abgesehen, dass es mein Monatsbudget für solche Dinge gesprengt hatte, ich übermäßigen Alkoholkonsum und das Einnehmen von Drogen verachtete, hatte es mir noch nicht einmal gefallen. Die Musik war zu laut und nicht mein Geschmack. Zu viele versnobte Menschen, Mädchen, die jeder Protestierten – rein äußerlich – ernstzunehmende Konkurrenz machen konnten, Kerle, die so aufgestylt waren, dass mir schlecht wurde, ließen mein Wohlbefinden stark bis in den Keller abfallen. Ich mochte so etwas gar nicht, obwohl ich gerne mal wieder zum Tanzen gegangen wäre. Angetriggert hatte das natürlich David, als Sohn eines Großkonzernbesitzers hatte man Ansprüche.

Ich hatte mich für Samstagabend mit Lotta und Jana verabredet. Da wir mittlerweile rekordverdächtige Temperaturen von über 35°C bis hin zu 40,5°C hatten, hatte ich mich für mein dünnes Sommerkleid entschieden, das ich mir während meines letzten Italienurlaubs gekauft hatte. Es war im Stil einer griechischen Templerin, luftig und weich fallend, aber türkis nicht weiß. Etwas Farbe vertrug ich gut, der blickdichte Stoff der Unterkleides endete kurz unter meinem Po, der andere spinnwebendünne Stoff reichte bis zum Boden. Dazu trug ich silberne Sandalen ohne Absatz. Im Vergleich zu den anderen beiden, war ich sehr bieder angezogen. Jana trug eine hellblaue Denim-Shorts, aus welcher der halbe Po spitzte, dazu ein weißes Häkeltop, das auf Höhe des Bachnabels in Fransen überging und Lotta hatte sich mit einem weiß-apricotfarbenen Blümchen-Minikleid aufgestylt. Das Kleid endete in etwa dort, wo mein Unterkleid aufhörte. Und dazu Schuhe mit mindestens zwölf Zentimeter Absatz. Sie sahen beide wirklich sexy aus, aber mir persönlich war es zu viel Offenherzigkeit.

Zuerst gingen wir zu unserem Lieblingsitaliener. Dort teilten wir uns (zu dritt) zwei Pizzen und eine große Schüssel knackigen Salat. Danach machten wir mit vielen anderen die Flaniermeile mit ihren vielen Bars, Cafés und Shops unsicher.

Es war ein so toller Abend mit den beiden. Wir flirteten viel, hauptsächlich mit blonden Touristen und hatten einfach Spaß. In unserer Lieblingsbar versumpften wir schließlich, erst, als sie um drei Uhr morgens zu machte, traten wir den Heimweg an. Leicht angeheitert, aber zufrieden.

Ich fiel zu Hause in mein Bett und schaute noch routinemäßig auf mein Smartphone. Deniz hatte mir zwei Stunden zuvor geschrieben: Mir ist langweilig. Alle sind high. ☹ Ich wollte es schon weglegen und ihm später antworten, doch dann entschied ich mich um: Bin betrunken, lieg jetzt im Bett.Gute Nacht!

Offenbar brauchten die Partygänger den gesamten Sonntag zur Regeneration, denn ich sah niemanden von ihnen und hörte auch von niemanden etwas und das, obwohl auch ich lang geschlafen hatte und erst gegen vier Uhr nachmittags runter zum Pool ging. Nach ein paar Runden Abkühlung im Pool lag ich einfach auf meinem Handtuch und blätterte durch ein paar Zeitschriften. Als sich ein Schatten über mich schob, drehte ich mich um, um zu sehen, wer sich da vor die Sonne gestellt hatte. Es waren die Zwillinge. Beide sahen furchtbar aus, blasse Gesichter, geschwollene und gerötete Augen und ganz gerade war ihr Gang auch nicht.

„Hey“, begrüßte ich sie, „ihr seht ja aus wie wandelnde Schnapsleichen! War’s wenigstens gut gestern?“

Liviu ließ sich ziemlich unsanft neben mich ins Gras fallen, mit dem Gesicht nach unten blieb er stöhnend liegen, das mitgebrachte Badetuch hielt er einfach fest. Ich hob eine Augenbraue. Deniz zuckte mit den Schultern. „Hat ein bisschen übertrieben, der Herr hier. Wenigsten kotzt er nicht mehr.“ Deniz faltete sein Badetuch umständlich auseinander und plumpste darauf. „War aber schon ganz cool, oder?“, fragte er seinen Bruder. Liviu hatte sein bezauberndes Gesicht mittlerweile in meine Richtung gedreht, ein Grashalm war an seiner Wange kleben geblieben. Mit geschlossenen Augen deutete er ein Nicken an. Das Geräusch, das er machte, klang zustimmend, aber irgendwie gequält.

„Wir sind seit vier Stunden hier, haben kurz geschlafen und dann hab ich dich hier unten liegen sehen. Wie war’s bei dir?“

„Ach, naja, Lotta, Jana und ich waren erst Essen, dann sind wir Cocktails trinken gegangen. Gegen halb vier waren wir dann zu Hause.“ Als ich Jana erwähnte, regte sich Liviu und öffnete die Augen. „Wie hat sie ausgesehen?“, nuschelte er in den Boden. Ich grinste breit. „Sie war schon ein Schnittchen. Der halbe Arsch hing raus, aber das ist hier ja völlig normal.“ Liviu stöhnte wieder gequält auf und schloss die Augen. Ich war mir nicht sicher, ob es ihm gefiel, was ich sagte. Ich wandte mich wieder Deniz zu. „War’s wirklich gut, ja? Was hat ihn denn so fertig gemacht?“

„Viel Alkohol, Champagner und Rum’n’Cassis. Solltest du auch mal probieren, das ist Rum mit Johannisbeersirup und jede Menge Crushed Ice.“

Ich hob eine Augenbraue. Das soll’s gewesen sein?

„Ja, und noch was“, gab Deniz schließlich zu, „aber das kannst du dir ja denken.“ Deniz hatte ziemlich brutal lernen müssen, was ich von Drogen hielt. Über dieses Thema hatten wir zum ersten Mal so heftig gestritten, dass ich damals einfach gegangen bin. Meine Reaktion hatte ihn ganz schön vor den Kopf gestoßen, seitdem bemühten wir uns beide, dieses Thema nicht anzusprechen.

„Warst du schon drin?“, wechselte Deniz abrupt das Thema. Mit dem Daumen deutete er auf den Pool.

„Ja. Ja, war ich. Das Wasser hat gefühlt 30°C. Keine wirkliche Abkühlung also.“

„Kommst du noch mal mit rein? Wenn ich jetzt rein geh?“

Ich betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. „Ist das so eine gute Idee?“, fragte ich skeptisch, „ich kann dich nicht aus dem Wasser ziehen, wenn du untergehst.“

 

„Ich habe nichts genommen, ich schwöre. Nur Champagner und das Cassis-Zeug.“

„Also gut. Gehen wir. Mal sehen, wie viele Runden du schaffst.“

Nach sechs Runden, 300 geschwommenen Metern, gab Deniz auf. Allerdings hatte er deutlich mehr geschafft als ich ihm zu getraut hatte.

Abends holte ich bei einem Straßenverkäufer gegrillte Maiskolben und harte Brezeln auf einer Schnur. Die Zwillinge nagten lustlos an ihren Kolben herum, die trockenen Salzbrezeln schienen sie lieber zu mögen. Vermutlich war das eher was für ihre geschundenen Mägen.

„Ich habe heute was über die Stadt Sighisoara gelesen, da soll ja das Geburtshaus von Vlad Tepeş sein. Ist das weit von hier?“

„Vielleicht 100 Kilometer“, nuschelte Liviu.

„Doch so weit?“, bemerkte ich traurig. Ich hatte gehofft, dass es näher lag.

„Eine gute Stunde mit dem Auto.“ Deniz zuckte mit den Schultern. „Du warst da also noch gar nicht? Wir können ja mal hinfahren.“

„Viel zu heiß“, mischte sich auch wieder Liviu ein.

„Können wir doch auch Ende September hin, wenn es keine 40°C mehr hat. Sighisoara läuft nicht weg, außerdem sind da jetzt viele Touristen.“

Ich verdrehte die Augen. Die Rumäner hatten eine ganz andere Vorstellung von Touristenmengen. „Wenn du Schloss Neuschwanstein in der Hauptsaison besucht hast, kannst du sagen, dass dort viele Touristen sind, aber hier habe ich noch nie viele Touristen gesehen. Aber macht nichts, ich komm da auch allein hin. Ihr braucht euch in euren Semesterferien natürlich nicht überanstrengen. Schloss Bran habe ich mir ja auch ohne euch angeschaut.“

„Sei doch nicht gleich eingeschnappt. Nur weil mein Bruder keine Lust hat, heißt es nicht, dass auch ich keine Lust habe. Elina wollte da auch mal hin, wenn ich mich recht erinnere. Sie wollte schon immer mal die hundert Stufen zur Schäßburger Bergkirche gehen.“

„Elina?“ fragte ich weniger begeistert. Seit unserem letzten Treffen mit ihrem Freund hatte ich kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Deniz seufzte, er verstand nicht, weshalb mir Elina immer unsympathischer wurde.

„Wenn Elina mitfährt“, warf Liviu ein, „habt ihr einen Fahrer. David kutschiert sein Schätzchen doch überall hin.“

Ja, da hatte er leider Recht.

Wie durch ein Wunder kündete der Wetterbericht Regen und einen Temperatursturz für das Wochenende an. Bei 25°C und einer Regenwahrscheinlichkeit von 65% war ein Städteausflug nicht ganz verkehrt. Trotzdem waren wir nur zu fünft: David, der Fahrer, Elina, die mich behandelte als wäre ich Luft, Deniz, der es mir versprochen hatte, Andrej, dem einfach nur furchtbar langweilig war und ich. Wir standen untern an der Straße, pünktlich um halb zehn. Ich hielt Ausschau nach Daivd’s BMW. Doch anstelle des mattschwarzen 1ers kam ein riesiger Geländewagen von Mercedes-Benz auf uns zugerollt. Tiefschwarz, mit Lederausstattung und die Mittelkonsole aus protzigem Holzimitat. In dem Auto hatten wir zu fünft ohne Probleme Platz. Die ganze Fahrt lang schaute ich aus dem Fenster. Ich sah am Straßenrad Zigeuner sitzen, die dort unterschiedlichste Waren verkauften: Destillen und andere Glasgeräte, Kessel, aber auch Schnaps oder Käse. Wir fuhren an zwei toten Straßenhunden vorbei. Einer war schon halb verwest, beim anderen lief noch das Blut aus dem Maul. Ich sah schnell woanders hin. Solche Bilder gehörten zum rumänischen Alltag, trotzdem traf es mich immer wieder. Auch das Elend in den kleinen Dörfern machte mir zu schaffen. Ich versuchte, es, so gut es ging, auszublenden, aber es gelang mir nicht wirklich.

„Was macht das Reiten?“, durchschnitt eine Stimme das Schweigen. Es brauchte einen Moment bis ich die Frage registrierte und als an mich gerichtet zuordnete. David sah mich über den Rückspiegel an.

„Ganz gut. Passt alles.“ Ich wollte wieder aus dem Fenster schauen, da schob er gleich die nächste Frage nach. Und dabei sah er immer wieder in den Rückspiegel, um Augenkontakt zu halten. Vielleicht hatte er mir angesehen, worüber ich nachdachte und wollte mich gnädigerweise ablenken oder ihn störte das Schweigen in der Fahrzeugkabine. Vielleicht interessierte ihn aber auch tatsächlich meine Meinung zu den Pferden oder er tat das alles nur, um Elina zu ärgern.

David stellte den Mercedes auf einem bewachten Privatparkplatz ab. Vermutlich die einzige Möglichkeit, ein solch auffälliges Auto zu parken, ohne das Risiko einzugehen, dass es jemand während unserer Abwesenheit klauen könnte .

Es war kurz vor elf und wir beschlossen zunächst, nur ein wenig durch die Stadt zu schlendern.

Mir gefiel Sighisoara, zu Deutsch Schäßburg, sehr gut. Ich entdeckte bei dem Panoramablick auf das Städtchen deutliche Parallelen zu deutschen Städten. Doch es war in sich etwas Besonderes. An den alten Handwerkshäusern standen teilweise die Namen der Leute, die dort gewohnt hatten und, welchem Handwerk sie nachgegangen waren.

Auf unserem gemütlichen Spaziergang durch die Stadt kamen wir an einem aus dem Mittelalter stammenden Laudator vorbei, der diverse Neuigkeiten auf Rumänisch verkündete.

Tatsächlich waren einige Touristen unterwegs. Sie schienen, wie wir, das tolle Wetter bei einem Spaziergang zu genießen. Vor unserer Ankunft musste es geregnet haben, denn die Straßen und Gassen waren nass, in der Luft lag noch Feuchtigkeit und vereinzelte Wolken wiesen auf Regen hin. Aber die Sonne schickte ihre Strahlen bereits wieder hinunter, hie und da bildeten sich richtige Dampfwolken über der Straße, eben dort, wo das Wasser verdunstete.

Es gab jede Menge Souvenirs zu Tepeş sowie andere rumänische Dinge, angeboten in kleinen, urigen Lädchen oder direkt beim Straßenhändler. Ich kaufte ein paar Kleinigkeiten für meine Familie. Besonders glücklich war ich über eine Postkartensammlung zum Thema Tepeş. Mein Vater hatte kaum Hobbys, doch eines mochte er gern. Er sammelte von überall her Postkarten. Große, kleine, Ansichtskarten oder Spruchkarten, mit verschiedenen Motiven oder Ansichten. Über diese zehn Postkarten würde er sich bestimmt sehr freuen.

Im angeblichen Geburtshaus Draculas befand sich heute ein Restaurant, mit überteuerten Preisen. Doch schon allein die düstere, mittelalterliche Einrichtung war es wert, dort vorbeizuschauen. Ich aß eine Art Gulaschsuppe im Brotlaib, was ich total toll fand. Gestärkt vom Mittagessen, machten wir uns auf den Weg zu einem deutschen Gymnasium. Wer dort zur Schule ging, durfte jeden Tag erst hundert Stufen hochlaufen und später wieder hundert Stufen nach unten. Es war anstrengender als erwartet.

Ein weiteres Stück oben befand sich die Bergkirche, wegen der Elina überhaupt mitgekommen war. Die Kirche und ihre Umgebung waren wirklich schön. Ich mochte das alte Gemäuer und schoss ein Bild nach dem anderen. David, Andrej und Deniz suchten sich sofort ein schattiges Plätzchen zum Hinsetzten, während Elina und ich das Gebäude erkundeten.

Nach einer halben Stunde kehrte ich zu den anderen zurück. Doch es saß nur noch David auf der Bank, keine Spur von den anderen. David streckte der Sonne sein – ohnehin schon sehr dunkles – Gesicht entgegen. Ich ließ mich neben ihm, mit ausreichend Abstand, auf die Bank fallen. Unter uns breitete sich eine wunderbare Sicht über die Stadt aus.

„Und, gefällt es dir hier?“, fragte er ohne das Sonnenbad zu unterbrechen.

„Was meinst du genau? Sighisoara oder allgemein.“

„Allgemein, deine neue Heimat Transsilvanien“, er untermalte den Satz mit einem schaurigen Lachen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?