Die letzte Seele

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Die letzte Seele
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Lars Burkart

Die letzte Seele

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Impressum neobooks

Kapitel 1

Die größte Freude im Leben ist es, seine Feinde erbarmungslos zu schlagen und zu töten, ihre Pferde zu reiten und ihre Frauen und Töchter zu schänden.

Dschingis Khan

1. Kapitel

Die Haut seines Gesichts hing schlaff an den Knochen herunter, seine Muskeln waren lasch und weich wie ein nasser Waschlappen, und von einer Sekunde auf die andere wechselte seine Farbe von rosig-gesund zu aschfahl-kalkweiß. Ausdruckslos blickten seine Augen ins Leere.

Es war noch keine fünf Minuten her, da war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Nicht perfekt, aber wer konnte das schon behaupten? Aber er hatte sein Einkommen, zwei wundervolle Kinder, die ihn vergötterten und für die er der Größte war, einen Beruf, den er liebte und natürlich eine Frau, die ihn liebte. Bis gerade eben dachte er das zumindest. Umso überraschender war es, dass sie ihm eröffnete, dass sie die Kinder schnappen und ihn verlassen würde.

Die Worte brannten noch nach in seinem Kopf, schnitten sich scharf wie ein Skalpell in sein Hirn, tiefer und tiefer. Sie ließen auch nicht locker, als sie schon längst das Haus verlassen hatte und er allein im Arbeitszimmer saß.

Sie ist weg. Sie ist weg.

Jetzt, da er allein war, bemerkte er erst, dass sie noch nicht einmal versucht hatte schonend zu sein. Sie war einfach mit der Nachricht herausgeplatzt, so wie ein Wasserhahn losspritzt, bei dem die Dichtungen spröde sind. Sie hatte es nicht für nötig gehalten, ihn vorzuwarnen, ihn auf das, was kommen sollte, vorzubereiten. Sie hatte einfach damit losgedonnert, als würde sie beim Italiener um die Ecke eine Pizza bestellen – aber bitte mit einer Extraportion Käse! Oder als hätte sie ihren Friseur wissen lassen, wie sie sich ihre Frisur vorstellte: Mein Lieber, es kann ruhig ein bisschen frech sein. Sie wissen schon, so richtig schön jung und peppig. Aber auf keinen Fall zu kurz, hören Sie, um Himmels Willen nicht zu viel weg!

Warum hatte sie das getan? Wie konnte sie nur einfach so gehen und ihrer beider Leben so drastisch ändern? Hatte sie es angedeutet? Und wenn ja, wie hatte ihm das entgehen können? Wie hatte er so blind sein können?

Er wusste es nicht. Aber er wusste: Es war nicht seine Schuld. Aber er gab auch nicht ihr die Schuld, jedenfalls noch nicht. Er war sicher, dass das noch früh genug geschehen würde.

Aber jetzt noch nicht. Momentan wollte er nur dasitzen, einfach nur dasitzen und nachdenken. Nahdenken über das, was geschehen war.

Ihre Augen waren das einzige, woran er sich noch genau erinnern konnte, der Rest lag irgendwo in einer nebelhaften Vergangenheit. Sie waren traurig gewesen (war nicht sogar eine kleine Träne die Wange hinuntergerollt?), hatten gleichzeitig aber auch so etwas ausgedrückt wie Hoffnung.

Er war irritiert. Schon als sie sein Zimmer betrat, spürte er, dass etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht. Und schon zu diesem Zeitpunkt, als er noch nichts von dem ahnte, was da alles auf ihn zukommen sollte, wäre es ihm lieber gewesen, sie hätte kehrtgemacht und alles beim Alten belassen. Es einfach so belassen, wie es war. Der einzige Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war: die Kinder. Was ist mit ihnen? Was ist mit den Kindern?

Jeannine schien seine Gedanken zu erraten.

„Nein, nein, nicht die Kinder.“

Da das so ziemlich alles war, was ihm einfallen wollte, entspannte er sich etwas und atmete aus. Doch ihr Blick, der jetzt noch bekümmerter wirkte, verriet ihm, dass die traurige Nachricht (und um eine solche handelte es sich zweifellos) noch keineswegs aufgedeckt war. Er sah sie an mit großen, fragenden Augen und war sich nicht mehr sicher, ob er es überhaupt noch wissen wollte.

Ihre Augen hatten noch immer diesen todtraurigen Ausdruck. Doch obwohl sich zu der Träne noch eine zweite gesellt hatte, drückten sie noch immer eine gewisse Hoffnung aus. Was, zum Teufel, will sie mir sagen, fragte er sich. Ihm wurde immer unbehaglicher in seiner Haut, und nervös rutschte er auf seinem Stuhl herum, als hätte er ein übles Brennen zwischen den Arschbacken.

Paul fragte noch einmal, was los war. Sie räusperte sich und machte Anstalten zu sprechen. Jetzt wäre er am liebsten aufgesprungen und hinausgerannt. Er wollte es gar nicht wissen. Aber ihr Blick fesselte ihn an seinen Platz.

„Paul“, begann sie mit stotternder und zugleich weinerlicher Stimme, bei der ihm schlecht wurde, „wir müssen reden.“

Sein Körper verkrampfte sich, aber sein Gesicht strahlte sie dümmlich an. Er wollte dieses Grinsen abstellen, konnte aber nichts dagegen tun. Es blieb wie in sein Gesicht gemeißelt, also grinste er weiter. Seine Hände waren schweißnass, und da sie auf den Oberschenkeln ruhten, war die Hose schon ein wenig klamm.

„Nun sag schon! Was bedrückt dich? Du kannst mir alles sagen, das weißt du.“

In ihren Augen blitzte kurz etwas auf.

„Paul, ich … ich werde dich verlassen.“

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Und war auch mindestens ebenso verheerend. Vor Überraschung erschlaffte sein Körper wie Butter in der Sonne. Seine Beine waren plötzlich weich wie zu lange gekochte Spaghetti. Er wollte sich an den Armlehnen festhalten, aber er war zu keiner Bewegung imstande. Er konnte nur hoffen, nicht wie ein Kartoffelsack zu Boden zu sinken. Sogar das blöde Grinsen war von seinen Lippen verschwunden. Was hat sie da eben gesagt? Wir lieben uns doch! Wie kann sie so etwas sagen? Weiß sie denn nicht, wie weh sie mir damit tut?

Sein Gesicht musste eine Sekunde abwesend gewirkt haben, denn sie fragte jetzt: „Paul, hörst du mir überhaupt zu? Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“ Die Stimme klang wütend, und Paul konnte es nachvollziehen. Sie konfrontierte ihn mit der Wahrheit, mit etwas, was sie beide anging. Und ihm schien es gar nicht zu interessieren. Aber was sollte er tun? Er stand unter Schock, wie ein Mann, der gerade einen schweren Verkehrsunfall überstanden hat und der über die Straße irrt ohne zu wissen, wer er ist und wo er ist.

 

Er hob schwach den Arm; er wusste nicht, was er antworten sollte. Er schien zehn Tonnen zu wiegen. Was sollte man in so einer Situation sagen? Und selbst wenn er etwas hätte sagen wollen: Er war außerstande, auch nur ein Wort zu sprechen. Sein Mund war so trocken wie Wüstenstaub.

Jeannine, die davon nichts bemerkte, sagte schließlich mit einem so ernsten Ton, dass man meinen konnte, sie verläse einen Exekutionsbefehl: „Ich nehme die Kinder mit. Und gehe. Unter diesem Dach ist kein Platz mehr für mich. Versuch bitte nicht, mich aufzuhalten. Es wäre sinnlos. Erspar uns diese peinliche Szene.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um, verließ das Zimmer und das Haus, ging, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, zu ihrem Wagen und fuhr davon, die Kinder auf der Rückbank. Während sie das tat, hätte Paul Zeit gehabt, aufzuspringen, hinter ihr herzujagen, sie nach dem verdammten Grund zu fragen. Er hätte versuchen können, sie aufzuhalten. Aber er tat nichts dergleichen. Seine Knochen waren noch immer weich wie warmer Gummi, und bewegungslos blieb er auf dem Stuhl.

Es war still. Nur hin und wieder fuhr draußen ein Wagen vorbei, was klang wie das Summen einer Mücke. Deshalb hatten sie damals dieses Grundstück gekauft: wegen der Ruhe. Weil es hier am Wald so schön abseits der Straße lag, dass man sie fast vergessen konnte.

Beim ersten Motorgeräusch hatte er noch geglaubt, sie käme zurück, wäre wieder zur Besinnung gekommen. Als der Fahrer aber keine Anstalten machte, langsamer zu werden und der Motor nicht lauter wurde, sondern leiser, begriff er allmählich, was geschehen war. Sie hatte ihn verlassen. Sie war weg, endgültig weg. Mit den Kindern.

Jetzt war es, als reiße ein Knoten in ihm, und er begann zu weinen. Die Tränen rannen ihm nur so die Wangen hinunter, brannten auf seiner Haut und schmeckten scheußlich. Er wollte sie wegwischen, wagte es nicht, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Noch immer war er außerstande, sich zu bewegen. Stattdessen schniefte er nur und blieb sitzen wie ein Angeklagter, über den ein unbarmherziges Urteil gesprochen worden ist.

Eine Mücke summte heran. Er konnte ihre Flugbahn mit den Augen verfolgen, aber es war ihm unmöglich, auch nur den kleinen Finger zu rühren, geschweige denn, den Arm, um sie wegzuscheuchen. Das Mistvieh schwirrte noch eine Weile um seinen Kopf, als überlege es, ob Gefahr bestand. Schließlich ließ es sich auf seiner Unterlippe nieder. Anscheinend war es zu dem Ergebnis gekommen, dass es ungefährlich war. Dann bohrte es seinen Saugrüssel in seine dünne, von Tränen aufgeweichte Haut. Paul konnte es spüren, aber er konnte nichts dagegen tun. Die Mücke blieb, bis sie sich vollgesogen hatte. Dann flog sie davon, deutlich träger als zuvor. Ihr Bauch war rot und fett.

Nach und nach löste sich seine Starre. Zuerst spürte er in den Zehen und Fingern, dass Leben in ihn zurückkehrte. Er begrüßte diese Empfindung und wackelte mit ihnen. Und während er das tat, löste sich auch die Starre im Rest seines Körpers. Endlich konnte er aufstehen. Wie ein Blitz rannte er zum Fenster und sah auf die Straße. Doch es war zu spät. Sie war schon weit weg.

Arme und Beine kribbelten noch, als wären sie gerade eben erst erwacht, während er noch am Fenster stand und hilflos hinausschaute. Die Straße war, abgesehen war von wenigen Autos, leer und trostlos. Er schwitzte plötzlich, obwohl es gar nicht warm war. Dennoch lief ihm die Brühe nur so runter, als wäre er ein Gewichtheber, der in der zwölften Wiederholung eine Zweihundertkilo-Hantel stemmt.

Gedankenverloren starrte er in den Garten, beobachtete, wie der Wind mit den Blättern spielte, sie ausgelassen umhertrieb. Wie schnell die Dinge sich verändern konnten. Gerade eben noch hatte er an seinem Schreibtisch gesessen und seine Welt war in Ordnung gewesen, und jetzt, nur Minuten später, musste er mit ansehen, wie sein Leben vor seinen Augen zu Trümmern zerfiel. Hastig drehte er sich um und verließ das Zimmer, wobei er sich immer noch an allem, was er erreichen konnte, festhielt.

Auf einmal war seine Kehle trocken und rau wie Sandpapier. Er begrüßte dieses Gefühl fast, denn es lenkte ihn ab von den seelischen Schmerzen. Mit jeder Sekunde wurde es unangenehmer, und er befürchtete schon, jämmerlich zu verdursten, wenn er nicht bald etwas zu trinken bekam. Also stürmte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, glotzte hinein und griff schließlich nach dem erstbestem, was ihm in die Finger kam – eine Flasche Cola. Die Kohlensäure kribbelte in seiner Kehle, und er trank gierig. Er spürte Schmerzen wie spitze Dolche hinter seiner Stirn. Es war eindeutig zu kalt, aber er konnte nicht mit dem Trinken aufhören. Das Ziehen und Stechen hinter seiner Stirn wurde stärker, aber es war einfach zu köstlich, fühlte sich zu gut an, um aufzuhören. Leider verging dieses Wohlgefühl schnell, und zurück blieb nur eine quälende, dunkle Leere.

Paul sah noch einmal in den Kühlschrank. Diesmal wollte er etwas Härteres, etwas, das seine Stimmung hob. Zuerst übersah er es und wollte schon lautstark fluchen. Es war aber auch schwer zu finden – vor allem hinter tonnenweise Pudding und halbleeren Punica-Flaschen. Dann, auf den zweiten Blick, sah er es endlich. Als ob die Flasche Jack Daniels sich vor ihm verstecken könnte, ha, da lachten ja die Hühner! Mit einer einzigen Bewegung war der Verschluss abgeschraubt, die Flasche zum Mund geführt und ein langer Schluck genommen. Obwohl der Whiskey eiskalt war, brannte er im Hals, und als er endlich in seinen Magen schwappte, glaubte er, ein Buschfeuer brodele in ihm. Wärme durchströmte seinen Körper, und bevor sie nachlassen konnte, schüttete er noch etwas hinterher.

Obwohl er wusste, dass es eine bescheuerte Idee war, wollte er sich hemmungslos besaufen. Er wollte die ganze Flasche trinken. Und, falls er dann noch aufrecht stehen konnte, eine zweite.

Ohne darüber nachzudenken, was er tat und warum, schlich er durchs Haus. Es war ein großes Haus, zu groß für ihn allein. Aber so war es ja auch nie gedacht gewesen. Sie hatten es damals mit der Absicht bauen lassen, den Kindern Platz zum Spielen zu geben. Jetzt waren sie alle weg: Jeannine, die Kinder. Alle waren verschwunden, und das Haus war ebenso verlassen wie er selbst.

Die Schritte hallten in den großen Räumen – ein seltsames Geräusch, eines von der Sorte, das nicht hierhergehörte. Hier sollte fröhliches Kinderlachen ertönen, ausgelassenes Quietschen und Kreischen, aber nicht die schlurfenden Schritte eines verlassenen Mannes. Er lief durch das ganze Haus. Überall stieß er auf Splitter, schmerzende Bruchstücke seines Lebens. Seines zerstörten Lebens.

Der Anblick der großzügigen Küche (Jeannine hatte sie immer als ihr Revier bezeichnet) schmerzte, als würde ihm ein rotglühender Stab ins Herz getrieben werden. Auf dem großen Tisch hatte sie immer das Essen serviert. Sie hatte es geliebt, für ihn zu kochen, und ihm hatte es immer geschmeckt. Wann hatte er ihr das zum letzten Mal gesagt? Er hatte nicht die Spur einer Ahnung.

Jetzt stand er im Flur, nicht weit vom Schlafzimmer. Wollte er hineingehen? Paul schauerte vor dieser Tollkühnheit. Aber wovor hatte er Angst? Es war doch nur ein Schlafzimmer, das Zimmer, in dem er die Nächte mit Jeannine verbracht hatte. In dem sie sich geliebt hatten, in dem aber auch schon mal die Fetzen geflogen waren. Es war nur ein Zimmer, weiter nichts. Dennoch hatte er mehr als nur Angst vor dem, was ihn dort erwartete.

Der Raum war dunkel und angenehm kühl. Die Vorhänge waren zugezogen. Eine neue Welle aus Schmerzen sauste heran wie eine Dampflok, zischend und fauchend. Sie warf ihn fast zu Boden. Seine Tränen, schon fast getrocknet, flossen abermals. Sein Herz hämmerte und drohte zu explodieren. Er wollte zurück, wollte den Raum verlassen, zu groß, zu gewaltig waren die Erinnerungen, die auf ihn einstürzten. Aber er biss die Zähne zusammen und blieb.

Seine Augen durchstreiften das Zimmer. Alles, alles hier erinnerte ihn an den Verlust: Die schneeweißen Gardinen. Sie hatte sie ausgesucht und eigenhändig angebracht. Er erinnerte sich genau. Er hatte ihr helfen wollen, und sie hatte ihn davongejagt wie einen tollwütigen Hund. Ja, so war sie, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ist schon komisch, was einem so einfällt, wenn das eigene Leben den Bach runtergeht. Das bequeme Wasserbett, das mitten im Zimmer stand, links und rechts am Kopfende gesäumt von einer künstlichen Palme: Hier hatten sie sich geliebt. Hier war ihre Spielwiese gewesen.

Langsam näherte er sich dem Bett, wobei er darauf achtete, dem Kleiderschrank nicht zu nahe zu kommen. Dabei fragte er sich, warum seine Türen offen standen. Einen Augenblick später wusste er es: Sie hatte ihre Kleider mitgenommen. Alles. Von den Socken bis zu den T-Shirts, von den Hosen bis zu den innig geliebten Hüten. Sogar den BH, den er ihr vor Jahren geschenkt hatte, der ihr aber viel zu groß war.

Paul überlegte kurz sinnlos, ob sie eine Tasche bei sich hatte, gab es aber schnell wieder auf, weil er sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte. Mit hängenden Schultern ging er weiter, vorbei an den Zeugen ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Plötzlich drehte er sich einmal um seine Achse, und das Zimmer rauschte an ihm vorbei. Dann ein zweites Mal, diesmal schneller. Es war wie ein Rausch, wie das Eintauchen in eine fremde, eigentümliche Welt, wo alle Umrisse zu geisterhaften Schemen verschwammen. Dann verlor er das Gleichgewicht, stürzte der Länge nach aufs Bett und blieb reglos liegen. Die Matratze unter ihm schwippte und schwappte, und er genoss das Gefühl des Treibens. Er dachte an das letzte Mal, als sie miteinander geschlafen hatten. Wann war das gewesen? Vor sechs Tagen? Vor sechs Wochen? Paul musste sich eingestehen, dass auch diesmal seine Chancen schlecht standen. Was denn, sollte es schon sechs Monate her sein? Das traf es schon eher. Aber, um ehrlich zu sein: Es lag noch ein Stück weiter zurück in der Vergangenheit. Mit Entsetzen erkannte er, dass es ihm nicht möglich war, sich zu erinnern. Nur so viel war sicher: Es war schon viel zu lang her. Und nun formte ein Gedanke sich hinter seiner Stirn. Ein Gedanke, den zu denken er bis vor kurzem nie imstande gewesen wäre: Hatte es sich durch etwas angekündigt? Eine berechtigte Frage. Schließlich geschah so etwas nicht von heute auf morgen. Und wenn es sich angekündigt hatte, warum hatte er es nicht gespürt? Er drehte sich um, vergrub das Gesicht in dem Kissen, das einmal ihres gewesen war und heulte wie ein Schlosshund. Ihr Duft kroch ihm in die Nase, und er wollte schon vor Freude aufspringen (Gott sei Dank, nun würde alles wieder gut werden!), als er begriff, dass der süßlich-angenehme Duft nur aus dem verdammten Kissen kam.

Dann kam ihm noch etwas in den Sinn. Etwas, das ausreichte, noch das letzte bisschen Beherrschung zu verlieren. Voller Wut auf sich selbst und auf alles um sich herum schmiss er die halbleere Flasche an die Wand, wo sie scheppernd zerbrach. Hätte er es verhindern können? Hätte er es verhindern können, wenn er es nur geahnt hätte? Wenn er es hätte kommen sehen?

Sie hatte ihm stumme Signale gesendet, da war er sich sicher. Aber erst jetzt, da es zu spät war, verstand er sie. Sie hatte es im Sanften versucht, hatte mit ihm reden wollen, über die Probleme, die sie beschäftigten und die sie oft nachts wach liegen ließen. Schließlich, nachdem es auf die sanfte Tour nicht funktionierte, hatte sie die Holzhammermethode angewandt. Sie verweigerte ihm den Sex und war sogar allein in den Urlaub gefahren. Hatte er ihr je gesagt, dass er sie vermisste? Dass er die ganze Zeit an sie denken musste? Sie war abends öfter ausgegangen und jedes Mal später nach Hause gekommen. Aber hatte er sie je gefragt, wo sie gewesen war? Mit wem? Und ob sie sich amüsiert hatte? Nein, kein einziges Mal.

„Ich war so ein Arschloch“, hörte er sich laut sagen, „ich war so vertieft in meine verdammte Scheißarbeit, dass ich gar nicht merkte, wie meine Ehe zerbrach. Ich war ja so ein egoistisches Arschloch!“ Er jaulte wie ein Hund. „Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich gar nicht merkte, wie meine Frau sich mehr und mehr von mir entfernte,“ Und während er das sagte, begriff er den Sinn der Worte. Er begriff ihn mit aller Grausamkeit.

Ihm lag noch so viel auf der Zunge. Er wollte sich beschimpfen, sich einen Hurensohn nennen, weil er so ein verdammter Idiot war. Aber so weit kam er nicht. Aus seinem Mund drang nur ein unverständliches Krächzen und Wimmern. Diesmal versuchte er gar nicht erst, sich zu beruhigen. Es waren Tränen, die geweint werden mussten. Außerdem hegte er die vage Hoffnung, dass mit ihnen auch ein Teil des Schmerzes herausgespült würde.

 

Doch irgendwann waren auch diese Tränen versiegt, und langsam trottete er aus dem Schlafzimmer. Er ging in die Küche, steuerte in Richtung Kühlschrank, öffnete die Tür und erschauerte kurz, als die kalte Luft die Haare an seinen Beinen berührte. Dann nahm er die zweite Flasche Whiskey. Die darf ich nicht zerdeppern, sonst sitze ich auf dem Trockenen.

Wenige Minuten später stand Paul im Arbeitszimmer und starrte auf den Schreibtisch. Das Notebook war aufgeklappt, aber am liebsten hätte er es gegen die Wand gefeuert. Er konnte nicht mehr verstehen, dass er so viele Stunden, in denen seine Ehe den Bach hinuntergegangen war, vor ihm gesessen und wie ein Besessener gearbeitet hatte. Er nahm einen tiefen Schluck, genoss das Brennen und klappte den Bildschirm mit einer einzigen Bewegung herunter. Dabei kam ihm in den Sinn, dass das zu spät war, dass er es schon früher hätte tun sollen. Er kläffte sein Gewissen an, dass das unwichtig sei und es gefälligst sein dämliches Maul halten sollte. Arschloch, verdammtes, fügte er in Gedanken hinzu. Paul stockte eine Sekunde und fing wie irrsinnig an zu lachen. Wow, dem hast du’s aber gegeben, das muss dieser verdammte Schweinehund erstmal verdauen, was?

Er ließ sich rücklings auf den Drehsessel fallen, warf die Beine auf den Tisch, kickte das Notebook weg und starrte ihm hinterher, als hätte er noch nie in seinem Leben ein solches Ding zu Gesicht bekommen. Was kann das nur sein? Man kann es auf- und zuklappen, und dann hat es auch noch so viele Knöpfe mit so komischen Zeichen darauf. Oh, das ist aber ungeheuer spannend, ist es. Ja, du verdammtes Mistding, du bist an allem schuld! Wegen dir ist mein Leben jetzt ein Trauermarsch!

Das ging ihm durch den Kopf, als es scheppernd auf dem Boden aufschlug. Ob es dabei demoliert wurde, ging ihm am Arsch vorbei. Und auch über diese Gleichgültigkeit meinte er sich fast kaputtlachen zu müssen.

Paul hoffte inständig, sein Heiterkeitsausbruch würde eine Weile andauern. Doch schon während er noch dafür betete, verabschiedete sich der kurze Moment schon mit Pauken und Trompeten und hinterließ nur wieder diese düstere, traurige Leere. Langsam rannen Tränen über seine Wangen.

Wie lange saß er nun schon so da? Die Beine auf dem Tisch, tief im Schreibtischsessel versunken und die Augen starr zur Zimmerdecke gerichtet? Zehn Minuten? Eine Stunde? Oder vielleicht zwei? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber es musste schon ziemlich lange sein, denn als er Anstalten machte sich aufzurichten, kribbelten seine Beine, als spaziere er mit kurzen Hosen durch ein Brennnesselfeld. Er stöhnte. Seine Tränen waren inzwischen getrocknet, aber ihm war bewusst, dass sie noch lange nicht versiegt waren. Er blickte sich langsam um und sah noch etwas anderes. Falls er zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel gehegt hatte, lange weggetreten gewesen zu sein, waren diese nun widerlegt. Denn es war schon fast dunkel. Es mussten Stunden gewesena sein.

Paul kämmte mit der Rechten sein dünnes Haar, und jetzt machten sich die ersten Wehen eines herannahenden Kopfschmerzes bemerkbar. Und da er auch verdammt durstig war, nahm er schnell noch einen Schluck aus der Pulle, der nun aber gar nicht mehr so gut schmeckte. Der Whiskey hatte jetzt Zimmertemperatur, und da kann man mit alkoholischen Getränken viel machen, sich zum Beispiel die Füße damit waschen, aber auf keinen Fall sollte man sie noch trinken. Kein Mensch säuft so eine Plärre, wenn sie warm ist wie Ochsenpisse – es sei denn, man ist hemmungsloser Alkoholiker. Obwohl Paul genau das durch den Kopf ging, setzte er die Flasche erst ab, als sie leer war. Scheiß auf den schlechten Geschmack! Scheiß auf alles! Hauptsache, es knallt ordentlich!

Während er so dasaß, den Alkohol wirken ließ und versuchte, seine morschen Knochen wieder zum Leben zu erwecken, sah er, dass sein Notebook eigenartigerweise genau an der Stelle stand, wo es gestanden hatte, bevor er es mit einem saftigen Tritt zu Boden geschleudert hatte. Später meinte er, sich vage daran zu erinnern, dass er sich gefragt hatte, wie das verdammte Drecksding bitteschön wieder auf den Tisch gekommen war.

Seine Arme und Beine kribbelten, als liefen Milliarden Ameisen darüber hinweg. Nach und nach verschwand dieses unangenehme Gefühl aber wieder, und dadurch bekam der andere Schmerz wieder Raum, um ihn zu peinigen: der Schmerz über den Verlust seiner Frau. Und im Gegensatz dazu war ihm das Kribbeln wesentlich lieber.

Die Uhr an seinem Handgelenk verriet ihm, dass es inzwischen zehn vor zwölf war. An einem normalen Tag wäre er jetzt schon seit einer Stunde im Bett gewesen. An einem normalen Tag hätte er fünf bis zehn Seiten geschrieben und wäre dann in den Tennisclub gefahren. Oder er hätte sonst irgendetwas gemacht. Aber heute war kein normaler Tag, nicht mal ein halbwegs normaler. Er hatte weder gearbeitet noch die Zeit sonst sinnvoll genutzt. Und da heute ohnehin schon alles durcheinander war, verzichtete Paul darauf, pünktlich zu Bett zu gehen und entschied sich vielmehr, in der Kneipe noch einen trinken zu gehen.

Das Hin- und Zurückkommen würde kein Problem sein. Er würde einfach über das Feld gehen und bis zur Stadt laufen, eine Sache von dreißig Minuten. Ein einfacher Weg mit dem Vorteil, dass er nicht Auto fahren musste. Denn dazu war er nicht mehr in der Lage.

Als Paul am nächsten Tag erwachte (es war bereits weit nach Mittag), fand er sich mit dem Kopf am Fußende seines Bettes wieder. Er fühlte sich hundeelend. Soweit er sich daran erinnern konnte, hatte er in der Kneipe ordentlich einen über den Durst getrunken. Er hatte sich das Spezialgetränk des Hauses mixen lassen. Er konnte zwar kaum die Hälfte der Zutaten aussprechen, aber dennoch hatte er sich einen halben Liter davon kommen lassen und war mit dem Glas in der Hand unter den neugierigen Blicken des Barkeepers in eine dunkle Ecke verschwunden.

Das Glas war voll bis zum Rand und verströmte einen eigenartigen Geruch, scharf und brennend. Einer von diesen Gerüchen, bei denen einem schon die Augen tränen, wenn man nur nahe an sie herankommt. Paul wusste nur zu gut, dass es hochprozentiges Zeug war, das einem durchschnittlich begabten Trinker schnell das Genick brechen konnte. Aber er war noch nicht einmal ein durchschnittlicher Trinker. Wenn er einmal im Monat einen doppelten Whiskey oder eine Flasche Bier trank, war das schon viel.

Gedankenverloren blickte er in das Glas und beobachtete sein Gesicht, das sich in der dunklen Flüssigkeit spiegelte. Er konnte alles erkennen: die Fältchen um die Augen, die kleine Narbe in der rechten Braue, die er sich zugezogen hatte, als er als Kind beim Spielen gegen eine Wäscheleine gelaufen war, die Nase, die seit einer Klopperei während der Schulzeit (Gott, ist das lange her. Ich weiß gar nicht mehr, worum was es da ging … bestimmt um ein Mädchen. Es geht ja immer um Mädchen) ein paar Beulen und Unebenheiten trug. Leider konnte er auch seine Augen sehen, die vom Weinen rot und verquollen waren.

Er griff in die Hemdtasche, wo er die Zigaretten aufbewahrte. Er öffnete sie, fingerte ungeschickt eine heraus, steckte sie in den Mund und zündete sie an.

Der Rauch drang in seine Lunge, und um ein Haar hätte er den Tisch vollgekotzt. Während er noch versuchte, seinen Mageninhalt zu behalten, überlegte er, wie lange er schon keine Kippen mehr angefasst hatte. Mussten mindestens zehn Jahre sein. Aber hundertprozentig sicher war er nicht, auf jeden Fall eine verdammt lange Zeit. Es war ihm damals schwergefallen, es sich abzugewöhnen und er hatte mehr als einen Anlauf gebraucht, aber schließlich war es ihm gelungen. Zumindest bis heute. Gratulation.

Jetzt war ihm nicht nur speiübel, sondern auch schwindelig, und alles drehte sich. Dennoch zog er wieder an der Kippe, hustete jämmerlich und hasste Jeannine für alles, was sie ihm angetan hatte. Er hasste sie, weil sie dafür verantwortlich war, dass er jetzt hier saß, eine Kippe in der einen und ein mörderisches Gesöff in der anderen Hand.

Der Alkohol kroch ihm in die Nase.

Der vernünftig denkende Mann in ihm fragte gerade, ob es das wert war. Ob er unbedingt diesen Fusel saufen musste und ob er es für klug hielt, seine Lungen wie einen verdammten Scheiß-Highway zu teeren, bloß weil dieses Miststück ihn verlassen hatte.

Eine berechtigte Kritik, dachte er und trank wieder einen Schluck.

In dem Moment, als das Getränk seine Zunge berührte, hätte er am liebsten gebrüllt wie ein Baby. Das Zeug brannte fürchterlich; sogar seine Augen begannen wieder zu tränen.

Paul setzte das Glas ab und war einen Moment davon überzeugt, wie ein Drache im Märchen Feuer spucken zu müssen. Das Zeug haute rein, so viel stand fest. Das Erstaunliche aber war, dass das Brennen in der Mundhöhle, in der Speiseröhre und im Magen nicht nur nachgelassen hatte, sondern verschwunden war. Er trank noch einen Schluck, diesmal einen größeren, und spürte, wie seine Glieder augenblicklich leicht wurden wie eine Feder. Sein Arm schien auf über zwei Meter angewachsen zu sein und überhaupt nichts mehr zu wiegen. Amüsiert beobachtete er, wie der riesenhafte Arm mit der ebenfalls riesenhaften Hand versuchte, eine Zigarette aus der Schachtel zu holen. Die Finger schienen komplett knochenlos zu sein; sie wackelten wie Wimpel im Wind. Der Anblick dieser Gummifinger und der monströsen Arme amüsierten Paul, und er kicherte wie ein Verrückter vor sich hin.

Schließlich gelang es ihm doch noch, eine Kippe aus der Gefangenschaft zu befreien und steckte sie in den Mund. Sie hüpfte zwischen den Lippen auf und ab, denn inzwischen gackerte er wie ein Huhn. Ihm war es vollkommen egal, dass sich alle Augen zu ihm drehten.

Paul wusste, dass es klüger gewesen wäre, jetzt aufzustehen und das Lokal aufrecht zu verlassen. Noch konnte er es. Aber er tat es nicht. Er war nicht hierhergekommen, um den Schwanz einzuziehen. Er war hergekommen, weil er sich betrinken wollte. Er wollte so betrunken sein, wie er es schon lange nicht mehr gewesen war. Und wenn er es war, wollte er weitermachen. Echt vom feinsten, dieser Plan.