Der Zorn der Hexe

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der Zorn der Hexe
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Lars Burkart

Der Zorn der Hexe

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

1. Kapitel

Es war ein Wunder, dass Sabine keine schweren Verletzungen erlitt, als sie mit ihrem Pferd stürzte. Das Glück schien diesmal auf ihrer Seite zu sein. Leider konnte man das bei dem Pferd nicht behaupten: Es musste eingeschläfert werden. Seine Knochen waren gleich an mehreren Stellen gebrochen und drei Rippen zersplittert. Es tat ihr zwar im Herzen weh, doch es war bestimmt das Beste für das arme Tier. Doch als es dann schließlich so weit war, konnte sie den Anblick nicht ertragen und flüchtete aus dem Stall. Sabine hatte sehr an dem edlen Tier gehangen und ihr war, als ginge ein guter Freund für immer von ihr.

Sie hastete durch den nahen Wald, der die nördliche Grenze des Grundstücks bildete und ließ seinen kühlen Schatten schnell hinter sich. Sie rannte und rannte, vorbei an Wiesen und Feldern, bis sie das Meer erreichte.

Die Küste war an dieser Stelle nichts als eine Felswand, die steil ins Meer stürzte. An ihrem steinigen Fuß brachen sich die Wellen, und an ihrem Scheitelpunkt blies steifer Nordwind. Alles in allem nicht unbedingt ein gemütlicher Ort. Es gab noch nicht einmal einen Weg, auf dem man zwischen den mannshohen Gesteinsbrocken gefahrlos hätte gehen können. Dennoch liebte sie diese Stelle. Hierher verirrte sich kaum eine Menschenseele und wenn doch, nahm sie angesichts der rauen Umgebung schnell wieder Reißaus. Hier war das letzte Fleckchen Erde, das Sabine für sich allein haben konnte. Immer, wenn sie etwas plagte, etwas verunsicherte, sie sich ängstigte oder sie einfach nur in Ruhe nachdenken wollte, ging sie hierher und lauschte dem Rauschen des Windes und dem Toben der Brandung.

Sabine kannte den Platz seit ihrer Kindheit. Seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal mit ihrem Vater hier gewesen war, hatte der Ort nichts von seinem Reiz verloren. Die Ruhe, das Pfeifen des Windes, das Kreischen der Möwen, all das war ihr ans Herz gewachsen. Und sie wollte keinen dieser Momente missen. Wie oft hatten sie hier oben gesessen, ihr alter Herr und sie, hatten aufs Meer hinausgesehen und hinter den Schiffen her, bis sie am Horizont verschwanden? Wie oft? Sie wusste es nicht. Es mussten unzählige Male gewesen sein. Manchmal hatten sie einfach nur geschwiegen und die raue Schönheit in sich aufgesogen.

Sabine konnte sich noch gut an den Moment erinnern, da sie den Vater gefragt hatte, wohin all die Schiffe verschwanden, wenn sie nicht mehr zu sehen waren. Sie hatte tatsächlich geglaubt, sie versänken im Ozean. Der Vater fuhr ihr liebevoll mit der Hand über den Zopf; das tat er immer, wenn er ihr etwas erklären wollte. Es war seine Art, nach Worten zu suchen. Er musste ihr oft etwas erklären, denn Sabine war ein neugieriges Kind. So erfuhr sie, dass die Erde eine Kugel war und die Schiffe keineswegs im Meer versanken, sondern einfach nicht mehr zu sehen waren, weil sich zwischen sie und das Schiff die Krümmung der Erdoberfläche schob.

„Du musst es dir ungefähr so vorstellen“, hatte er gesagt, „wenn du am Fuß eines Berges stehst, kannst du auch nicht über ihn hinweg auf die andere Seite sehen. Und genauso ist es mit den Schiffen: Die Erde, in diesem Fall das Wasser, ist im Weg.“

Sie hatte den Vater angesehen und gelächelt. Und er wusste, sie hatte verstanden. Egal, wie umständlich er sich auch manchmal ausdrückte, irgendwann konnte sie seinen Gedankengängen folgen.

Ihre Mutter war früh gestorben. Sabine konnte sich kaum noch an sie erinnern. Doch sie musste schön gewesen sein. Überall im Haus standen Fotos von ihr, in jedem Zimmer. Auch an den Wänden hingen Fotos, und immer, wenn Sabine eines der Bilder betrachtete, stellte sie fest, dass sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sie hätten Zwillingsschwestern sein können, nur dass die eine eben schon ein paar Jährchen älter war.

Sie hatte den Vater einmal auf den Grund ihres frühen Todes angesprochen, doch er hatte nur gesagt, sie sei sehr krank geworden und irgendwann einmal würde sie alles darüber erfahren. Irgendwann, eines Tages, wenn die Zeit reif war. Durch seine Augen war dabei etwas gehuscht, das wie Angst aussah. Danach hatte er das Thema gewechselt, und das war das Zeichen gewesen, dass darüber genug geredet worden war.

Wenn die Sonne im Meer versank, war es am schönsten. Ihr glutrotes Licht verwandelte alles in ein Farbkonzert, und es schien, als explodiere sie in einem gigantischen roten Ball. Der beständige Wellengang gab dem Ganzen zugleich eine gespenstische Atmosphäre. Je höher die Wellen schlugen, umso farbenprächtiger und eindrucksvoller war das Spektakel.

Jetzt aber war es noch nicht Abend. Noch lange nicht. Allerhöchstens früher Vormittag, und das Meer breitete sich ruhig unter ihr aus, was für diesen Landstrich ungewöhnlich war. Sie sah weit aufs offene Wasser hinaus. Ihr war heiß; Schweiß rann an ihr herunter, und ihr Herz raste in der Brust.

Sabine war eine schöne junge Frau, Mitte zwanzig, gesund und wohlhabend. Ihre weiblichen Rundungen waren genau dort, wo sie hingehörten, und ihr langes blondes Haar strahlte wie die Sonne. Sie zog die Blicke der Männer reihenweise auf sich. Doch leider war es bisher erst zweien gelungen, ihr Herz zu erobern. Der erste (es war wohl mehr eine Art Jugendliebe, schließlich war sie erst sechzehn und er einundzwanzig) hatte ihre Liebe nicht verdient, wie sie inzwischen dachte. Es schien ihm Spaß zu machen, sie hinter ihrem Rücken im Akkord zu betrügen. Als sie ihn endlich durchschaute, war die Enttäuschung tief. Sie durchschnitt das zarte Band, das ihre Liebe gewesen war, und sie schwur sich, nie wieder einen Mann so nahe an sich heranzulassen.

Es dauerte vier Jahre, bis sie ihre Einstellung überdachte, und dann kam der zweite. Er war das Gegenteil seines Vorgängers. Schnell erwies er sich als Mann ihrer Träume. Bedauerlicherweise war auch diesmal das Schicksal anderer Meinung. Es ließ ihn in einer Kurve die Kontrolle über sein Motorrad verlieren. Dabei war sie nicht einmal besonders gefährlich, vielmehr langgezogen und übersichtlich. Er soll nicht lange gelitten haben, hatte man ihr später gesagt, es musste schnell gegangen sein.

 

Das mochte vielleicht auf ihn zutreffen, dachte sie, als sie seine Identität bezeugte, doch keinesfalls auf sie. Sie war überzeugt davon, nie wieder den Anblick seines leblosen Körpers vergessen zu können. Zwar hatte er, wie er es ihr hoch und heilig versprochen hatte, einen Helm getragen, aber von Motorradhandschuhen hielt er nicht viel. Seine Leiche war in einem guten Zustand, wenn man davon absah, dass sein Genick gleich an mehreren Stellen gebrochen war. Doch das war innerlich, und er war so aufgebahrt worden, dass man als Laie kaum etwas davon sah. Was man jedoch sah, war der Zustand seiner Hände – oder vielmehr das, was von ihnen übrig war. Sie waren nämlich noch nicht bandagiert worden – und dafür verfluchte Sabine denjenigen, der es versäumt hatte.

Später, als sie wieder daheim war und ein Weinkrampf nach dem anderen sie schüttelte, wurde ihr klar, was für den schrecklichen Anblick verantwortlich war. Schon die blanke Vorstellung reichte aus, dass ihr übel wurde. Sie musste sich erbrechen.

Sabine sah den grauenvollen Moment des Unfalls immer wieder vor sich, sah ihn mit seinen Augen. Episoden aus dem Schreckenskabinett. Voller Panik wollte sie ihm helfen, ihn festhalten. Doch es war vergeblich. Sie hatte nicht die geringste Chance.

Durch das Visier des Helms sieht sie die Straße vor sich liegen. Sie ist trocken und eben. Ein kurzer Blick auf das Tachometer und sie weiß, dass sie fast hundertdreißig Stundenkilometer schnell ist. Plötzlich taucht die Kurve vor ihr auf, eng, tückisch. Sie schreit seinen Namen, will mit aller Kraft an der Bremse ziehen; dabei ist ihr, als rissen die Muskeln ihres rechten Armes – dabei erreicht sie nur, dass sie unbeirrt weiterfährt.

Wie ein Rennfahrer legt sie sich in die Kurve, tief und schräg. Wie oft hat sie das als Sozius schon erlebt. Wie oft hat sie das Adrenalin gespürt und ist einfach nur glücklich gewesen, glücklich über das Gefühl der Freiheit und glücklich, bei ihm zu sein.

Bis jetzt ist noch alles in Ordnung. Doch das Unvermeidliche ist nicht aufzuhalten. Das ist es nie. Es würde, musste geschehen, weil es ja schon geschehen war. Plötzlich hat sie das Gefühl zu fliegen; ihre Innereien tun einen Satz nach oben. Das Hinterrad beginnt zu schlingern und rutscht schließlich gänzlich weg. Und auf einmal ist da der Asphalt, direkt vor ihren Augen. Sie reißt entsetzt die Hände hoch.

Und da beginnt der Alptraum.

Da sie mit mehr als hundert Sachen fährt und die Geschwindigkeit nur langsam abnimmt, während sie wie ein Puck über den Asphalt schlittert wie über einen gefrorenen See, muss sie mit ansehen, wie der Belag ihrer Hände (seine Hände) wie eine grob gezahnte Raspel für ein weiches Holz Stück ist. Die Haut und das darunterliegende Fleisch werden bis auf die Knochen Millimeter um Millimeter heruntergescheuert. Sie hört die Schmerzensschreie mit ihren eigenen Ohren. Er leidet vielleicht nicht lange, dafür aber entsetzlich.

Dann, als der Begrenzungspfosten endlich sein Genick bricht, ist es eine Erlösung für beide.

All das geisterte durch ihre Erinnerung, während sie auf der Klippe stand. Es riss die Wunde, die noch nicht einmal zur Hälfte verheilt war, wieder auf – und diesmal sogar um einiges tiefer. Sechs Jahre war es jetzt her, und allmählich hatte sie geglaubt, mit dem Verlust leben zu können. Kurz nach seinem Tod gab es eine Zeit, in der sie fast wieder glücklich war. Damals hatte der Arzt ihr eine Schwangerschaft bescheinigt. Sie war darüber außer sich; auf diese Weise würde wenigstens etwas von ihm weiterleben! Dass sie ein Kind von ihm erwartete, half ihr, mit der Trauer umzugehen. Mit der Zeit begann sie sogar wieder zu lächeln.

Doch auch jetzt wollte das Schicksal ein Wörtchen mitreden. Eines nachts, der Vater des Ungeborenen war nun seit sechs Monaten unter der Erde, erwachte Sabine mit kolikartigen Schmerzen im Unterleib; es war, als ob sie einen großen, schweren, kalten Stein in sich trug. Die Schmerzen kamen und gingen wie Wehen, und ihre erste Vermutung war, dass sie kurz vor der Entbindung stand. Das war durchaus plausibel; vielleicht hatte dieses Kind es ja besonders eilig, die Welt hier draußen kennenzulernen? Wenn es nur halb so neugierig war wie seine Mutter, war das sogar wahrscheinlich.

So laut es ihr unter den Schmerzen möglich war, schrie sie nach ihrem Vater, der eine Etage über ihr schlief. Sie war mittlerweile so benebelt, dass sie davon überzeugt war, er würde sie nie und nimmer hören. Doch es dauerte keine zehn Sekunden, und er stürmte mit sorgenvoller Miene in ihr Zimmer.

„Es geht … es geht …“

Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Doch es reichte aus. Der Vater verstand.

Das nächste, woran sie sich später erinnerte, war das Innere eines Krankenwagens. Es war hell darin und blendete ihre Augen, als blicke sie direkt in die Sonne. Dennoch nahm sie ihre Umgebung nur bruchstückhaft wahr. So viele Ampullen, so viele Verbände! Und die Sirene. Allerdings drang diese nur verschwommen in ihr Bewusstsein …

Die Wehen wurden stärker und stärker, und sie bäumte sich auf der Trage unter Schmerzen. Die Bewegung ließ neue Schmerzen in ihrem Unterleib entstehen. Wie ein Kreislauf aus Schmerz. Schmerz gebar neuen Schmerz.

In diesem Moment spürte sie, wie etwas Spitzes in ihre Armbeuge piekste. Fast augenblicklich verebbte der Schmerz.

Wieder Dunkelheit.

Wieder Stille.

Als Sabine erwachte, lag sie in einem Krankenbett. Der Vater saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett und wimmerte. Sein Blick war zu Boden gerichtet, doch sie brauchte seine Tränen nicht zu sehen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist mit …?“ Ihre Stimme klang schwach und tonlos.

Dem Vater zersprang vor Kummer fast das Herz in der Brust. Nur langsam schaute er auf, als scheue er ihrem Blick.

„Was ist passiert? Was ist mit meinem Kind passiert?“

Er rang damit, nicht die Beherrschung zu verlieren. Seine Hände zitterten wie die eines Drogensüchtigen, der unbedingt einen neuen Schuss braucht, und sein Gesicht war bleich wie die Wand. Sein Körper verkrampfte sich, als er endlich antwortete.

„Die … die Ärzte sagen, es geht dir bald besser. In ein paar Tagen kannst du das Krankenhaus verlassen. Sie wollen nur noch ein paar Tests machen. Alles Routine, kein Grund zur Sorge.“

Seine Augen waren ausdruckslos, schwarz wie Höhleneingänge.

„Daddy“, sie hatte Mühe, ihre Stimme nicht zu erheben. Sie schaffte es, nach Aufbietung ihrer gesamten Kraft, ruhig und gefasst zu klingen. „Was ist passiert? Sag mir, was mit meinem Kind passiert ist!“

Ihre Augen bohrten sich in seine. Ihr Blick war wie ein Dolch, der in seine Netzhaut stach und schmerzte wie Feuer. Lange würde er ihm nicht standhalten können. Er konnte ihr nicht ausweichen. Ihre Augen, ihre Körperhaltung sprach eine nur zu deutliche Sprache. Sie schien bereits zu wissen, was geschehen war und wartete nur noch darauf, dass er es bestätigte.

Seine Hand suchte ihre. Sie war eiskalt, aber gleichzeitig nassgeschwitzt. Sie drückte ihre heftig.

„Habe ich mein Baby verloren?“

Der Vater war wie versteinert. Die ganze Zeit über hatte er nach Worten gesucht, falls es die überhaupt gab, hatte verzweifelt versucht, drumherum zu reden, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, ihre Konzentration auf anderes zu richten. Hatte er auch nur einen Augenblick geglaubt, sein Plan könne aufgehen?

Sabine wartete zwei Sekunden und fragte noch einmal.

„Habe ich mein Baby verloren? Sag es mir! Bitte! Wenn es so ist“, sie musste schlucken, denn die Endgültigkeit, die in dem Satz mitschwang, ließ fast ihre Stimme versagen, „wenn es so ist, will ich es aus deinem Mund hören und nicht von einem wildfremden Arzt, der mich mit trostlosen Augen anstarrt und dabei Mitleid heuchelt. Das könnte ich nicht verkraften. Jetzt nicht, und auch später nicht. Nie! Hörst du, nie! Also sage es mir bitte!“

„Es … es … es … es hatte einen Herzfehler.“

„Ist mein Baby gestorben?“

Ihre Stimme war jetzt gar keine Stimme mehr, nur noch ein Krächzen und Fiepen.

„Sie sagen, es ging so schnell, dass sie nichts gespürt hat.“

Da war er wieder, dieser Satz: Es ging so schnell. Wie sehr sie ihn hasste! Gab es einen abartigeren Satz in der menschlichen Sprache? Nein, nie und nimmer!

„Oh nein, nein, nein! Das stimmt nicht! Das kann nicht stimmen! Du erlaubst dir einen makabren Scherz, oder? Es stimmt nicht, nicht wahr? Sag mir, dass es nicht wahr ist! Sofort! Sie war doch noch nicht einmal geboren, wie soll sie da schon gestorben sein? Es ist nicht wahr! Es darf einfach nicht wahr sein!“

Mit diesen Worten fiel sie zurück in ihre Kissen.

Es schmerzte ihn, seine Tochter so leiden sehen zu müssen. Es tat ihm in der Seele weh. Aber er musste ihr die Wahrheit sagen. Er musste es tun, damit sie irgendwann loslassen und trauern konnte. Er wusste, wie wichtig Trauer war – erst recht, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat. Er wusste, dass er das Richtige getan hatte – und doch hasste er sich in diesem Moment dafür. Er wusste, dass dieses Gefühl ihn nun eine Weile nicht mehr loslassen würde.

„Es ist wahr, leider.“

Nun konnte auch der Vater seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie klammerten sich aneinander, schmiegten sich in die Arme des anderen und versuchten, einander ein wenig Trost zu spenden.

„Ich wollte doch noch so viel mit ihr unternehmen“, brachte sie stöhnend heraus, „sogar einen Namen hatte ich schon für sie: Sarah Gil!“

„Sarah Gil“, wiederholte der Vater. „Davon hast du mir gar nichts gesagt. Ein schöner Name. Bedeutet er etwas?“

„Ich weiß nicht. Aber er klingt nach etwas Besonderem, und weil mein Kind etwas Besonderes für mich ist, wollte ich ihm einen besonderen Namen geben.“

„Das verstehe ich.“

Sie saßen wortlos einander gegenüber. Jeder kämpfte mit Trauer und Wut. Irgendwie mussten sie beide damit fertig werden, dass der Tod schon wieder in ihr Leben gedrungen war, er schon wieder etwas unendliches Wertvolles zerstört hatte.

„Sabine, ich muss dir etwas über unsere Familie erzählen. Etwas, das schlimm und schrecklich ist, das aber mit der Zeit zu einem Teil von uns wurde. Wir, das heißt, du und ich …“

„Daddy, würde es dir etwas ausmachen, mich allein zu lassen? Ich brauche Zeit für mich. Sei mir bitte nicht böse. Ich will einfach allein sein. Bitte fahr jetzt nach Hause. Und mach dir um mich keine Sorgen, ich komme schon klar.“

„Bist du sicher?“

„Ja, das bin ich.“

„Kann ich dich morgen sehen?“

„Ich ruf dich an, wenn du wieder kommen kannst. Ja? Geh jetzt bitte. Und sei mir nicht böse.“

Sie dachte jetzt zurück an jenes Gespräch, während sie auf den Klippen stand und auf das weite, dunkle Meer sah. Inzwischen wehte ein schwacher Wind, der ihr Haar ausgelassen tanzen ließ.

Weit draußen am Horizont verschwand gemächlich ein Schiff. Ein gespenstischer Anblick; man mochte wirklich glauben, es würde langsam in die Tiefe gezogen.

Sabine fröstelte. Das Wetter hatte merklich umgeschlagen, doch das geschah in diesen Breiten öfter. Aus dem Sonnenschein war raueres Wetter geworden. Die Sonne versteckte sich hinter einer Armee von Wolken, und auch der Wind wurde stürmischer.

Ihr Vater hatte ihr an diesem Tag etwas Wichtiges sagen wollen, und seine Miene dabei hatte ihr keineswegs gefallen, hatte ihr sogar Angst gemacht. Die Falten in seinem Gesicht schienen plötzlich tiefer und zerfurchter, seine Augen blitzten dunkel, und seine Mundwinkel zitterten, als weigerten sie sich, etwas Dunkles preiszugeben.

Sie hatte an diesem Tag nichts davon wissen wollen; zu tief saß der Schock über den Tod ihrer ungeborenen Tochter. Träume und Pläne waren durch einen einzigen Satz zerstört worden. Doch es gab noch etwas, was sie sogar noch mehr schmerzte als ihr plötzlicher Tod. Es war die Frage, ob sie es hätte verhindern können. Hatte es irgendwelche Anzeichen dafür gegeben? Hatte das Baby vielleicht einmal besonders heftig getreten? Und hatte es seine Mutter dadurch auf sich aufmerksam machen wollen? Hatte es ihr sagen wollen: He, Mama, hier drinnen stimmt etwas nicht? Und wenn ja, warum hatte sie es nicht bemerkt? War sie am Ende für seinen Tod verantwortlich?

All das ließ sie an diesem Tag und viele weitere Tage nicht zur Ruhe kommen. Schließlich tat sie das einzige, was ihr in diesem Moment einfiel: Sie bat um Freiraum, um ihre Gedanken zu ordnen. Und so brauchte der Mund des Vaters an diesem Tag sein Geheimnis, so schrecklich und grausam es auch sein mochte, nicht preiszugeben.

 

Noch nicht.

Es verging Zeit, bis Sabine den Tod ihrer Tochter verwunden hatte. Verwunden ist wahrscheinlich der falsche Ausdruck; nicht mehr ständig davon gequält zu werden, träfe wohl eher zu. Der Schmerz saß tief, so tief, dass er ihr zeitweilig noch immer den Verstand zu rauben drohte. Doch sie machte damit ihren Frieden, sie ließ ihn zu. Sie hatte das Schlimmste hinter sich; von nun an konnte es eigentlich nur noch bergauf gehen.

All diese schrecklichen Erinnerungen jedoch waren mit dem Einschläfern des Pferdes, mit seinem Tod, plötzlich wieder auf sie eingestürzt, und das war einfach zu viel gewesen. Manchmal genügte ein Wink, ein Fingerzeig, irgendetwas, es musste nicht einmal groß sein, um ihr die Schmerzen, das Leid, die Trauer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dann waren sie wieder da, obwohl sie längst geglaubt hatte, sie überwunden zu haben. Und dann, von einer Sekunde auf die nächste, war sie wieder am Boden zerstört. Dann war sie wieder in dem schrecklichen dunklen Loch, das sich Verzweiflung nannte.

Der Wind zerwühlte ihr Haar, spielte damit und trocknete zugleich ihre Tränen. In der letzten Zeit hatte sie wahrlich viel geweint. Zu viel für ein Leben. Eigentlich sollte es nun genug sein. Ihr Leben konnte nicht nur aus Tränen bestehen. Da musste es doch auch noch etwas anderes geben. Irgendwann musste auch mal sie wieder einmal lachen können, auch wenn es ihr im Moment unmöglich erschien.

Sie wartete ein paar Minuten, horchte in sich hinein, ob der Weinkrampf noch einmal ausbrechen wollte (manchmal tat er das: Sie glaubte, ihn überwunden zu haben, und dann brach er wieder los); dann drehte sie dem Meer den Rücken zu und ging langsamen Schrittes zurück zum Haus. Das Rauschen der Wellen begleitete sie noch ein Stück, wurde aber mit jedem Schritt schwächer und schwächer und verschwand schließlich.

Auf dem Hinweg hatte sie Vögel zwitschern gehört, doch jetzt schwiegen sie. Sie sah zerstreut auf ihre Armbanduhr und erschrak: Als sie zum Strand hinuntergegangen war, war es früher Vormittag gewesen – und jetzt war es später Abend. Doch nicht dies erschreckte sie, sondern die Dunkelheit, die sich langsam um sie ausbreitete. Sabine hatte nichts von ihr mitbekommen; viel zu sehr war sie in ihre Gedanken vertieft gewesen. Konnte man sich wirklich so vergessen, dass einem selbst etwas so Alltägliches wie der Untergang der Sonne entglitt?

Normalerweise hätte sie in der Dunkelheit hier draußen Angst gespürt. Aber nicht heute. Heute schien ein besonderer Tag zu sein. Vielleicht wurde heute alles besser? Der Tod ihrer ungeborenen Tochter konnte zwar nicht ungeschehen gemacht werden, aber ihr schien plötzlich, als hätte sie eine Stufe erreicht, auf der sie mit dem Schicksalsschlag würde leben können. Und das war gewiss die Voraussetzung, um ein einigermaßen glückliches, zufriedenes Leben führen zu können. Ab heute, da war sie sich sicher, würde es wieder bergauf gehen. Und weil sie so fühlte, war sie nicht nur ohne den kleinsten Funken von Angst, nein, sie war hervorragender Stimmung. Sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr.

Sabine kam über die Anhöhe, erblickte das hellerleuchtete Anwesen ihres Vaters und wusste, dass sie ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte.

Sie lief noch ein paar Meter weiter und blieb plötzlich stehen. Sie stand wie angewurzelt da, bevor sie wusste, wie ihr geschah. Warum sie so abrupt stehen blieb, wusste sie nicht. Irgendetwas war vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht, doch noch ehe sie danach greifen konnte, war es wieder verschwunden. Was konnte es gewesen sein?

Sie überlegte, was es war. Was konnte so wichtig gewesen sein? Und wichtig war es zweifellos. Was, in drei Teufels Namen?

Wie ein Steingötze stand sie da, unbeweglich und mit ernster Miene. Sie nahm weder die Dunkelheit um sie herum wahr noch die Kälte, die langsam durch ihre Kleider drang. Alles in ihr konzentrierte sich so sehr, dass sie nichts davon bemerkte. Alle ihre Zellen richteten sich auf diesen einzigen Punkt aus.

Und ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, fiel es ihr wieder ein, und schlagartig begriff sie auch, warum sie es vergessen hatte: Es war genau der Tag, an dem sie ihre Tochter verloren hatte. Damals hatte ihr der Vater etwas sagen wollen. Etwas, das ihn, sie selbst und ihre Familie betraf. Etwas, bei dem ihr alter Herr ganz anders gewesen war als sonst. Wie, konnte sie nicht in Worte fassen. Aber auf jeden Fall anders. Auf beunruhigende Art anders.

Jetzt, da es ihr wieder eingefallen war, fragte sie sich, wie sie es eigentlich hatte vergessen können. Doch im selben Augenblick, als sie sich die Ereignisse, die zeitgleich geschahen, wieder ins Gedächtnis rief, beantwortete sich ihre Frage von selbst.

Sabine atmete einmal tief ein und wieder aus. Der Atem wurde vor ihrem Gesicht zu einer weißen Wolke, die sich rasch auflöste. Nun wurde sie auch der Kälte gewahr und entschied sich, endlich hineinzugehen, einen heißen Tee zu trinken, dabei ein gutes Buch zu lesen – und ganz nebenbei ihren alten Herren zu fragen, was es denn so Wichtiges gab, dass ihre ganze Familie betraf.

So in etwa stellte sie es sich vor, doch als sie im Inneren des Hauses war, gewann ihre Neugier schnell die Oberhand, und sie verzichtete auf den Tee – was nun wirklich unvernünftig war, denn sie war durchgefroren und glich einem Eisklotz auf zwei Beinen. Das Buch, das sie hatte lesen wollen, sah nicht einmal an und stürmte stattdessen ins Lesezimmer ihres Vaters.

Der Vater saß im Schaukelstuhl und hielt ein Buch in den Händen. Ihn einmal nicht in einem solchen Stuhl anzutreffen, war alles andere als einfach. Er liebte diese Dinger und hatte in fast jedem Zimmer einen aufgestellt. Besuchern, die ihn darauf ansprachen, erklärte er, dass er sie für unglaublich bequem halte.

Als Sabine wie ein Wirbelwind hereingestürmt kam, sah er sie über die Lesebrille hinweg erstaunt an. „Kindchen, da bist du ja endlich! Wo warst du denn die ganze Zeit?“

Zwei Dinge konnte Sabine an ihrem Vater nicht ausstehen: Wenn er sie wie einen Teenager behandelte, schwoll ihr jedes Mal die Galle bis auf Kürbisgröße. Das war aber noch nichts verglichen mit dem, was sie am meisten hasste. So richtig in Rage geriet sie, wenn er sie Kindchen nannte. Dann war wirklich alles zu spät, und sie fürchtete, gleich Amok zu laufen. Auch diesmal spürte sie, wie ihre Magensäure gefährlich anstieg …

Doch statt einen Wutausbruch zu bekommen, biss sie die Zähne zusammen, schluckte ihren Groll hinunter und sah ihren Vater unverhohlen an. Das war das einzig Richtige, was sie tun konnte, denn Wut wäre der falsche Begleiter gewesen; sie hätte mehr geschadet als genutzt. Sabine beherrschte sich sogar so weit, dass es ihr gelang, ein Schmunzeln auf ihre Lippen zu zaubern. Sie beschloss, seinen Kommentar zu ignorieren.

„Hi, Dad. Du liest ein Buch? Schön. Ist es gut? Ich hoffe, es ist kein lahmer Schinken?“ Sie plauderte drauflos wie ein Wasserfall. Ihr Vater konnte ihr kaum folgen. „Wie war dein Tag? Erzähl doch mal!“

„Ist alles mit dir in Ordnung?“, fragte der Vater, und in seiner Stimme schwang Sorge mit.

„Freilich. Was soll mit mir nicht in Ordnung sein?“

Er suchte offensichtlich nach Worten. Seine Augen und sein ernstes Gesicht ließen erkennen, dass er überlegte, was er sagen sollte. Er dachte nach, entschied sich für etwas, sann noch einmal nach und verwarf es schließlich wieder. Schließlich platzte er doch heraus mit der Sprache.

„Na ja, wegen deinem Pferd. Der Gaul. Du weißt schon.“

Von allen Möglichkeiten, die er hatte, musste er ausgerechnet die Holzhammermethode wählen. Gute Wahl, dachte Sabine sarkastisch. Jetzt, da es raus war, biss er sich auf die Lippen. Er hätte wirklich sanfter mit ihr umgehen können. Schließlich hatte sie ihren Gaul, wie er ihn nannte, ins Herz geschlossen. Sie entschloss sich, auch das zu ignorieren. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er es nicht böse meinte. Es war nur seine Art, das Kind beim Namen zu nennen. Manche Menschen mochten sich daran stoßen, aber so war er eben: Immer mit dem Kopf durch die Wand und munter drauflos geschwatzt.

„Es … es tut weh“, war ihre knappe Antwort.

„Komm, setz dich zu mir. Du siehst müde aus, mein Kleines.“

Da war es schon wieder. Er hatte es tatsächlich schon wieder gesagt, obwohl er genau wusste, dass es sie auf die Palme brachte. Warum tut er das, überlegte Sabine. Allmählich kam ihr der Gedanke: Er tut es mit Bedacht. Aber nein, nein. Das tut er bestimmt nicht. Oder doch?

„Nein, nein. Lass gut sein. Es geht schon. Mir geht’s wirklich gut.“

„Sicher?“

„Ja, ganz sicher. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.“

Er sah sie noch um einiges eindringlicher an, legte die Stirn in Falten und versenkte seinen Blick schließlich wieder in das Buch vor ihm. Ein unverständliches Blubbern kam aus seinem Mund. Aber Sabine verstand ihn.

„Na gut, wenn’s so ist, dann ist’s gut. Und wenn nicht, dann komm halt wieder vorbei.“

Eine Minute verharrten sie so. Sabine stand da wie eine Statue, und ihr Vater las. Er war so vertieft, dass er sie gar nicht mehr wahrnahm. Er glaubte, sie hätte das Zimmer verlassen.

Und so verging eine Minute.

Und dann noch eine.

Und schließlich noch eine.

Sabine räusperte sich, und erst jetzt bemerkte ihr Vater, dass sie nicht gegangen war.

„Ähm … ist sonst noch irgendwas?“

„Warum? Wie kommst du darauf?“

„Oh, ganz einfach. Weil du wie ein Ölgötze hier rumstehst und Maulaffen feil hältst! Das sieht dir gar nicht ähnlich. Also, heraus mit der Sprache: Was bedrückt dich?“

Sabine grinste. Hatte sie das wirklich getan? Davon hatte sie gar nichts mitgekriegt.

„Nun ja …“, begann sie, aber das war auch schon alles.

„Was du nicht sagst! Dann ist ja alles klar“, spottete ihr Vater. Kein feiner Zug von ihm, aber so war er nun mal. Das ist durch Prügel nicht mehr zu korrigieren, ging es ihr durch den Kopf, aber bei dem Gedanken, sie würde hinter ihrem alten Herrn her wetzen, einen Gürtel in der Hand, musste sie grinsen.