Schloss Gripsholm

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Schloss Gripsholm
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Kurt Tucholsky



Schloss Gripsholm



Eine Sommergeschichte




Kurt Tucholsky



Schloss Gripsholm



Eine Sommergeschichte



Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

 1. Auflage, ISBN 978-3-954188-11-6



null-papier.de/390










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Inhaltsverzeichnis





Werk­samm­lung zu Kurt Tuchols­ky







Schloss Grips­holm







Nach­wort des Ver­le­gers zum Vor­wort des Au­tors






      Ers­tes Ka­pi­tel






1







2







3







4







5







6







Zwei­tes Ka­pi­tel







1







2







3







4







5







Drit­tes Ka­pi­tel







1







2







3







4







Vier­tes Ka­pi­tel







1







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3







Fünf­tes Ka­pi­tel







1







2







Werk­samm­lung zu Kurt Tuchols­ky






Dan­ke



Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.



Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.





Ihr

 Jür­gen Schul­ze




Werksammlung zu Kurt Tucholsky



Die er­folg­reichs­te di­gi­ta­le Werk­samm­lung zu Kurt Tuchols­ky








Schloss Grips­holm, Das Lott­chen, Rheins­berg, Was darf Sa­ti­re?, Ei­ner pfeift sich einen, Jo­na­than’s Wör­ter­buch, Die fünf­te Jah­res­zeit, u.v.a



978-3-95418-520-7 (Kind­le) 978-3-95418-521-4 (Epub) 978-3-95418-522-1 (PDF)





0,99 €





null-pa­pier.de/tuchols­ky




Schloss Gripsholm



Ei­ne Som­mer­ge­schich­te



Für IA 47 407



 Wir kön­nen auch die Trom­pe­te bla­sen

 und schmet­tern weit­hin durch das Land;

 doch schrei­ten wir lie­ber in Mai­en­ta­gen,

 wenn die Pri­meln blühn und die Dros­seln schla­gen,

 still sin­nend an des Ba­ches Rand.



Storm




Nachwort des Verlegers zum Vorwort des Autors



Tuchols­ky woll­te sei­ne da­ma­li­ge Liai­son mit Lisa Matt­hi­as nicht pu­blik ma­chen, da­her wid­me­te er die Ge­schich­te nicht ihr, son­dern ih­rem Auto. Der Le­ser be­ach­te das Num­mern­schild.









Erstes Kapitel




1



Ernst Ro­wohlt Ver­lag

 Ber­lin W 50

 Pas­sau­er Stra­ße 8/9



8. Juni



Lie­ber Herr Tuchols­ky,



schö­nen Dank für Ihren Brief vom 2. Juni. Wir ha­ben Ihren Wunsch no­tiert. Für heu­te et­was andres.



Wie Sie wis­sen, habe ich in der letz­ten Zeit al­ler­hand po­li­ti­sche Bü­cher ver­legt, mit de­nen Sie sich ja hin­läng­lich be­schäf­tigt ha­ben. Nun möch­te ich doch aber wie­der ein­mal die »schö­ne Li­te­ra­tur« pfle­gen. Ha­ben Sie gar nichts? Wie wäre es denn mit ei­ner klei­nen Lie­bes­ge­schich­te? Über­le­gen Sie sich das mal! Das Buch soll nicht teu­er wer­den, und ich dru­cke Ih­nen für den An­fang zehn­tau­send Stück. Die be­freun­de­ten Sor­ti­men­ter sa­gen mir je­des Mal auf mei­nen Rei­sen, wie gern die Leu­te so et­was le­sen. Wie ist es da­mit?



Sie ha­ben bei uns noch 46 RM gut – wo­hin sol­len wir Ih­nen die über­wei­sen?



Mit den bes­ten Grü­ßen

 Ihr

 (Rie­sen­schnör­kel) Ernst Ro­wohlt



*



10. Juni



Lie­ber Herr Ro­wohlt,



Dank für Ihren Brief vom 8. 6.



Ja, eine Lie­bes­ge­schich­te … lie­ber Meis­ter, wie den­ken Sie sich das? In der heu­ti­gen Zeit Lie­be? Lie­ben Sie? Wer liebt denn heu­te noch? Dann schon lie­ber eine klei­ne Som­mer­ge­schich­te.



Die Sa­che ist nicht leicht. Sie wis­sen, wie sehr es mir wi­der­strebt, die Öf­fent­lich­keit mit mei­nem per­sön­li­chen Kram zu be­hel­li­gen – das fällt also fort. Au­ßer­dem be­trü­ge ich jede Frau mit mei­ner Schreib­ma­schi­ne und er­le­be da­her nichts Ro­man­ti­sches. Und soll ich mir die Ge­schich­te viel­leicht aus­den­ken? Fan­ta­sie ha­ben doch nur die Ge­schäfts­leu­te, wenn sie nicht zah­len kön­nen. Dann fällt ih­nen viel ein. Un­serei­nem …



Schrei­be ich den Leu­ten nicht ih­ren Wunsch­traum (»Die Grä­fin raff­te ihre Sil­ber-Robe, wür­dig­te den Gra­fen kei­nes Blickes und fiel die Schloss­trep­pe hin­un­ter«), dann bleibt nur noch das Propp­lem über die Ehe als Zim­mer-Gym­nas­tik, die »mensch­li­che Ein­stel­lung« und all das Zeug, das wir nicht mö­gen. Wo­her neh­men und nicht bei Vil­lon steh­len?



Da wir gra­de von Ly­rik spre­chen:



Wie kommt es, dass Sie in § 9 un­se­res Ver­lags­ver­tra­ges 15 % ho­no­rar­freie Exem­pla­re be­rech­nen. So­viel Re­zen­si­ons­exem­pla­re schi­cken Sie doch nie­mals in die Welt hin­aus! So ja­gen Sie den sau­ren Schweiß Ih­rer Au­to­ren durch die Gur­gel – kein Wun­der, dass Sie auf Samt sau­fen, wäh­rend un­serei­ner auf har­ten Bän­ken dün­nes Bier schluckt. Aber so ist al­les.



Dass Sie mir gut sind, wuss­te ich. Dass Sie mir für 46 RM gut sind, er­freut mein Herz. Bit­te wie ge­wöhn­lich an die alte Adres­se. Üb­ri­gens fah­re ich nächs­te Wo­che in Ur­laub.



Mit vie­len schö­nen Grü­ßen

 Ihr

 Tuchols­ky



*



Ernst Ro­wohlt Ver­lag

 Ber­lin W 50

 Pas­sau­er Stra­ße 8/9



12. Juni



Lie­ber Herr Tuchols­ky,



vie­len Dank für Ihren Brief vom 10. d. M.



Die 15 % ho­no­rar­freie Exem­pla­re sind – also das kön­nen Sie mir wirk­lich glau­ben – mei­ne ein­zi­ge Ver­dienst­mög­lich­keit. Lie­ber Herr Tuchols­ky, wenn Sie un­se­re Bilanz sä­hen, dann wüss­ten Sie, dass es ein ar­mer Ver­le­ger gar nicht leicht hat. Ohne die 15 % könn­te ich über­haupt nicht exis­tie­ren und wür­de glatt ver­hun­gern. Das wer­den Sie doch nicht wol­len.



Die Som­mer­ge­schich­te soll­ten Sie sich durch den Kopf ge­hen las­sen.



Die Leu­te wol­len ne­ben der Po­li­tik und dem Ak­tu­el­len et­was ha­ben, was sie ih­rer Freun­din schen­ken kön­nen. Sie glau­ben gar nicht, wie das fehlt. Ich den­ke an eine klei­ne Ge­schich­te, nicht zu um­fang­reich, etwa 15–16 Bo­gen, zart im Ge­fühl, kar­to­niert, leicht iro­nisch und mit ei­nem bun­ten Um­schlag. Der In­halt kann so frei sein, wie Sie wol­len.



Ich wür­de Ih­nen viel­leicht in­so­fern ent­ge­gen­kom­men, dass ich die ho­no­rar­frei­en Exem­pla­re auf 14 % her­un­ter­set­ze.



Wie ge­fällt Ih­nen un­ser neu­er Ver­lags­ka­ta­log? Ich wün­sche Ih­nen einen ver­gnüg­ten Ur­laub und bin mit vie­len Grü­ßen



Ihr

 (Rie­sen­schnör­kel) Ernst Ro­wohlt



*



15. Juni



Lie­ber Meis­ter Ro­wohlt,



auf dem neu­en Ver­lags­ka­ta­log hat Sie Gul­brans­son ganz rich­tig ge­zeich­net: still sin­nend an des Ba­ches Rand sit­zen Sie da und an­geln die fet­ten Fi­sche. Der Kö­der mit 14 % ho­no­rar­frei­er Exem­pla­re ist nicht fett ge­nug – 12 sind auch ganz schön. Den­ken Sie mal ein biss­chen dar­über nach und ge­ben Sie Ihrem har­ten Ver­le­ger­her­zen einen Stoß. Bei 14 % fällt mir be­stimmt nichts ein – ich dich­te erst ab 12 %.



Ich schrei­be die­sen Brief schon mit ei­nem Fuß in der Bahn. In ei­ner Stun­de fah­re ich ab – nach Schwe­den. Ich will in die­sem Ur­laub über­haupt nicht ar­bei­ten, son­dern ich möch­te in die Bäu­me gu­cken und mich mal rich­tig aus­ruhn.

 



Wenn ich zu­rück­kom­me, wol­len wir den Fall noch ein­mal be­brü­ten. Nun aber schwen­ke ich mei­nen Hut, grü­ße Sie recht herz­lich und wün­sche Ih­nen einen gu­ten Som­mer! Und ver­ges­sen Sie nicht: 12 %!



Mit vie­len schö­nen Grü­ßen

 Ihr ge­treu­er

 Tuchols­ky



Un­ter­schrie­ben – zu­ge­klebt – fran­kiert – es war ge­nau acht Uhr zehn Mi­nu­ten. Um neun Uhr zwan­zig ging der Zug von Ber­lin nach Ko­pen­ha­gen. Und nun woll­ten wir ja­wohl die Prin­zes­sin ab­ho­len.




2



Sie hat­te eine Alt­stim­me und hieß Ly­dia.



Karl­chen und Ja­kopp aber nann­ten jede Frau, mit der ei­ner von uns drei­en zu tun hat­te, »die Prin­zes­sin«, um den be­tref­fen­den Prinz­ge­mahl zu eh­ren – und dies war nun also die Prin­zes­sin; aber kei­ne an­de­re durf­te je mehr so ge­nannt wer­den.



Sie war kei­ne Prin­zes­sin.



Sie war et­was, was alle Schat­tie­run­gen um­fasst, die nur mög­lich sind: sie war Se­kre­tä­rin. Sie war Se­kre­tä­rin bei ei­nem un­för­mig di­cken Pa­tron; ich hat­te ihn ein­mal ge­sehn und fand ihn scheuß­lich, und zwi­schen ihm und Ly­dia … nein! Das kommt bei­nah nur in Ro­ma­nen vor. Zwi­schen ihm und Ly­dia be­stand je­nes merk­wür­di­ge Ver­hält­nis von Zu­nei­gung, ner­vö­ser Dul­dung und Ver­trau­en auf der einen Sei­te und Zu­nei­gung, Ab­nei­gung und dul­den­der Ner­vo­si­tät auf der an­de­ren: sie war sei­ne Se­kre­tä­rin. Der Mann führ­te den Ti­tel ei­nes Ge­ne­ral­kon­suls und han­del­te an­sons­ten mit Sei­fen. Im­mer la­gen da Pa­ke­te im Büro her­um, und so hat­te der Di­cke we­nigs­tens eine Aus­re­de, wenn sei­ne Hän­de fet­tig wa­ren.



Der Ge­ne­ral­kon­sul hat­te ihr in ei­ner An­wand­lung fürst­li­cher Frei­ge­big­keit fünf Wo­chen Ur­laub ge­währt; er fuhr nach Ab­ba­zia. Ges­tern Abend war er ab­ge­fah­ren – wer­de ihm der Schlaf­wa­gen leicht! Im Büro sa­ßen sein Schwa­ger und für Ly­dia eine Stell­ver­tre­te­rin. Was gin­gen mich denn sei­ne Sei­fen an – Ly­dia ging mich an.



Da stand sie schon mit den Kof­fern vor ih­rem Haus – »Hal­lo!«



»Du bi­scha all do?« sag­te die Prin­zes­sin – zur gren­zen­lo­sen Ver­wun­de­rung des Ta­xichauf­feurs, der die­ses für Ost­chi­ne­sisch hielt. Es war aber Mis­singsch.



Mis­singsch ist das, was her­aus­kommt, wenn ein Platt­deut­scher Hoch­deutsch spre­chen will. Er krab­belt auf der glatt ge­boh­ner­ten Trep­pe der deut­schen Gram­ma­tik em­por und rutscht alle Nase lang wie­der in sein ge­lieb­tes Platt zu­rück. Ly­dia stamm­te aus Ro­stock, und sie be­herrsch­te die­ses Idi­om in der Vollen­dung. Es ist kein bäu­ri­sches Platt – es ist viel fei­ner. Das Hoch­deutsch dar­in nimmt sich aus wie Hohn und Ka­ri­ka­tur; es ist, wie wenn ein Bau­er in Frack und Zy­lin­der aufs Feld gin­ge und so acker­te. Der Zy­lin­der ischa en fi­nen stat­schen Haut, över wen dor nich mit grot worn is, denn rutscht hei üm­mer wer­rer aff, dat deit he … Und dann ist da im Platt der gan­ze Hu­mor die­ser Nord­deut­schen; ihr gut­mü­ti­ger Spott, wenn es ei­ner gar zu toll treibt, ihr fest zu­pa­cken­der Spaß, wenn sie falschen Glanz wit­tern, und sie wit­tern ihn, un­fehl­bar … die­se Spra­che konn­te Ly­dia bei Ge­le­gen­heit spre­chen. Hier war eine Ge­le­gen­heit.



»Kann mir gah­nich gie­nug wun­nern, das­se den Zeit nich ver­schla­fen hass!« sag­te sie und ging mit fes­ten, ru­hi­gen Be­we­gun­gen dar­an, mir und dem Chauf­feur zu hel­fen. Wir pack­ten auf. »Hier, nimm den Da­ckel!« – Der Da­ckel war eine fet­te, bis zur Al­bern­heit lang ge­zo­ge­ne Hand­ta­sche. Und so pünkt­lich war sie! Auf ih­ren Na­sen­flü­geln lag ein Hauch von Pu­der. Wir fuh­ren.



»Frau Krem­ser hat ge­sagt«, be­gann Ly­dia, »ich soll mir mei­nen Pelz mit­neh­men und vie­le war­me Män­tel – denn in Schwe­den gibt es über­haupt kei­nen Som­mer, hat Frau Krem­ser ge­sagt. Da wär im­mer Win­ter. Ische woll nich möch­lich!« Frau Krem­ser war die Haus­häl­te­rin der Prin­zes­sin, Stu­ben­mäd­chen, Rein­ma­che­frau und Groß­sie­gel­be­wah­re­rin. Ge­gen mich hat­te sie noch im­mer, nach so lan­ger Zeit, ein lei­se schnüf­feln­des Miss­trau­en – die Frau hat­te einen gu­ten In­stinkt. »Sag mal … ist es wirk­lich so kalt da oben?«



»Es ist doch merk­wür­dig«, sag­te ich. »Wenn die Leu­te in Deutsch­land an Schwe­den den­ken, dann den­ken sie: Schwe­den­punsch, furcht­bar kalt, Ivar Kreu­ger, Zünd­höl­zer, furcht­bar kalt, blon­de Frau­en und furcht­bar kalt. So kalt ist es gar nicht.« – »Also wie kalt ist es denn?« – »Alle Frau­en sind pe­dan­tisch«, sag­te ich. – »Au­ßer dir!« sag­te Ly­dia. – »Ich bin kei­ne Frau.« – »Aber pe­dan­tisch!« – »Er­lau­be mal«, sag­te ich, »hier liegt ein lo­gi­scher Feh­ler vor. Es ist ge­naues­tens zu un­ter­schei­den, ob pro pri­mo …« – »Gib mal’n Kuss auf Ly­dia!« sag­te die Dame. Ich tat es, und der Chauf­feur nu­ckel­te leicht mit dem Kopf, denn sei­ne Schei­be vorn spie­gel­te. Und dann hielt das Auto da, wo alle bes­sern Ge­schich­ten an­fan­gen: am Bahn­hof.




3



Es er­gab sich, dass der Ge­päck­trä­ger Nr. 47 aus War­ne­mün­de stamm­te, und der Freu­de und des Ge­re­des war kein Ende, bis ich die­se lands­män­ni­sche Idyl­le, der Zeit we­gen, un­ter­brach. »Fährt der Ge­päck­trä­ger mit? Dann könnt ihr euch ja viel­leicht im Zug wei­ter un­ter­hal­ten.« – »Olln Dös­kopp! Heww di man nich so!« sag­te die Prin­zes­sin. Und: »Wi hemm noch ban­nig Tid!« der Ge­päck­trä­ger. Da schwieg ich über­stimmt, und die bei­den be­gan­nen ein em­si­ges Pala­ver dar­über, ob Korl Dü­sig noch am »Strom« wohn­te – wis­sen Sie: Dü­sig – näää … de Olsch! So, Gott sei Dank, er wohn­te noch da! Und hat­te wie­der­um ein Kind her­ge­stellt: der Mann war achtund­sieb­zig Jah­re und wur­de von mir, hier an der Ge­päck­aus­ga­be, au­ßer­or­dent­lich be­nei­det. Es war sein sech­zehn­tes Kind. Aber nun wa­ren es nur noch acht Mi­nu­ten bis zum Ab­gang des Zu­ges, und … »Willst du Zei­tun­gen ha­ben, Ly­dia?« – Nein, sie woll­te kei­ne. Sie hat­te sich et­was zum Le­sen mit­ge­bracht – wir un­ter­la­gen bei­de nicht die­ser merk­wür­di­gen Krank­heit, plötz­lich auf den Bahn­hö­fen zwei Pfund be­druck­tes Pa­pier zu kau­fen, von dem man vor­her ziem­lich ge­nau weiß: Ma­ku­la­tur. Also kauf­ten wir Zei­tun­gen.



Und dann fuh­ren wir – al­lein im Ab­teil – über Ko­pen­ha­gen nach Schwe­den. Vor­läu­fig wa­ren wir noch in der Mark Bran­den­burg.



»Finns­te die Ge­gend hier, Pe­ter?« sag­te die Prin­zes­sin. Wir hat­ten uns un­ter an­derm auf Pe­ter ge­ei­nigt – Gott weiß, warum.



Die Ge­gend? Es war ein hel­ler, win­di­ger Ju­ni­tag – recht frisch, und die­se Land­schaft sah gut auf­ge­räumt und ge­rei­nigt aus – sie war­te­te auf den Som­mer und sag­te: Ich bin karg. »Ja …«, sag­te ich. »Die Ge­gend …« – »Du könn­test für mein Geld wirk­lich et­was Ge­schei­te­res von dir ge­ben«, sag­te sie. »Zum Bei­spiel: die­se Land­schaft ist wie er­starr­te Dicht­kunst, oder sie er­in­nert mich an Fi­u­me, nur ist da die Flo­ra ka­tho­li­scher – oder so.« – »Ich bin nicht aus Wien«, sag­te ich. »Gott sei Dank«, sag­te sie. Und wir fuh­ren.



Die Prin­zes­sin schlief. Ich den­kel­te so vor mich hin.



Die Prin­zes­sin be­haup­te­te, ich sag­te zu je­der von mir ge­lieb­ten Frau, aber auch zu je­der –: »Wie schön, dass du da bist!« Das war eine pfunds­di­cke Lüge – manch­mal sag­te oder dach­te ich doch auch: »Wie schön, dass du da bist … und nicht hier!« – aber wenn ich die Ly­dia so ne­ben mir sit­zen sah, da sag­te ich es nun wirk­lich. Wa­rum –?



Na­tür­lich des­we­gen. In ers­ter Li­nie …? Ich weiß das nicht. Wir wuss­ten nur die­ses: Ei­nes der tiefs­ten Wor­te der deut­schen Spra­che sagt von zwei Leu­ten, dass sie sich nicht rie­chen kön­nen. Wir konn­ten es, und das ist, wenn es an­hält, schon sehr viel. Sie war mir al­les in ei­nem: Ge­lieb­te, ko­mi­sche Oper, Mut­ter und Freund. Was ich ihr war, habe ich nie er­grün­den kön­nen.



Und dann die Alt­stim­me. Ich habe sie ein­mal nachts ge­weckt, und, als sie auf­schrak: »Sag et­was!« bat ich. »Du Dum­mer!« sag­te sie. Und schlief lä­chelnd wie­der ein. Aber ich hat­te die Stim­me ge­hört, ich hat­te ihre tie­fe Stim­me ge­hört.



Und das drit­te war das Mis­singsch. Man­chen Leu­ten er­scheint die platt­deut­sche Spra­che grob, und sie mö­gen sie nicht. Ich habe die­se Spra­che im­mer ge­liebt; mein Va­ter sprach sie wie hoch­deutsch, sie, die »voll­komm­ne­re der bei­den Schwes­tern«, wie Klaus Groth sie ge­nannt hat. Es ist die Spra­che des Mee­res. Das Platt­deut­sche kann al­les sein: zart und grob, hu­mor­voll und herz­lich, klar und nüch­tern und vor al­lem, wenn man will, herr­lich be­sof­fen. Die Prin­zes­sin bog sich die­se Spra­che ins Hoch­deut­sche um, wie es ihr pass­te – denn vom Mis­sing­schen gibt es hun­dert und aber­hun­dert Abar­ten, von Fries­land über Ham­burg bis nach Pom­mern; da hat je­der klei­ne Ort sei­ne Ei­gen­hei­ten. Phi­lo­lo­gisch ist dem sehr schwer bei­zu­kom­men; aber mit dem Her­zen ist ihm bei­zu­kom­men. Das also sprach die Prin­zes­sin – ah, nicht alle Tage! Das wäre ja un­er­träg­lich ge­we­sen. Manch­mal, zur Er­ho­lung, wenn ihr gra­de so zu Mut war, sprach sie miss­ingsch; sie sag­te dar­in die Din­ge, die ihr be­son­ders am Her­zen la­gen, und da­ne­ben hat­te sie im Lauf der Zeit schon viel von Ber­lin an­ge­nom­men. Wenn sie ganz schnell »All­mäch­ti­ger Bra­ten!« sag­te, dann wuss­te man gut Be­scheid. Aber mit­un­ter sprach sie doch ihr Platt oder eben je­nes hal­be Platt: miss­ingsch.



Das weiß ich noch wie heu­te … Das war, als wir uns ken­nen­lern­ten. Ich war da­mals zum Tee bei ihr und bot den dis­kret lä­cher­li­chen An­blick ei­nes Man­nes, der balzt. Da­bei sind wir ja recht­schaf­fen ko­misch … Ich mach­te Plüschau­gen und sprach über Li­te­ra­tur – sie lä­chel­te. Ich er­zähl­te Scher­ze und be­leuch­te­te alle Schau­fens­ter mei­nes Her­zens. Und dann spra­chen wir von der Lie­be. Das ist wie bei ei­ner bay­ri­schen Rau­fe­rei – die rau­fen auch erst mit Wor­ten.



Und als ich ihr al­les aus­ein­an­der­ge­setzt hat­te, al­les, was ich im Au­gen­blick wuss­te, und das war nicht we­nig, und ich war so stolz, was für ge­wag­te Sa­chen ich da ge­sagt hat­te, und wie ich das al­les so ge­nau und bren­nen­d­rot dar­ge­stellt und vor­ge­führt hat­te, in Wor­ten, so­dass nun ei­gent­lich der Au­gen­blick ge­kom­men war, zu sa­gen: »Ja, also dann …« – da sah mich die Prin­zes­sin lan­ge an. Und sprach: »Ei­nen welt­be­fohr­nen dschun­gen Mann –!«



Und da war es aus. Und ich fand mich erst viel spä­ter bei ihr wie­der, im­mer noch la­chend, und mit der ero­ti­schen Wei­he war es nichts ge­wor­den. Aber mit der Lie­be war es et­was ge­wor­den.



Der Zug hielt.



Die Prin­zes­sin fuhr auf, öff­ne­te die Au­gen. »Wo sind wir?« – »Es sieht aus wie Stolp oder Star­gard – je­den­falls ist es et­was mit St«, sag­te ich. – »Wie sieht es noch aus?« frag­te sie. – »Es sieht aus«, sag­te ich und blick­te auf die Back­stein­häus­chen und den trüb­sin­ni­gen Bahn­hof, »wie wenn hier die Un­ter­of­fi­zie­re ge­bo­ren wer­den, die ihre Mann­schaf­ten schin­den. Möch­test du hier Mit­tag es­sen?« Die Prin­zes­sin schloss so­fort die Au­gen. »Ly­dia«, sag­te ich, »wir kön­nen auch im Spei­se­wa­gen es­sen, der Zug hat einen.« – »Nein«, sag­te sie. »Im Spei­se­wa­gen wer­den die Kell­ner im­mer von der Ge­schwin­dig­keit des Zu­ges an­ge­steckt, und es geht al­les so furcht­bar ei­lig – ich habe aber einen lang­sa­men Ma­gen …« – »Gut. Was liest du da üb­ri­gens, Alte?« – »Ich schla­fe seit zwei Stun­den auf ei­nem mon­dä­nen Ro­man. Der ein­zi­ge Kör­per­teil, mit dem man ihn le­sen kann …«, und dann mach­te sie die Au­gen wie­der zu. Und wie­der auf. »Guck eins … die Frau da! Die is aber mi­so­gyn!« – »Was ist sie?« – »Mi­so­gyn … heißt das nicht mick­rig? Nein, das habe ich mit den Pyg­mä­en ver­wech­selt; das sind doch die­se Leu­te, die auf Bäu­men woh­nen … wie?« Und nach die­ser Leis­tung ent­schlum­mer­te sie aufs neue, und wir fuh­ren, lan­ge, lan­ge. Bis War­ne­mün­de.



Da war der »Strom«. So heißt hier die War­ne – war es die War­ne? Pee­ne, Swi­ne, Die­ve­now … oder hieß der Fluss an­ders? Es stand nicht dran. Mit Karl­chen und Ja­kopp hat­te ich der Ein­fach­heit hal­ber er­fun­den, je­der Stadt den ihr zu­ge­hö­ri­gen Fluss zu ge­ben: Glei­witz an der Glei­we, Bit­ter­feld an der Bit­ter und so fort.



Hier am Strom la­gen lau­ter klei­ne Häu­ser, eins bei­nah wie das an­de­re, windum­weht und so ge­müt­lich. Se­gel­boo­te steck­ten ihre Mas­ten in die graue Luft, und be­la­de­ne Käh­ne ruh­ten faul im stil­len Was­ser. »Guck mal, War­ne­mün­de!«



»Diß kenn ich scha denn nu doch wohl biss­chen bes­ser als du. Har­re Gott, nein … Da ische den Strom, da bin ich so­zu­sa­gen an groß gie­worn! Da wohnt scha Korl Dü­sig un min oll Wie­sen­dörpsch, un in das nüd­li­che lüt­te Haus, da wohnt Tapp­sier Krö­ger, den sind sol­che net­ten Men­schen, as es auf die­se aus­ge­klür­te Welt sons gah nich mehr gibt … Und das is Ze­na­ter Eg­gers sin Hus, Dree Lin­den. Un sieh mal: das alte Haus da mit den schö­nen Barock­gie­bel – da spückt es in!« – »Auf platt­deutsch?« frag­te ich. – »Du büschan gan­zen mong­kan­ten Mann; meins, den War­ne­mün­der Gie­s­pens­ter spü­ken auf hoch­deutsch rum – nee, al­lens, was Recht is, Ord­nung muss sein, auch inne vier­te Di­men­zi­on …! Und …« Rrrums – der Zug ran­gier­te. Wir fie­len an­ein­an­der. Und dann er­zähl­te sie wei­ter und er­klär­te mir je­des Haus am Strom, so­weit man se­hen konn­te.

 



»Da – da is das Haus, wo die alte Frau Brüs­ha­ber in gie­wohnt hat, die war eins so fühnsch, dass ich’n beß­res Zeug­nis ge­habt hab als ihre Groß­kin­der; die wa­ren ümme so ver­schli­chen … und da hat sie von ’n ol­len Wie­dow, dem Schul­de­rek­ter, ge­sagt: Wann ick den Kierl inn Mars hat, ick scheet em inne Ost­see! Un das Haus hat dem al­ten Lauf­mül­ler gie­hört. Den kennst du nich auße Welt­ge­schich­te? Der Lauf­mül­ler, der lag sich ümme inne Haa­ren mit die hohe Ob­rig­keit, was zu die­se Zeit den Lan­drat von der De­cken war, Lan­drat Lud­wig von der De­cken. Und um ihn zu ägen, kauf­te sich der Lauf­mül­ler einen al­ten räu­di­gen Hund, und den nann­te er Lur­wich, und wenn nu Lan­drat von der De­cken in Sicht kam, denn rief Lauf­mül­ler sei­nen Hund: Lur­wich, hin­teh mich! Und denn grien­te Lauf­mül­ler so finsch, und den Lan­drat är­ger­te sich … un da­von ha­ben wi auch im Schohr 1918 kei­ne Re­vo­lut­schon gie­habt. Ja.« – »Lebt der Herr Mül­ler noch?« frag­te ich. – »Ach Gott, nei­en – he is all lang dod. Er hat sich gie­wünscht, er wollt an Weg be­gra­ben sein, mit dem Kopf gra­de an Weg.« – »Wa­rum?« – »Dscha … dass er den Mä­chens so lan­ge als möch­lich un­te­re Röck … Der Zoll!« Der Zoll.



Eu­ro­pa zoll­te. Es be­trat ein Mann den Raum, der frag­te höf­lichst, ob wir … und wir sag­ten: nein, wir hät­ten nicht. Und dann ging der Mann wie­der weg. »Ver­stehst du das?« frag­te Ly­dia. – »Ich ver­ste­he es nicht«, sag­te ich. »Es ist ein Ge­sell­schaftss­piel und eine Re­li­gi­on, die Re­li­gi­on der Va­ter­län­der. Auf dem Auge bin ich blind. Sieh mal – sie kön­nen das mit den Va­ter­län­dern doch nur ma­chen, wenn sie Fein­de ha­ben und Gren­zen. Sonst wüss­te man nie, wo das eine an­fängt und wo das an­de­re auf­hört. Na, und das gin­ge doch nicht, wie …?« Die Prin­zes­sin fand, dass es nicht gin­ge, und dann wur­den wir auf die Fäh­re ge­scho­ben.



Da stan­den wir in ei­nem klei­nen ei­ser­nen Tun­nel, zwi­schen den Damp­fer­wän­den. Rucks – nun wur­de der Wa­gen an­ge­bun­den. »Wis­sen möcht ich …«, sag­te die Prin­zes­sin, »warum ein Schiff ei­gent­lich schwimmt. Es wiegt so viel: es müss­te doch un­ter­gehn. Wie ist das! Du bist doch einen stu­dier­ten Mann!« – »Es ist … der Luft­ge­halt in den Schot­ten … also pass mal auf … das spe­zi­fi­sche Ge­wicht des Was­sers … es ist näm­lich die Ver­drän­gung …« – »Mein Lie­ber«, sag­te die Prin­zes­sin, »wenn ei­ner über­mä­ßig viel Fach­aus­drücke ge­braucht, dann stimmt da et­was nicht. Also du weißt es auch nicht. Pe­ter, dass du so ent­setz­lich dumm bist – das ist scha­de. Aber man kann ja­wohl nicht al­les bei­ein­an­der ha­ben.« Wir wan­del­ten an Bord.



Schiffs­längs – back­bord – steu­er­bord … ganz lei­se ar­bei­te­ten die Ma­schi­nen. War­ne­mün­de blieb zu­rück, un­merk­lich lös­ten wir uns vom Lan­de. Vor­bei an der Mole da lag die Küs­te.



Da lag Deutsch­land. Man sah nur einen fla­chen, be­wal­de­ten Ufer­strei­fen und Häu­ser, Ho­tels, die im­mer klei­ner wur­den, im­mer mehr zu­rück­rück­ten, und den Strand … War dies eine ganz lei­se, win­zi­ge, eine kaum merk­ba­re Schau­kel­be­we­gung? Das wol­len wir nicht hof­fen.



Ich sah die Prin­zes­sin an. Sie spür­te so­gleich, wo­hin­aus ich woll­te. »Wenn du käu­zest, min Jung«, sag­te sie, »das wäre ein Zück­zeh fuh!« – »Was ist das?« – »Das ist Fran­zö­sisch« – sie war ganz auf­ge­bracht – »nu kann der Dschung nich mal Fran­zösch, un hat sich do Jah­re­ner fünf in Pa­ris fei­ne Bil­dung bi­e­lernt … Segg mohl, was has­se da ei­gent­lich inne gan­ze Zeit gie­macht? Kann ich mi schon leb­haft vor­stelln! Ümme mit die klei­nen Dirns um­her, nöch? Du bi­scha einen Wüst­ling! Wie sind denn nun die Fran­zö­sin­nen? Komm, er­zähl es mal auf Ly­dia – wir gehn hier rauf und run­ter, im­mer das Schiff ent­lang, und wenn dir schlecht wird, dann beugst du dich über die Ree­ling, das ist in den Bü­chern im­mer so. Er­zähl.«



Und ich er­zähl­te ihr, dass die Fran­zö­sin­nen sehr ver­nünf­ti­ge We­sen sei­en, mit ei­ner leich­ten Nei­gung zu Ka­pri­cen,

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 die sei­en aber vor­her ein­kal­ku­liert, und sie hät­ten pro Stück meist nur einen Mann, den Mann, ih­ren Mann, der auch ein Freund sein kann, na­tür­lich – und dazu viel­leicht auch an­stands­hal­ber einen Ge­lieb­ten, und wenn sie un­treu sei­en, dann sei­en sie es mit leicht­sin­ni­gem Be­dacht. Bei­nah jede zwei­te Frau aber hät­te einen Be­ruf. Und sie re­gier­ten das Land ohne Stimm­recht – aber eben nicht mit den Bei­nen, son­dern durch ihre Ver­nunft. Und sie sei­en lie­bens­wür­di­ge Ma­the­ma­tik und hät­ten ein ver­nünf­ti­ges Herz, das manch­mal mit ih­nen durch­gin­ge, doch pfif­fen sie es im­mer wie­der zu­rück. Ich ver­stän­de sie nicht ganz.



»Es schei­nen Frau­en zu sein«, sag­te Ly­dia.



Die Fäh­re schau­kel­te nicht gra­de – sie deu­te­te das nur an. Auch ich deu­te­te et­was an, und die Prin­zes­sin be­fahl mich in den Spei­se­raum. Da sa­ßen sie und aßen, und mir wur­de gar nicht gut, als ich das sah – denn sie es­sen viel Fet­tes in Dä­ne­mark, und die­ses war eine dä­ni­sche Fäh­re. Die Herr­schaf­ten aßen zur Zeit: Spickaal und He­ring, He­rings­fi­let, ein­ge­mach­ten He­ring, dann et­was, was sie »sild« nann­ten, fer­ner vom Baum ge­fal­le­nen He­ring und He­ring schlecht­hin. Auf fes­tem Land eins im­mer bes­ser als das an­de­re. Und dazu tran­ken sie je­nen herr­li­chen Schnaps, für den die nor­di­schen Völ­ker, wie sie da sind, ins Him­mel­reich kom­men wer­den. Die Prin­zes­sin ge­ruh­te zu spei­sen. Ich sah ehr­fürch­tig zu; sie war ess­fest. »Du nimmst gar nichts?« frag­te sie zwi­schen zwei He­rin­gen. Ich sah die bei­den He­rin­ge an, die bei­den He­rin­ge sa­hen mich a