Schloss Gripsholm

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Aus der Reihe: Minis bei Null Papier
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4

Ja, Ko­pen­ha­gen.

»Soll ich dir das Fischre­stau­rant zei­gen, in dem Lu­den­dorff im­mer zu Mit­tag ge­ges­sen hat, als er noch eine Denk­mals­fi­gur war?« – »Zeig es mir … nein, ge­hen wir lie­ber auf Lan­ge Li­nie!« – Wir sa­hen uns al­les an: den Ti­vo­li­park und das schö­ne Rat­haus und das Thor­wald­sen-Mu­se­um, in dem al­les so aus­sieht, wie wenn es aus Gips wäre. »Ly­dia!« rief ich, »Ly­dia! Bei­nah hätt ich es ver­ges­sen! Wir müs­sen uns das Po­ly­san­dri­on an­sehn!« – »Das … was?« – »Das Po­ly­san­dri­on! Das musst du sehn. Komm mit.« Es war ein lan­ger Spa­zier­gang, denn die­ses klei­ne Mu­se­um lag weit drau­ßen vor der Stadt.

»Was ist das?« frag­te die Prin­zes­sin.

»Du wirst ja sehn«, sag­te ich. »Da ha­ben sich zwei Bal­ten ein Haus ge­baut. Und der eine, Po­ly­san­der von Kuckers zu Tie­sen­hau­sen, ein bal­ti­scher Baron, ver­meint, ma­len zu kön­nen. Das kann er aber nicht.« – »Und des­halb gehn wir so weit?« – »Nein, des­halb nicht. Er kann also nicht ma­len, malt aber doch – und zwar malt er im­mer­zu das­sel­be, sei­ne Ju­gendträu­me: Jüng­lin­ge … und vor al­lem Schmet­ter­lin­ge.« – »Ja, darf er denn das?« frag­te die Prin­zes­sin. »Frag ihn … er wird da­sein. Wenn er sich nicht zeigt, dann er­klärt uns sein Freund die gan­ze His­to­rie. Denn er­klärt muss sie wer­den. Es ist wun­der­voll.« – »Ist es denn we­nigs­tens un­an­stän­dig?« – »Führ­te ich dich dann hin, mein schwar­zes Glück?«

Da stand die klei­ne Vil­la – sie war nicht schön und pass­te auch gar nicht in den Nor­den; man hät­te sie viel eher im Sü­den, in Ober­ita­li­en oder dort­her­um ver­mu­tet … Wir tra­ten ein.

Die Prin­zes­sin mach­te große Kul­ler­au­gen, und ich sah das Po­ly­san­dri­on zum zwei­ten Mal.

Hier war ein Traum Wahr­heit ge­wor­den – Gott be­hü­te uns da­vor! Der bra­ve Po­ly­san­der hat­te etwa vier­zig Qua­drat­ki­lo­me­ter teu­rer Lein­wand voll ge­malt, und da stan­den und ruh­ten nun die Jüng­lin­ge, da schweb­ten und tanz­ten sie, und es war im­mer der­sel­be, im­mer der­sel­be. Blass­ro­sa, blau und gelb; vorn wa­ren die Jüng­lin­ge, und hin­ten war die Per­spek­ti­ve.

»Die Schmet­ter­lin­ge!« rief Ly­dia und fass­te mei­ne Hand.

»Ich fle­he dich an«, sag­te ich, »nicht so laut! Hin­ter uns kriecht die Auf­wär­te­rin her­um, und die er­zählt nach­her al­les dem Herrn Ma­ler. Wir wol­len ihm doch nicht weh tun.« Wirk­lich: die Schmet­ter­lin­ge. Sie gau­kel­ten in der ge­mal­ten Luft, sie hat­ten sich auf die run­den Schul­tern der Jüng­lin­ge ge­setzt, und wäh­rend wir bis­her ge­glaubt hat­ten, Schmet­ter­lin­ge ruh­ten am liebs­ten auf Blü­ten, so er­wies sich das nun als ein Irr­tum: die­se hier sa­ßen den Jüng­lin­gen mit Vor­lie­be auf dem Popo. Es war sehr ly­risch.

»Nun bit­te ich dich …«, sag­te die Prin­zes­sin. – »Still!« sag­te ich. »Der Freund!« Es er­schi­en der Freund des Ma­lers, ein ält­li­cher, sym­pa­thisch aus­se­hen­der Mann; er war brav­bür­ger­lich an­ge­zo­gen, doch schi­en es, als ver­ach­te­te er die grau­en Klei­der uns­res grau­en Jahr­hun­derts, und der An­zug ver­galt ihm das. Er sah aus wie ein Ephe­be a. D. Mur­melnd stell­te er sich vor und be­gann zu er­klä­ren. Vor ei­nem Jüng­ling, der stramm mit Schwert und Schmet­ter­ling da­stand und die Rech­te wie zum Gruß an sein Haupt ge­legt hat­te, sprach der Freund in schöns­tem bal­ti­schem Ton­fall, sin­gend und mit al­len rol­len­den Rrrs: »Was Sie hier sehn, ist der völ­lich ver­jäi­stich­te Mi­li­tar­ris­mus!« Ich wen­de­te mich ab – vor Er­schüt­te­rung. Und wir sa­hen tan­zen­de Kna­ben, sie tru­gen Ma­tro­sen­an­zü­ge mit Klapp­kra­gen, und ih­nen zu Häup­ten hing eine klei­ne Lam­pe mit Bom­mel­fran­sen, solch eine, wie sie in den Kor­ri­do­ren hän­gen –: ein mö­blier­tes Ge­fil­de der Se­li­gen. Hier war ein Pa­ra­dies auf­ge­blüht, von dem so vie­le See­len­freun­de des Ma­lers ein Eck­chen in der See­le tru­gen; ob es nun die un­ge­rech­te Ver­fol­gung war oder was im­mer: wenn sie schwärm­ten, dann schwärm­ten sie in sanf­tem Him­mel­blau, so­zu­sa­gen blau­sa. Und ta­ten sich sehr viel dar­auf zu gute. Und an ei­ner Wand hing die Fo­to­gra­fie des Künst­lers aus sei­ner ita­lie­ni­schen Zeit; er war nur mit San­da­len und ei­nem Hoiho­to­ho-Speer be­klei­det. Man trug also Bauch in Ca­pri.

»Da bleibt ei­nem ja die Luft weg!« sag­te die Prin­zes­sin, als wir drau­ßen wa­ren. »Die sind doch kei­nes­wegs alle so …?« – »Nein, die Gat­tung darf man das nicht ent­gel­ten las­sen. Das Haus ist ein ste­hen­ge­blie­be­nes Plüsch­so­fa aus den neun­zi­ger Jah­ren, kei­nes­wegs sind sie alle so. Der Mann hät­te sei­ne Scho­ko­la­den­bild­chen gra­de­so­gut mit klei­nen Feen und Gno­men be­völ­kern kön­nen … Aber denk dir nur mal ein gan­zes Mu­se­um mit solch rea­li­sier­ten Wunsch­träu­men – das müss­te schön sein!«

»Und dann ist es so – blutärm­lich!« sag­te die Prin­zes­sin. »Na, je­der sein eig­ner Un­ter­leib! Und dar­auf­hin wol­len wir wohl einen Schnaps trin­ken!« Das ta­ten wir.

Stadt und Stra­ßen … der große Tier­gar­ten, der dem Kö­nig ge­hört und in dem die wil­den zah­men Hir­sche her­um­lau­fen und sich, wenn es ih­nen gra­de passt, am Hals krau­en las­sen, und so hohe, alte Bäu­me …

Ab­fahrt. »Wie wird das ei­gent­lich mit der Spra­che?« frag­te die Prin­zes­sin, als wir im Zug nach Hel­sin­gör sa­ßen. »Du warst doch schon mal da. Sprichst du denn nun gut schwe­disch?« – »Ich ma­che das so«, sag­te ich. »Erst spre­che ich deutsch, und wenn sie das nicht ver­stehn, eng­lisch, und wenn sie das nicht ver­stehn, platt – und wenn das al­les nichts hilft, dann hän­ge ich an die deut­schen Wör­ter die En­dung as an, und die­ses Sprech­as ver­ste­has sie ganz gut.« Das hat­te gra­de noch ge­fehlt. Es ge­fiel ihr un­ge­mein, und sie nahm es gleich in ih­ren Sprach­schatz auf. »Ja – also nun kommt Schwe­den. Ob wir et­was in Schwe­den er­le­bas? Was meinst du?« – »Ja, was soll­ten wir wohl auf ei­nem Ur­laub er­le­ben …? Ich dich, hof­fent­lich.« – »Weißt du«, sag­te die Prin­zes­sin, »ich bin noch gar nicht auf Rei­sen, ich sit­ze hier ne­ben dir im Coupé; aber in mei­nem Kopf dröhnt es noch, und … All­mäch­ti­ger Bra­ten!« – »Was ist?« – »Ich habe ver­ges­sen, an Tichau­er zu te­le­fo­nie­ren!« – »Wer ist Tichau­er?« – »Tichau­er ist der Di­rek­tor der NSW – der Nord­deut­schen Sei­fen­wer­ke. Und der Alte hat ge­sagt, ich sol­le ihm ab­te­le­fo­nie­ren, weil er doch ver­reist … und da ist die Kon­fe­renz am Diens­tag … ach du lie­bes Gott­chen, be­hü­te un­ser Lott­chen vor Hun­ger, Not und Sturm und vor dem bö­sen Ho­sen­wurm. Amen.« – »Also was wird nun?« – »Jetzt wer­den wir te­le­gra­fie­ren, wenn wir in Hel­sin­gör auf die Fäh­re stei­gen. Du all­mäch­ti­ger Bra­ten! Dad­dy, Ber­lin läuft doch im­mer mit. Das dau­ert min­des­tens vier­zehn Tage, bis man es ei­ni­ger­ma­ßen los ist, und wenn man es glück­lich ver­ges­sen hat, dann muss man wie­der zu­rück. Das ist ein fröh­li­cher Be­ruf …« – »Be­ruf … Ich hielt es mehr für eine Be­schäf­ti­gung.« – »Du bist ein Schrift­stel­ler – aber recht hast du doch. Lenk mich ab. Steig mal auf die Bank und mach mal einen. Sing was – wozu hab ich dich mit­ge­nom­men?« Nur Ruhe und Ge­duld konn­ten es ma­chen … »Sieh mal, Hüh­ner auf dem Was­ser!« sag­te ich. – »Hüh­ner? Was für wel­che?« – »Ge­sichts­hüh­ner. Der Na­tur­for­scher Ja­kopp un­ter­schei­det zwei­er­lei Sor­ten von Hüh­nern: die Ge­sichts­hüh­ner, die man nur se­hen, und die Spei­sehüh­ner, die man auch es­sen kann. Dies sind Ge­sichts­hüh­ner. Finns­te die Na­tur hier?« – »Et­was dünn, um die Wahr­heit zu sa­gen. Wenn man nicht wüss­te, dass es Dä­ne­mark ist und wir gleich nach Schwe­den hin­über­fah­ren –«

Und da hat­te sie nun recht. Denn nichts lenkt den Men­schen so von sei­nem ge­sun­den Ur­teil ab wie geo­gra­fi­sche Orts­na­men, ge­la­den mit al­ter Sehn­sucht und be­packt mit tau­send Ge­dan­ken­ver­bin­dun­gen, und wenn er dann hin­kommt, ist es al­les halb so schön. Aber wer traut sich denn, das zu sa­gen –!

Hel­sin­gör. Wir te­le­gra­fier­ten an Tichau­er. Wir stie­gen auf die klei­ne Fäh­re.

Un­ten im Schiffs­re­stau­rant sa­ßen drei Ös­ter­rei­cher; of­fen­bar wa­ren es al­tad­li­ge Her­ren, ei­ner hat­te eine ganz ab­re­gier­te Stim­me. Er kniff gra­de die Au­gen so merk­wür­dig zu, wie das ei­ner tut, der mit der Zi­gar­re im Mund zah­len muss. Und dann hör­te ich ihn mur­meln: »Ein g’schäi­ter Bu­u­ursch (mit drei lan­gen u) – aber et­was me­dio­ker …« Ich bin ge­gen den An­schluss.

Oben stan­den wir dann am Schiffs­ge­län­der, at­me­ten die rei­ne Luft und blick­ten auf die bei­den Küs­ten – die dä­ni­sche, die zu­rück­b­lieb, und die schwe­di­sche, der wir uns nä­her­ten. Ich sah die Prin­zes­sin von der Sei­te an. Manch­mal war sie wie eine frem­de Frau, und in die­se frem­de Frau ver­lieb­te ich mich im­mer aufs neue und muss­te sie im­mer aufs neue er­obern. Wie weit ist es von ei­nem Mann zu ei­ner Frau! Aber das ist schön, in eine Frau wie in ein Meer zu tau­chen. Nicht den­ken … Vie­le von ih­nen ha­ben Bril­len auf, sie ha­ben es im ei­gent­li­chen Sin­ne des Wor­tes ver­lernt, Frau zu sein – und ha­ben nur noch den dün­nen Ch­ar­me. Hol ihn der Teu­fel. Ja, wir wol­len wohl ein biss­chen viel: klu­ge Ge­sprä­che und Lo­gik und gu­tes Aus­se­hen und ein biss­chen Treue und dann die­ser nie zu un­ter­drücken­de Wunsch, von der Frau wie ein Beefs­teak ge­fres­sen zu wer­den, dass die Kinn­ba­cken kra­chen … »Hast du schwe­di­schen Gel­des?« frag­te die Prin­zes­sin träu­me­risch. Sie führ­te gern einen ge­bil­de­ten Ge­ni­tiv spa­zie­ren und war dem­zu­fol­ge sehr stolz dar­auf, im­mer »Rats« zu wis­sen. »Ja, ich habe schwe­di­sche Kro­nen«, sag­te ich. »Das ist ein hüb­sches Geld – und des­halb wer­den wir es auch nur vor­sich­tig aus­ge­ben.« – »Geiz­vet­tel«, sag­te die Prin­zes­sin. Wir be­sa­ßen eine ge­mein­sa­me Rei­se­kas­se, an der hat­ten wir sechs Mo­na­te her­um­ge­rech­net. Und nun wa­ren wir in Schwe­den.

 

Der Zoll zoll­te. Die Schwe­den spre­chen an­ders deutsch als die Dä­nen: die Dä­nen hau­chen es, es klingt bei ih­nen fe­der­leicht, und die Kon­so­nan­ten lie­gen etwa einen hal­b­en Me­ter vor dem Mund und ver­ge­hen in der Luft, wie ein Ge­zirp. Bei den Schwe­den wohnt die Spra­che wei­ter hin­ten, und dann sin­gen sie so schön da­bei … Ich protz­te furcht­bar mit mei­nen zehn schwe­di­schen Wör­tern, aber sie wur­den nicht ver­stan­den. Die Leu­te hiel­ten mich si­cher­lich für einen ganz be­son­ders ver­track­ten Aus­län­der. Klei­nes Früh­stück. »Die Bouil­lon«, sag­te die Prin­zes­sin, »sieht aus wie Was­ser in Halb­trau­er!« – »So schmeckt sie auch.« Und dann fuh­ren wir gen Stock­holm.

Sie schlief.

Der, der einen Schla­fen­den be­ob­ach­tet, fühlt sich ihm über­le­gen – das ist wohl ein Über­bleib­sel aus al­ter Zeit, viel­leicht schlum­mert da noch der Ge­dan­ke: er kann mir nichts tun, aber ich ihm. Die­ser Frau gab der Schlaf we­nigs­tens kein dümm­li­ches Aus­se­hen; sie at­me­te fest und ru­hig, mit ge­schlos­se­nem Mund. So wird sie aus­se­hen, wenn sie tot sein wird. Dann liegt der Kopf auf ei­nem Brett – im­mer, wenn ich an den Tod den­ke, sehe ich ein un­ge­ho­bel­tes Brett mit klei­nen Holz­fä­ser­chen; dann liegt sie da und ist wachs­gelb und wie uns an­de­ren scheint, sehr ehr­furcht­ge­bie­tend. Ein­mal, als wir über den Tod spra­chen, hat­te sie ge­sagt: »Wir müs­sen alle ster­ben – du frü­her, ich spä­ter« – in die­sem Kopf war so viel Mann. Der Rest war, Gott sei’s ge­lobt, eine gan­ze Frau.

Sie wach­te auf. »Wo sind wir?« – »In Rü­des­heim an der Rüde.« Und da tat sie et­was, wo­für ich sie be­son­ders lieb­te, sie tat es gern in den merk­wür­digs­ten, in den psy­cho­lo­gi­schen Au­gen­bli­cken: sie leg­te die Zun­ge zwi­schen die Zäh­ne und zog sie rasch zu­rück: sie spuck­te blind. Und da­für be­kam sie einen Kuss – auf die­ser Rei­se schie­nen wir im­mer in lee­ren Ab­tei­len zu sit­zen –, und gleich wand­te sie einen frisch ge­lern­ten dä­ni­schen Fluch an: »Der Teu­fel soll dich hell­ro­sa be­sti­cken!« und nun fin­gen wir an zu sin­gen.

»In Ko­ken­hu­sen

singt eine Nach­ti­gall

wohl an der Düna Strand.

Und die Nach­ti­gall

mit dem sü­ßen Schall

legt ein Krin­gel­chen in mei–­ne Hand –!«

Und gra­de, als wir im bes­ten Sin­gen wa­ren, da tauch­ten die ers­ten Häu­ser der großen Stadt auf. Wei­chen knack­ten, der Zug schep­per­te über eine nied­ri­ge Brücke, hielt. Komm raus! Die Kof­fer. Der Trä­ger. Ein Wa­gen. Ho­tel. Gu­ten Tag. Stock­holm.

5

»Was ma­chen wir nun?« frag­te ich, als wir uns ge­wa­schen hat­ten. Der Him­mel lag blau über vier Schorn­stei­nen – das war es, was wir zu­nächst von Stock­holm sehn konn­ten. »Ich mei­ne so«, sag­te die Prin­zes­sin, »wir neh­men uns erst mal einen Dol­met­scher – denn du sprichst ja sehr schön schwe­disch, sehr schön … aber es muss alt­schwe­disch sein, und die Leu­te sind hier so un­ge­bil­det. Wir neh­men uns einen Dol­met­scher, und mit dem fah­ren wir über Land und su­chen uns eine ganz bil­li­ge Hüt­te, und da sit­zen wir still, und dann will ich nie wie­der einen Ki­lo­me­ter rei­sen.«

Wir spa­zier­ten durch Stock­holm.

Sie ha­ben ein schö­nes Rat­haus und hüb­sche neue Häu­ser, eine Stadt mit Was­ser ist im­mer schön. Auf ei­nem Platz gurr­ten die Tau­ben. Der Ha­fen roch nicht ge­nug nach Teer. Wun­der­schö­ne jun­ge Frau­en gin­gen durch die Stra­ßen … von ei­nem gra­de­zu lo­cken­den Blond. Und Schnaps gab es nur zu be­stimm­ten Stun­den, wo­durch wir un­bän­dig ge­reizt wur­den, wel­chen zu trin­ken – er war klar und rein und tat kei­nem et­was, so­lan­ge man nüch­tern blieb. Und wenn man ihn ge­trun­ken hat­te, nahm der Kell­ner das Gläs­chen rasch wie­der fort, wie wenn er et­was Un­pas­sen­des be­güns­tigt hät­te. In ei­nem Schau­fens­ter der Va­sa­ga­tan lag eine schwe­di­sche Über­set­zung des letz­ten Ber­li­ner Schla­gers. Eh – und sonst ha­ben Sie nichts von Stock­holm ge­sehn? Was? Der Na­tio­nal­cha­rak­ter … wie? Ach, lie­ben Freun­de! Wie ein­för­mig sind doch uns­re Städ­te ge­wor­den! Fahrt nur nach Mel­bour­ne – ihr müsst erst lan­ge mit den Kauf­leu­ten kon­fe­rie­ren und dis­pu­tie­ren; ihr müsst, wenn ihr sie wirk­lich ken­nen­ler­nen wollt, ihre Töch­ter hei­ra­ten oder Ge­schäf­te mit ih­nen ma­chen oder, noch bes­ser, mit ih­nen er­ben; ihr müsst sie über das aus­hor­chen, was in ih­nen ist … se­hen könnt ihr das nicht auf den ers­ten Blick. Was seht ihr? Über­all klin­geln die Stra­ßen­bah­nen, he­ben die Schutz­leu­te ihre weiß­be­hand­schuh­ten Hän­de, über­all pran­gen die bun­ten Pla­ka­te für Ra­sier­sei­fe und Da­men­st­rümp­fe … die Welt hat eine abend­län­di­sche Uni­form mit ame­ri­ka­ni­schen Auf­schlä­gen an­ge­zo­gen. Man kann sie nicht mehr be­sich­ti­gen, die Welt – man muss mit ihr le­ben oder ge­gen sie.

Der Dol­met­scher! Die Prin­zes­sin wuss­te Rats, und wir gin­gen zum Büro ei­ner Tou­ris­ten-Ve­rei­ni­gung. Ja, einen Dol­met­scher hät­ten sie. Vi­el­leicht. Doch. Ja.

Be­däch­tig geht das in Schwe­den zu – sehr be­däch­tig. In Schwe­den gibt es zwei Völ­ker­stäm­me: den ge­fäl­li­gen Schwe­den, einen freund­li­chen, stil­len Mann – und den un­ge­fäl­li­gen. Das ist ein gar stol­zer Herr, man kann ihm sei­nen Ei­gen­sinn mit klei­nen Häm­mern in den Schä­del schla­gen: er merkt es gar nicht. Wir wa­ren an den ge­fäl­li­gen Ty­pus ge­kom­men. Ei­nen Dol­met­scher, den hät­ten sie also, und sie wür­den ihn mor­gen früh ins Ho­tel schi­cken. Und dann gin­gen wir es­sen.

Die Prin­zes­sin ver­stand viel vom Es­sen, und hier in Schwe­den aßen sie gut, so­lan­ge es bei den kal­ten Vor­ge­rich­ten blieb – dem Smör­gås­brot. Un­über­treff­lich. Ihre war­me Kü­che war durch­schnitt­lich, und vom Rot­wein ver­stan­den sie gar nichts, was mir vie­len Kum­mer mach­te. Die Prin­zes­sin trank we­nig Rot­wein. Da­ge­gen lieb­te sie – als ein­zi­ge Frau, die ich je ge­trof­fen habe – Whis­ky, von dem die Frau­en sonst sa­gen, er schme­cke nach Zahn­arzt. Er schmeckt aber, wenn er gut ist, nach Rauch.

Am nächs­ten Mor­gen kam der Dol­met­scher.

Es er­schi­en ein di­cker Mann, ein Berg von ei­nem Mann – und der hieß Bengts­son. Er konn­te spa­nisch spre­chen und sehr gut eng­lisch und auch deutsch. Das heißt: ich horch­te ein­mal … ich horch­te zwei­mal … die­ses Deutsch muss­te er wohl in Emer­ri­ka ge­lernt ha­ben, denn es hat­te den al­ler­schöns­ten, den al­ler­far­bigs­ten, den al­ler­lus­tigs­ten ame­ri­ka­ni­schen Ak­zent. Er sprach deutsch wie ein Zir­kus-Clown. Aber er war das, was die Ber­li­ner »rich­tig« nen­nen – er ver­stand so­fort, was wir woll­ten, er ver­sank in Kar­ten, Fahr­plä­nen und Pro­spek­ten, und am Nach­mit­tag troll­ten wir von dan­nen.

Wir fuh­ren nach Dalar­ne. Wir fuh­ren in die Um­ge­bung Stock­holms. Wir war­te­ten auf Zug­an­schlüs­se und rum­pel­ten über stau­bi­ge Land­we­ge in die ab­ge­le­gens­ten Dör­fer. Wir sa­hen ver­dros­se­ne Fich­ten und dum­me Kie­fern und herr­li­che, alte Laub­bäu­me und einen blau­en Som­mer­him­mel mit vie­len wei­ßen Wat­te­wol­ken, aber was wir such­ten, das fan­den wir nicht. Was wir denn woll­ten? Wir woll­ten ein ganz stil­les, ein ganz klei­nes Häu­schen, ab­ge­le­gen, be­quem, fried­lich, mit ei­nem klei­nen Gärt­chen … wir hat­ten uns da so et­was Schö­nes aus­ge­dacht. Vi­el­leicht gab es das gar nicht?

Der Di­cke war un­er­müd­lich. Wäh­rend wir her­um­fuh­ren und such­ten, frag­ten wir ihn des nä­hern nach sei­nem Be­ruf. Ja, er führ­te also die Frem­den durch Schwe­den. Ob er denn al­les wüss­te, was er ih­nen so er­zähl­te. Kei­ne Spur – er hat­te lan­ge in Ame­ri­ka ge­lebt und kann­te sei­ne Ame­ri­ka­ner. Zah­len! Er nann­te ih­nen vor al­lem ein­mal Zah­len: Jah­res­zah­len und Grö­ßen­an­ga­ben und Prei­se und Zah­len, Zah­len, Zah­len … Falsch konn­ten sie sein. Mit uns sprach er von Tag zu Tag flie­ßen­der deutsch, aber es wur­de im­mer ame­ri­ka­ni­scher. »Four­teen days ago« hieß eben »Virr­zehn Tage zer­rick«, und so war al­les. »Drei Wo­chen zer­rick«, sag­te er, als wir gra­de wie­der von ei­ner er­geb­nis­lo­sen Ex­pe­di­ti­on zu­rück­ge­kom­men wa­ren und zu Abend aßen, »drei Wo­chen zer­rick – da war eine ame­ri­ka­ni­sche Fa­mi­lie in Stock­holm. Ich habe zu ih­nen ge­sagt, wenn man nur ein­mal in Emer­ri­ka ge­we­sen ist, dann meint man, die gan­ze an­de­re Welt ist eine Ko­lo­nie von Em­me­ri­ka. Ja. Da­nach ha­ben mich die Leu­te sehr gähn ge­habt. Prost!« – Prost? Wir wa­ren hier in Schwe­den, der Mann hat­te »Skål!« zu sa­gen. Und »Skål«, das ist ei­gent­lich »Scha­le«. Und weil die Prin­zes­sin eine arme Aus­län­de­rin war, die uns Schwe­den nicht so ver­stand, so sag­te ich »Scha­le auf Ih­nen!«, und das ver­stan­den wir alle drei. Der Di­cke be­stell­te sich noch einen klei­nen Schnaps. Träu­me­risch sah er ins Glas. »In Gö­te­borg wohnt ein Mann, der hat einen großen Kel­ler – da hat er es al­les drin: Whis­ky und Brannt­wein und Co­gnac und Rot­wein und Weiß­wein und Sekt. Und das trinkt der Mann nicht aus – das be­wahrt sich der Mann al­les auf! Ich fin­de das ganz groß­ar­tig –!« Sprach’s und kipp­te den sei­ni­gen.

Aber nun ver­ging ein Tag nach dem an­de­ren, und wir hat­ten vie­le Ge­sprä­che mit an­ge­hört, hat­ten un­zäh­li­ge Male ver­nom­men, wie die Leu­te sag­ten, was die Schwe­den im­mer sa­gen, in al­len La­gen des mensch­li­chen Le­bens: »Jas­so …« und auch ihr »Nedo« und was man so spricht, wenn man nichts zu sa­gen hat. Und der Di­cke hat­te uns in vie­le schö­ne Ge­gen­den ge­führt, durch wun­der­vol­le, sat­te Wäl­der. – »Hier sind schö­ne Läu­be!« sag­te er, und das war die Mehr­zahl von »Laub« – und nun fing die Prin­zes­sin an, auf­zu­mu­cken. »He lacht sik ’n Stre­mel«, sag­te sie. »Mei­nen lie­ben gu­ten Dad­dy! Wi sünd doch kei­ne Rocke­fel­lers! Nu or­nier doch end­lich mal enä­gisch ne Dis­po­sit­schon an, dassn weiß, wo­anz un woso!«

Was nun –? Der Di­cke ging nach­denk­lich, aber mit der Welt so­weit ganz zu­frie­den, vor uns hin; er stapf­te mit sei­nem Stock auf das Pflas­ter und dach­te em­sig nach; man konn­te an sei­nem brei­ten Rücken se­hen, wie er dach­te. Dann brumm­te er, denn er hat­te et­was ge­fun­den. »Wir fah­ren nach Ma­rie­fred«, sag­te er. »Das ist ein klei­ner Ort … das ist all right! Mor­gen fah­ren wir.« Die Prin­zes­sin sah mich un­heil­ver­kün­dend an: »Wenn wir da nichts fin­den, Dad­dy, dann stech ich dir inne Klein­kinner­bie­wohr­an­stalt und kut­schier bei mein Al­ten nach Ab­ba­zia. Dor kannst du man upp aff!«

Aber am nächs­ten Tag sa­hen wir et­was.

Ma­rie­fred ist eine klit­ze­klei­ne Stadt am Mälar­see. Es war eine stil­le und fried­li­che Na­tur, Baum und Wie­se, Feld und Wald – nie­mand aber hät­te von die­sem Ort No­tiz ge­nom­men, wenn hier nicht ei­nes der äl­tes­ten Sch­lös­ser Schwe­dens wäre: das Schloss Grips­holm.

Es war ein strah­lend hel­ler Tag. Das Schloss, aus ro­ten Zie­geln er­baut, stand leuch­tend da, sei­ne run­den Kup­peln knall­ten in den blau­en Him­mel – die­ses Bau­werk war dick, seigneural, eine be­däch­ti­ge Fes­tung. Bengts­son wink­te dem Füh­rer ab, Füh­rer war er sel­ber. Und wir gin­gen in das Schloss.

Vie­le schö­ne Ge­mäl­de hin­gen da. Mir sag­ten sie nichts. Ich kann nicht se­hen. Es gibt Au­gen­menschen, und es gibt Ohren­menschen, ich kann nur hö­ren. Eine Ach­tel­schwin­gung im Ton ei­ner Un­ter­hal­tung: das weiß ich noch nach vier Jah­ren. Ein Ge­mäl­de? Das ist bunt. Ich weiß nichts vom Stil die­ses Schlos­ses – ich weiß nur: wenn ich mir eins bau­te, so eins bau­te ich mir.

Herr Bengts­son er­klär­te uns das Schloss, wie er es sei­nen Ame­ri­ka­nern er­klärt hät­te, der Spi­ri­tus sang aus ihm, und nach je­der Jah­res­zahl sag­te er: »Aber so ge­nau weiß ich das nicht«, und dann sa­hen wir im Ba­ede­ker nach, und es war al­les, al­les falsch – und wir freu­ten uns mäch­tig. Ein Ker­ker war da, in dem Gu­stav der Ver­stopf­te Adolf den Un­ra­sier­ten jah­re­lang ein­ge­sperrt hat­te, und so di­cke Mau­ern hat­te das Schloss, und einen run­den Kä­fig für die Ge­fan­ge­nen gab es und ein schau­er­li­ches Bur­g­loch oder eine Art Brun­nen … Men­schen ha­ben im­mer Men­schen ge­quält, heu­te sieht das nur an­ders aus.

Aber am al­ler­schöns­ten war das Thea­ter. Sie hat­ten in der Burg ein klei­nes Thea­ter – viel­leicht da­mit sie sich wäh­rend der Be­la­ge­run­gen nicht so lang­wei­len muss­ten. Ich setz­te mich auf ei­nes der Bänk­chen im Zuschau­er­raum und führ­te mir eine Schä­fer­ko­mö­die auf, in der ge­liebt und ge­sto­chen, ge­schmach­tet und zier­lich ge­sof­fen wur­de – und nun wur­de die Prin­zes­sin sehr ener­gisch. »Jetzt oder nie!« sag­te sie. »Herr Bengts­son – also!«

 

Wie alle gut­mü­ti­gen Män­ner hat­te der Di­cke Angst vor Frau­en – er beug­te sei­ne See­le, wie der Wan­de­rer den Rücken un­ter den Re­gen­schau­ern beugt, und er streng­te sich ge­wal­tig an und ging gar sehr ins Zeug. Er te­le­fo­nier­te lan­ge und ver­schwand.

Nach dem Mit­ta­ges­sen kam er fröh­lich an, sein Fett wog­te vor Zufrie­den­heit. »Kom­men Sie mit!« sag­te er.

Das Schloss hat­te einen An­bau – auf eine Fra­ge hät­te der Di­cke si­cher­lich ge­sagt: aus dem ein­und­zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert … es war ein neue­rer Bau, lang­ge­streckt, glatt in der Fassa­de, hübsch. Wir gin­gen hin­ein. Drin­nen emp­fing uns eine sehr freund­li­che alte Dame. Es er­gab sich, dass hier in die­sem Schloss­an­bau zwei Zim­mer und dazu noch ein klei­ne­res zu ver­mie­ten wa­ren. Hier im Schloss? Zwei­felnd sah ich Herrn Bengts­son an. Hier im Schloss. Und be­ko­chen woll­te sie uns auch. Aber wür­den uns denn nicht die zahl­lo­sen Tou­ris­ten stö­ren, die da kom­men und die Ge­mäl­de und die Fol­ter­kam­mer se­hen muss­ten? Sie kämen nur sonn­tags, und sie kämen über­haupt nicht hier­her, son­dern sie gin­gen dort­her­um …

Wir be­sich­tig­ten die Zim­mer. Sie wa­ren groß und schön; alte Ein­rich­tungs­stücke des Schlos­ses stan­den dar­in, in ei­nem schwe­ren be­hag­li­chen Stil; ich sah kei­ne Ein­zel­hei­ten mit mei­nen blin­den Au­gen – aber es sprach zu mir. Und es sag­te: Ja.

Aus ei­nem Fens­ter blick­te man auf das Was­ser, aus ei­nem an­de­ren in einen stil­len klei­nen Park. Die Prin­zes­sin, die die Ver­nunft ih­res Ge­schlechts hat­te, sah sich in­zwi­schen an, wo man sich wa­schen konn­te und wie es mit den Lo­ka­li­tä­ten be­stellt wäre … und kam zu­frie­den zu­rück. Der Preis war er­staun­lich bil­lig. »Wie kommt das?« frag­te ich den Di­cken; wir sind selbst dem Glück ge­gen­über so arg­wöh­nisch. Die Dame im Schloss täte es aus Freund­lich­keit für ihn, denn sie kann­te ihn, auch ka­men sel­ten Leu­te hier­her, die lan­ge blei­ben woll­ten. Ma­rie­fred war als klei­ner Aus­flugs­ort be­kannt; man weiß, wie sol­che Be­zeich­nun­gen den Plät­zen an­haf­ten. Da mie­te­ten wir.

Und als wir ge­mie­tet hat­ten, sprach ich die gol­de­nen Wor­te mei­nes Le­bens: »Wir hät­ten sol­len …« und be­kam von der Prin­zes­sin einen Ba­cken­streich: »Oll Krit­tel­kopp!« Und dann be­gos­sen wir die Mie­tung mit je ei­nem großen Brannt­wein, wir alle drei. »Ken­nen Sie die Frau im Schloss gut? Sie ist doch so nett zu uns?« frag­te ich Herrn Bengts­son. – »Wis­sen Sie«, sag­te er nach­denk­lich, »den Af­fen ken­nen alle – aber der Affe kennt kei­nen.« Und das sa­hen wir denn auch ein. Und dann ver­ab­schie­de­te sich der Di­cke. Die Kof­fer ka­men, und wir pack­ten aus, stell­ten die Mö­bel so lan­ge um, bis sie alle wie­der auf dem­sel­ben Platz stan­den wie zu An­fang … die Prin­zes­sin ba­de­te Pro­be, und ich muss­te mich dar­über freu­en, wie sie nackt durchs Zim­mer ge­hen konn­te – wirk­lich wie eine Prin­zes­sin. Nein, gar nicht wie eine Prin­zes­sin: wie eine Frau, die weiß, dass sie einen schö­nen Kör­per hat. »Ly­dia«, sag­te ich, »in Pa­ris war ein­mal eine Hol­län­de­rin, die hat sich auf ih­ren Ober­schen­kel die Stel­le tä­to­wie­ren las­sen, auf die sie am liebs­ten ge­küsst wer­den woll­te. Darf ich fra­gen …« Sie ant­wor­te­te. Und es be­ginnt nun­mehr der Ab­schnitt

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